Freitag, 10. Februar 2012

Drive


Es gibt große Klassiker der Kinogeschichte, die von Cineasten nahezu einhelliges Lob erhalten. Citizen Kane, Der Pate, Die Verurteilten, Vom Winde verweht ... Aber es muss auch Geniestreiche geben, die die Gemüter spalten. Und vielleicht sind diese Meisterwerke auch die interessanteren, da sie Reibungen entstehen lassen und durch die ewige Debatte eine Frische erhalten, die so mancher unberührbarer Götze der Filmkunst mit der Zeit verliert. Ich spreche von Generationen an Filmliebhabern laut jubeln lassenden und sie derbe enttäuschenden Kunststücken wie 2001, Tree of Life, There Will Be Blood, Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt oder Stranger Than Paradise. Ruhe auf den billigen Plätzen, ich weiß, was ich da aufgezählt habe!

Selbstredend ist es schwierig, bereits nach relativ kurzer Zeit ein finales Urteil darüber zu fällen, wie Drive über die Jahre hinweg aufgenommen wird. Allerdings zeichnet sich bereits ab, dass der dänische Regisseur Nicolas Winding Refn mit seiner ersten US-Produktion einen Film der zweiten Kategorie abgeliefert hat.

Drive erhielt in Cannes den Preis für die beste Regie, platzierte sich in den Jahresbestenlisten von Rolling Stone-Autor Peter Travers und Richard Roeper auf Platz 1, kam in zahlreichen weiteren Top Tens vor, erhielt beinahe durch die Bank weg positive Besprechungen von professionellen Filmkritikern und wurde vom National Board of Review zu den wichtigsten Produktionen des Jahres 2011 gezählt. Sehr viele Oscar-Blogger trauten Drive eine Außenseiterchance auf eine Nominierung in der Hauptkategorie zu, und entsprechend groß war das Ärgernis, als es ihm nicht gelang.

Zugleich schnitt er bei Marktforschungsumfragen unter den US-Kinogängern gerade einmal mit einer 3+ ab, und auf wohl jeden Hobby-Kritiker, der Drive im Internet anpreist, kommt einer, der von ihm gelangweilt und enttäuscht ist. Zuschauer klagten wegen irreführender Werbung, derzeit bewerten 27,6 Prozent der IMDb-User Drive mit 6/10 Punkten oder weniger.

Das knifflige an Drive ist, dass man seinen Mitmenschen schwer ein treffendes Bild dieses Films vermitteln kann. Beschreibt man nämlich die Story, kommen einem schnell ganz bestimmte Produktionen in den Sinn, mit denen Drive allerdings wenig gemein hat: Ein Stuntfahrer (Ryan Gosling) für Kinofilme verdingt sich nebenher als Fahrer für Kriminelle. Er fährt sie zum Tatort, dient als Chauffeur, der garantiert, dass sie nach einem Überfall mitsamt Beute entkommen ... Solche Jobs nunmal. Dabei gelten scharf umrissene Regeln. Er selbst nimmt keine Waffe in die Hand, und wenn etwas schief geht, so dass die Gangster nicht zur versprochenen Zeit den Fluchtwagen erreichen, dann wird er nicht warten. Tagsüber arbeitet er zudem in einer Werkstatt, deren Besitzer Shannon (Bryan Cranston) will auch ins Renngeschäft einsteigen, wozu er sich beim Gangster Bernie Rose (Albert Brooks) Geld leiht.
Der wortkarge Fahrer lernt währenddessen seine Nachbarin Irene (Carey Mulligan) und deren Sohn kennen und hilft ihr öfters bei kleineren Aufgaben. Als ihr Ehemann (Oscar Isaac) aus dem Gefängnis entlassen wird, versuchen Kerle aus seiner Vergangenheit, ihn wieder von der rechten Bahn zu bringen ...

"Stuntfahrer macht auch Jobs für Gangster, verknallt sich, erledigt Job für Liebe, Probleme stehen an" – Eine Story, die auch auf einen Bierdeckel passt und einen Jason Statham wieder zum Transporter werden lassen könnte. Wenn wir Kinogänger Glück haben. Der Plot von Drive könnte auch der Aufhänger eines spottbillig gedrehten Direct-to-DVD-Thrillers mit 50 Cent und einem gealterten Actionstar (vielleicht Steven Seagal?) werden, der aufgrund mieser Regieführung zum Schnarchfest mutiert.

Beinahe wäre Drive dann zu einem Hugh-Jackman-Actionvehikel von Doomsday-Regisseur Neil Marshall geworden. Doch dann wurde der smarte Ryan Gosling als Hauptdarsteller auserkoren, welcher darum bat, Nicolas Winding Refn als Regisseur zuzuziehen. Gemeinsam stellten sie Drive völlig auf den Kopf. Das Ergebnis dürfte dem ähneln, was passieren würde, wenn Quentin Tarantino für den nächsten Teil der Transporter-Filmreihe verpflichtet wird, und er sich zur Vorbereitung nochmal intensiv Lost in Translation und Taxi Driver anschaut.

Obwohl in der Gegenwart angesiedelt, ist Drive ein Rücksturz in die späten 70er und frühen 80er. Die Hauptfigur bevorzugt ihre Autos etwas betagter, pflegt mit seiner silbernen Skorpionjacke einen altmodischen Kleidungsstil. Der Vorspann kommt in warmen Pinktönen sowie einer geschwungenen Handschrift daher und obwohl sämtliche Songs aus den letzten Jahren stammen, ist ihnen allen ein intensives 80er-Synthie-Pop-Balladen-Feeling gemein. Überhaupt verdienen Winding Refn sowie Komponist Cliff Martinez für den Einsatz von bereits existierenden Songs und deren kongeniales Sampling den "Quentin Tarantino Soundtrack Ehrenpreis": Jedes Musikstück passt wie die Faust auf's Auge, kommentiert die Handlung auf teils sehr subtile Weise, geht ins Ohr und trägt vor allem zur intensiven, gleichermaßen anspannenden wie ungeheuerlich coolen Atmosphäre des Films bei.

Der Retro-Charakter wird auch von der Kameraarbeit getragen. In den ausführlichen, teilweise in stimmungsvoll genutzter Zeitlupe gehaltenen, Fahrsequenzen nimmt die Kamera die Subjektive eines (nicht existenzen) Beifahres ein. Von seiner Seite aus betrachtet das Publikum die Arbeit des Fahrers, starrt in sein regungsarmes Gesicht um jedes bedeutungsvolle Muskelzucken einzufangen, blickt mit ihm in die endlosen Straßen der Nacht und sucht während Fluchtsequenzen das nächtliche Los Angeles nach Polizeiwagen ab. Winding Refn ist es dabei egal, dass lange Aufnahmen aus der Beifahrer-Ich-Perspektive das Tempo drosseln, der effektive Fahrstil des Fahrers aufgrund fehlender Zwischenschnitte nicht weiter spektulär wirkt und man die Spiegelung des Armaturenbretts in der Frontscheibe ausführlich studieren kann. Was in anderen Filmen ein Fehler wäre, wird hier gelassen als Stilmittel gebraucht.

Durch die minimalistischen Dialoge und Ryan Goslings subtilem, trotzdem äußerst ausdrucksstarken Spiel fällt jede Aussage, ob verbal oder nonverbal, umso stärker ins Gewicht. Die Entwicklung zwischen dem Fahrer und Irene ist nicht unbedingt berührend, allerdings glaubwürdig und bietet der Geschichte so einen realistischeren Unterbau, als der Story in vergleichbaren Filmen vergönnt ist. Es ist die zarte Annäherung zweier sehr schüchterner Menschen, und durch die bewusste Langsamkeit ihrer Beziehung zueinander entwickelt die zweite Filmhälfte erst ihre volle Kraft. Denn die auf einmal in Drive Einzug haltende Gewalt ist nicht voyeuristisch. Oder heroisch. Und somit weder unterhaltsam, noch fähig, Ekel und Gewaltextreme suchende Zuschauer zufrieden zu stellen. Stattdessen sind die das Publikum überrumpelnden, krassen Gewaltspitzen Schläge ins Gesicht. Nötige Schläge ins Gesicht, denn sie unterstreichen den Ernst der Lage, verdichten die Stimmung. Und, ja, sie helfen auch, den Nihilismus des Films zu unterstreichen.

Drive lebt in erster Linie von seiner schwer zu umschreibenden Inszenierung sowie Ryan Goslings einvernehmendem Spiel. Daraufhin ist wohl die so ausgeklügelte, beinahe meditative Umsetzung einer B-Actionmovie-Handlung der große Reizpunkt dieses Films. Zu sehen, wie aus einem Grabbeltisch-Kandidaten ein Stück Arthouse wird, ist ungeheuerlich faszinierend. Viele stellen als nächstes bereits Albert Brooks raus, der eine Globe-Nominierung als bester Nebendarsteller erhielt. Ich kann das einhellige Lob nur zum Teil nachvollziehen. Brooks ist sehr einschüchternd, verwandelt seine Figur für mich jedoch nicht in etwas besonderes. Ich würde eher Mulligans Performance mit der Leistung Brooks' auf eine Stufe stellen, da Mulligan als die Zeitanzeige des Zuschauers dient: Die Erzählzeit von Drive macht mehrere unangekündigte Sprünge nach vorne, und anhand der kleinen Differenzen in Mulligans Mienenspiel lässt sich ablesen, wieviel Zeit ungefähr vergangen sein muss.

Ich liebe die ungewöhnliche Stilmischung dieses Programmkino-Actioners. Es ist nicht bloß etwas anderes, sondern auch etwas, das aufgeht, in sich unfassbar stimmig ist.
Trotzdem: Nicht jeder wird von Drive begeistert sein. Doch es ist eine unvergleichliche Stilübung, die Retro-Coolness mit Charakterdramatik und kunstvollem Thrill vereint. Und wenn man sich mit der ausreichenden Ruhe darauf einlässt, so wird man aus diesem Erlebnis meiner Meinung nach definitiv etwas mitnehmen. Selbst, wenn man nicht von der Größe des Films überzeugt wird, so begleitet er einen noch für gewisse Zeit.

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3 Kommentare:

Stefan Kraft hat gesagt…

Zur Ergänzung: http://s3.amazonaws.com/data.tumblr.com/tumblr_lsx306wIEO1qhg9p3o1_1280.jpg?AWSAccessKeyId=AKIAJ6IHWSU3BX3X7X3Q&Expires=1329124406&Signature=YGggRDR36BGZOSodLGTfYlsPoF0%3D von http://akastarwarskid.tumblr.com

Anonym hat gesagt…

Ich habe Schwierigkeiten, den ersten Absatz zu verstehen. Zumindest im vorletzten Satz scheint ein Wort zu fehlen, am Ende der Aufzählung. Sind diese Filme alle enttäuschend?

Sir Donnerbold hat gesagt…

Auch nach mehrmaligem Lesen finde ich keinen Fehler. Alle genannten Filme führen zu extremen Reaktionen. Sie lassen Filmfans laut jubeln. Und genauso enttäuschen sie derbe. Etwas dazwischen scheint es nicht zu geben.

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