Samstag, 27. April 2013

Die Quellen der Disneyfilme: Cinderella

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Das Märchen vom Aschenputtel ist, soweit wir es feststellen können, eines der ältesten Märchen überhaupt. Es existieren verschiedene Versionen, die bis in die Antike zurückreichen, wobei es bei diesen alten Erzählungen meistens darauf hinausläuft, dass der König (beziehungsweise sein Equivalent) das junge Mädchen nicht einmal kennt - alles was er besitzt ist der zentrale Schuh und die feste Absicht, diejenige zu finden, an dessen Fuß er passt. Natürlich sagt es einiges über das damalige Menschenbild aus, dass nicht - wie in unserer „Märchenzeit“ - der bloße Anblick einer Frau für die ewige Liebe ausreicht, sondern gar allein der Anblick ihres Schuhes ...
Wie im Falle von Dornröschen gibt es auch hier in unserem Kulturkreis zwei Versionen, die sich die allgemeine Bekanntheit teilen: Aschenputtel oder das gläserne Pantöffelchen („Cendrillon ou le petite pantoufle de verre“) von Charles Perrault und Aschenputtel aus den Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Doch anders als bei Dornröschen sind die Unterschiede in diesem Fall eindeutig genug, dass sich jede weitere Adaption eindeutig für eine der beiden Fassungen entscheiden muss. Im englischen Sprachraum ist die Perrault-Fassung mit Sicherheit die bekanntere, während es sich bei uns eher die Waage hält - während Grimms Aschenputtel wohl das Märchen ist, das die Kinder häufiger in Büchern und auf Kassetten finden werden, so sind die meisten Filmadaptionen eher Perrault-orientiert und haben zumindest den gläsernen Schuh und die zwölf Schläge der Turmuhr ganz in das hiesige Gedächtnis eingebrannt. Und das, obwohl die Natur des Schuhs (oder eher Pantoffels) bis heute nicht eindeutig erklärt ist: Der ähnliche Klang von „Verre“ (Glas) und „Vair“ (das Fell des Eichhörnchens) legt nahe, dass hier zu irgendeiner Zeit eine folgenschwere Lautverschiebung stattgefunden haben dürfte.

Generell kann man sagen, dass die Grimmsche Version der Geschichte eine größere Betonung auf den himmlischen Beistand legt, während Perrault die Fantasy-Aspekte des Märchens betont. Schon der Prolog der deutschen Version berichtet von Aschenputtels Mutter und ihrem Versprechen, ihrer Tochter immer beistehen zu wollen.
Dann folgt das immer gleiche Grundkonzept: Die Mutter stirbt und Aschenputtels Vater heiratet eine neue Frau, die gemeinsam mit ihren hässlichen und faulen Töchtern beginnt, dem Mädchen das Leben zur Hölle zu machen; sie muss arbeiten verrichten und in der Asche schlafen, was ihr schließlich auch ihren Namen einbringt. An dieser Stelle betont Perrault noch einmal, wie gütig Aschenputtel trotz der derben Behandlung bleibt und dass sie ihren Stiefschwestern auch bei den Vorbereitungen für das Fest des Prinzen nach bestem Gewissen helfen will.
Die spätere Hilfe wird bei Grimm von Anfang an durch den Baum angedeutet, den Aschenputtel auf dem Grab ihrer Mutter pflanzt und auf dem ihr der Geist der Mutter in Gestalt eines Vogels erscheint und kleinere Wünsche erfüllt. Auch als die Stiefmutter ihr mit dem Verlesen der Erbsen eine unmöglich erscheinende Bedingung stellt, um auf den Ball zu gehen, sind es die Tauben, die ihr treu beistehen. Und der Baum der Mutter schenkt ihr schließlich die prächtigen Kleider, mit denen sie drei Tage lang auf dem Ball glänzen kann, ehe sie sich jeden Abend übereilt auf den Heimweg macht.
Bei Perrault handelt es immerhin um ihre Patin, die aber vor allem in ihrer Rolle als Gute Fee handelt, wenn sie für Aschenputtel einen Kürbis in eine Kutsche, Mäuse, Ratten und Eidechsen in Diener und Pferde und ihren Kittel in ein Ballkleid inklusiver gläserner Pantoffeln verwandelt. Doch hier ist der ganze Zauber nur bis Mitternacht wirksam und Aschenputtel hat somit gute Gründe, beide Tanzabende vor dem zwölften Glockenschlag zu verlassen, das zweite Mal in solcher Eile, dass sie einen ihrer Schuhe verliert.
Bei Grimm dagegen ist es der Prinz selbst, der die Treppe mit Pech bestreichen lässt und sie so ihres (hier goldenen) Pantoffels beraubt - man höre und staune, Seine Königliche Hoheit zeigt ein Mindestmaß an Eigeninitiative. Er verfolgt sie zu ihrem Heim und lässt dort speziell die Damen des Hauses den Schuh anprobieren, anders als bei Perrault, wo sich alle Damen des Königreichs dieser Übung unterziehen müssen.
Neben den penibleren Unterschieden stellt nun das Schicksal der Stiefschwestern einen Punkt dar, in dem sich Grimm und Perrault auf wirklich tiefgehende Weise unterscheiden. Nicht nur schneiden sich die Schwestern selbst respektive Zehen und Fersen ab, um in den Schuh zu passen - jeweils offenbart durch das Gurren der Tauben - sondern auf dem Weg zu Aschenputtels Trauung werden den beiden auch noch beide Augen ausgepickt. Damit ist es erklärtermaßen nicht die Heldin selbst, die sich an ihren Peinigerinnen rächt, sondern eine buchstäblich von oben erfolgende Strafmaßnahme.
Bei Perrault kommen die Stiefschwestern nicht nur straflos davon, sie bekommen durch Aschenputtels Hilfe auch noch eigene Ehemänner vermittelt. Somit liegt bei Perrault definitiv eine stärkere Betonung auf der Güte des Mädchens selbst, während die Gebrüder Grimm ihren Aufschrieb mit einer bewussten Strafandrohung beenden, die allen bösen Taten folgen muss.



Die Verfilmung von Aschenputtel oder Cinderella, die 1950 als zwölftes Disney-Meisterwerk erschien, beruht natürlich vor allem auf Perraults Erzählung, und es ist wohl speziell diesem Film zu verdanken, dass diese - bei uns meist als Cinderella titulierte - Version der Geschichte sich auch in unserem Land im allgemeinen Bewusstsein verankert hat. Der Disneyfilm hangelt sich vergleichsweise nah an den Zügen von Perraults Erzählung entlang und nutzt die Grimmsche Fassung nur hin und wieder als Inspirationsquelle, zum Beispiel wenn er Cinderella zusätzlich zu ihren Mäusen auch Vögel als Gefährten gibt, oder wenn die Stiefmutter dem Mädchen ein falschzüngiges Versprechen macht, verbunden mit einer unlösbar erscheinenden Aufgabe. Und auch die Bank, auf der Cinderella weinend zusammenbricht, um dann von ihrer Guten Fee getröstet zu werden, erinnert mit ihrem im Hintergrund stehenden Baum an eine Grabanlage, wie sie bei Grimm für Aschenputtels Mutter beschrieben ist.

Es heißt, Cinderella sei Walt Disneys Lieblingsmärchen gewesen und schon 1922 hat er die Geschichte als letztes Stück seiner Laugh-O-Gram-Serie verfilmt. Die simple Moral, dass ein guter Lebenswandel belohnt wird und dass man niemals an seinem Unglück verzagen, sondern an seinen Träumen festhalten sollte, hat in der Tat einiges für sich, um als übergeordnetes Lebensmotto zu fungieren.

Nun kann man sich fragen, ob die Botschaft des Filmes wirklich mit dem Leben Disneys vergleichbar ist. Schließlich ist der häufigste Vorwurf, den Cinderella erhält, der, dass sie selbst nichts für ihr Glück unternimmt und sich auf die Hilfe anderer verlässt - ein Vorwurf den Disney selbst sicher niemand machen könnte. Doch diese Sicht ist dem Film gegenüber nicht ganz gerecht. Cinderella befindet sich in einer mehr als problematischen Situation und sie bemüht sich, all ihren Schwierigkeiten so positiv wie nur möglich entgegenzutreten. Natürlich beinhaltet die Entwicklung der Geschichte einen essenziellen Anteil von fremder Hilfe, doch diese „Belohnung“, ob man sie nun als Glück oder göttliche Fügung interpretiert, ist auch in der Realität etwas, das für jeden Erfolg unverzichtbar scheint. Was außerdem im Disneyfilm im Vergleich zu beiden Märchenversionen noch betont wird, ist Cinderellas eigener Wunsch nach einem besseren Leben, der ihr eine zusätzliche Charakterisierung abseits des fügsamen Haussklaven gibt. Dabei scheint es erwähnenswert, welche unterschiedliche Konnotation die verschiedenen Namen der Hauptfigur heute erhalten haben: Während die Bezeichnung „Aschenputtel“ bei uns so etwas wie ein Mauerblümchen bedeutet, liegt die Betonung bei „Cinderella“ auf ihrem raschen und unerwarteten Aufstieg und der Erfüllung ihrer Träume.
Unabhängig davon ist es eigentlich unverständlich, dass man den Namen in unserer Synchronisation nicht genau wie in Schneewittchen übersetzt hat, ist „Cinderella“ doch eine quasi wörtliche Übertragung von „Cendrillon“ oder „Aschenputtel“. Anders als bei Dornröschen stimmen Name von Hauptfigur und Märchen hier in beiden Sprachen überein und in den Fünfziger Jahren hatte der englische Name bei uns auch nicht die Bekanntheit, die er heute - gerade auch wegen des Disneyfilms - innehat. Außerdem wäre uns in diesem Fall auch die eher fragwürdige Neusynchronisation des Vorspannes erspart geblieben, die für die Videoveröffentlichung schließlich wegen verspäteter Sorgen des Verleihs als Erklärung eingefügt wurde.

Vom Inhalt her ist bei dem Film eine starke Zweiteilung spürbar zwischen dem eigentlichen, stringent erzählten Märchen und den zusätzlich eingefügten Nebenschauplätzen. Während in Schneewittchen die Haupthandlung immer wieder „angehalten“ wird, um Raum für episodenhafte Zwischenszenen zu bieten, kommt in diesem Film einfach ein anderer Erzählstrang dazu: Immer wieder wechselt die Szenerie von Cinderellas Geschichte zu den Mäusen und ihrem ewigen Kampf mit Luzifer, der, wenn überhaupt, dann nur grob in die Haupthandlung eingegliedert ist. Man könnte all diese Slapstick-Szenen aus dem Film herausschneiden, ohne den Handlungsfaden zu stören und bekäme eine kurze, auf den Punkt gebrachte Verfilmung des Märchens heraus.
Diese konstruierte Aufblähung der Geschichte ist wohl die logische Konsequenz der Bemühung, sich trotz aller Erweiterungen an die genaue Märchengeschichte zu halten. Es sollten noch an die vierzig Jahre vergehen, ehe es Disney gelang, ein kurzes Märchen wirklich überzeugend in eine filmfüllende Geschichte zu verwandeln.



Die Zweiteilung zwischen ernsthafter Dramatik und simplem Humor findet sich auch in der Figurengestaltung wieder: Während Cinderella, ihr Prinz und Lady Tremaine von Charakter und Aussehen her einem eher realistischen Bild folgen, folgen die Stiefschwestern, der König, der Großherzog und die Gute Fee einem eher karikaturhaften Bild. Besonders deutlich wird dieser Unterschied im Zusammenspiel von Stiefmutter und -schwestern: Anastasia und Drizella entsprechen mit jeder Faser dem typischen Märchenbild der hässlichen Schreckensbilder, während sich ihre Mutter anders als in den meisten Adaptionen als elegante und intelligente Dame von Stand zeigt. Gerade die Tatsache, dass Lady Tremaine mit ihrer kühlen Ruhe und ihrer nicht überzogenen Handlungen einen der wenigen wirklich realistischen Disney-Schurken darstellt, macht sie so gefährlich und verleiht ihr eine Ausstrahlung allgegenwärtiger Überlegenheit. Und schließlich ist sie mit einer winzigen Bewegung ihres Stockes am Ende in der Lage, Cinderellas Happyend um ein Haar aufzuhalten.
Die Rolle von Aschenputtels Vater hat im Märchen immer einen seltsamen Beiklang, denn während er bei Grimm immerhin noch bereit ist, seiner Tochter einen Wunsch zu erfüllen, steht er bei Perrault vollkommen unter der Fuchtel seiner neuen Frau - insofern spricht es nur zu seinen Gunsten, dass er im Disneyfilm durch einen frühzeitigen Tod aus der Handlung ausscheiden darf. Man hat nun beinahe den Eindruck, Disney hätte bei Prinzen am liebsten dasselbe gemacht: Cinderellas unbenannter Traumprinz zählt definitiv nicht als eigenständige Figur und hat nur die Rolle inne, als MacGuffin und schließlich als glückliche Belohnung für die Hauptfigur zu fungieren. Eigentlich war wohl in ersten Handlungsentwürfen etwas mehr Charakter für den Prinzen geplant; er sollte eine eigene Einführung erhalten und Cinderella am Ende persönlich als seine Braut willkommen heißen. In der jetzigen Fassung bleibt er allerdings so farblos wie nur irgendmöglich und der Zuschauer erhält bei weitem mehr Gelegenheit, König und Großherzog kennenzulernen als den ominösen Thronfolger.
Dazu kommt das fundamentale Logikproblem des Märchens, dass der Prinz selbst offensichtlich unfähig ist, seine eigene Braut von Angesicht zu Angesicht zu erkennen. Während mehrere Adaptionen versuchen, diese Schwachstelle durch einen Maskenball oder Ähnliches zu übertünchen, greift der Disneyfilm zu dem eher unromantischen Mittel, dass es nicht der Prinz selbst ist, der die Bedingung festsetzt, und dass folglich die Schuh-Erkennungsszene von der Gestalt des Großherzogs überwacht wird.



Während der Produktion von Cinderella befand sich Disney in beträchtlichen finanziellen Schwierigkeiten und die Produktion eines derartigen Filmes stellte ein enormes Risiko für das Überleben des Studios dar. Gerade wie bei Schneewittchen setzte Disney alles auf eine Karte und wie damals wurde sein Mut durch einen enormen Kassenhit belohnt.
Vergleicht man die beiden Märchenfilme, so ist klar, dass das Studio in der Zwischenzeit eine gewisse Entwicklung durchgangen hat, aber auch dass viele der alten Schwierigkeiten immer noch vorhanden sind. Cinderella ist als Geschichte besser durchkomponiert und lässt nicht mehr das eingeschobene Silly-Symphony-Gefühl aufkommen, doch stattdessen sind viele Comedy-Momente integriert, die eben eher dem derzeitigen Publikumsgeschmack entsprechen. Und was die Charakterisierung des Prinzen oder gar der Liebesgeschichte angeht, ist man womöglich noch einen Schritt zurückgegangen. Natürlich ist es immer wieder schwierig, eine Märchenverfilmung an ihrer Geschichte zu messen - in Fällen, in denen das Quellmaterial gleichzeitig derart beliebt und dennoch eindeutig problembehaftet ist, bleibt der Adaption nur die Wahl zwischen dem Vorwurf der Original-Untreue und dem der schwachen Charakterisierung.
Cinderella ist sicherlich als ein durchweg bezaubernder Film geraten, und wenn er auch kein ideales eigenständiges Kunstwerk darstellt, so bietet er doch eine würdige Umsetzung des alten Märchens. Er stemmt seine Hürden problemlos und erzählt die Geschichte mit solchem Charme, dass man ihm seine Probleme allzu gerne verzeiht. Außerdem bietet der Film bis heute das vielleicht beste Beispiel für reinen Disneyzauber, und in diesem Sinne passt es vollkommen, wenn Cinderella wirklich Disneys Lieblingswerk war
.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ausgesprochen scharfsinnig und sehr gut analysiert. Danke für diese Lesefreude!

Anonym hat gesagt…

Vielen lieben Dank für diesen Artikel!
Ich finde diese Reihe immer wieder interessant.
Weiter so! Ich lese mit! ;)

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