Die letzten zwölf Monate waren für mich aus cineastischer Sicht sehr spannend. Es war das erste Jahr, in dem ich durchgehend als Kinokritiker tätig war, was sich natürlich auf meinen Kinoalltag und vor allem auf die Quantität meiner Kinobesuche auswirkte. Filmisch war 2010 irgendwie schwach an einer eigenen Identität. Es war kein schlechtes Kinojahr, aber auch längst kein umwerfendes, dafür mangelte es an gigantischen Überraschungen oder auch bei manchen Spitzenfilmen an dieser kleinen zusätzlichen Prise persönlicher Begeisterung. Vergleichen wir es etwa mit meiner Sicht auf 2007. Prestige, der Christopher-Nolan-Film des Jahres 2007, schlägt Inception meiner Meinung nach recht deutlich. Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt steht in meiner Gunst höher, als die diesjährigen Jerry-Bruckheimer-Produktionen übereinandergestapelt. Ratatouille ist noch kunstvoller und charmanter als Toy Story 3. Schräger als Fiktion ist mir mehr ans Filmherzen gewachsen, als alle (Semi-)Independent-Tragikomödien von 2010. Einzig die Walt Disney Animation Studios konnten mit Rapunzel ihre 2007er Produktion Triff die Robinsons in die Wüste befördern. Und wie!
Dafür enttäuschte 2010 Kevin Smith mit dem unpassionierten und kaum witzigen Cop Out (der im Vergleich mit 2007 gegenüber dem deutlich besseren Clerks 2 stünde). Die Judd-Apatow-Produktion Männertrip war wiederum zwar amüsant, aber längst nicht so gut wie Nie wieder Sex mit der Ex oder das, was ich von diesem Film erwartet hatte. Männertrip war eine Stakkato-Komödie, die dauernd zwischen Licht und Schatten wechselte. Hangover, nichts passiert, Hangover, nichts passiert, Judd-Apatow-Moment, unpassende Moralspritze, Hangover,...
Ebenfalls auf der Schattenseite des Kinojahres zählte für mich Tim Burtons Alice im Wunderland, den ich zwar beim ersten Ansehen noch recht gut fand, der jedoch sowohl von meinen Hoffnungen erschlagen wurde, als auch vom Qualitätsverlust beim zweiten Ansehen (auf DVD).
Meine herbste Kinoenttäuschung 2010 war schlussendlich aber nicht etwa Cop Out, Männertrip oder Alice im Wunderland, sondern die Indendent-Schiene, sofern man anspruchsvollere Multiplex-Kandidaten wie The Social Network außen vorlässt. Von einigen Oscar-Kandidaten, die bei uns wieder einmal im Frühjahr verbraten wurden, abgesehen, war es für mich ein sehr maues Arthouse-Jahr. So, dass ich es in der zweiten Jahreshälfte von selbst schleifen ließ. Was mich im Nachhinein ärgert, aber gut, habe ich halt mehr neu zu entdeckendes DVD-Futter
Ein paar Beispiele: Dorian Gray wurde mir von einer Person als super empfohlen und von einer als absolute Grütze verurteilt. Die Trailer fand ich schon durchwachsen, also beschloss ich, kinofaul zu sein. Goethe! sah in den Ausschnitten, die durch halb Fernsehdeutschland geschleppt wurden, für mich ziemlich grauenhaft aus. Dann wurde er von einer Freundin als der beste deutsche Film seit... mindestens einer Ewigkeit gepriesen. Nach nochmaliger Sicht des Promomaterials, war ich sehr perplex und dachte mir, dass der es auch als Leih-DVD macht. Letztlich wurde in einem Seminar beschlossen, ihn zu thematisieren und deshalb als Pflichtprogramm auf den Stundenplan zu setzen. Und es war nichtmal das Goethe-Seminar, zu dem diese Aktivität gehörte. Daraufhin wurde die Seminarplanung jedoch umgeworfen und Goethe! fiel der Schere zum Opfer. Schließlich habe ich ihn dann, sozusagen aus Trotz, dennoch angesehen. Wie drücke ich es aus? Zur Beleidigung hat es nicht gereicht, aber er ist eine kopflose Publikumsanbiederung, die mir den Anschein erweckte, sich nur zum intelektuellen Schein Goethes anzunehmen, statt ihn ehrlich interessant zu finden. Tonal schwankt er zwischen bieder und anwidernd pseudo-relevant. Aber ich muss zugeben: Wenn der Film für eine etwas längere Strecke seine Stimmung fand, waren diese Passagen noch recht annehmbar. Es fühlte sich nur zu sehr nach gewollt, aber nicht gekonnt an. Ein gescheitertes Amadeus - ich denke, so kann man Goethe! zusammenfassen.
Überraschend war dafür vincent will meer. Bin jedoch unsicher, ob er einer DVD-Neusichtung standhält, oder ob er wie Slumdog Millionär einem Soufflé gleich zusammenstürzt. Denke es eigentlich nicht, habe aber so eine ungesunde Vorahnung.
Was ich dieses Jahr auf jeden Fall nachholen muss, sind Drei von Tom Tykwer (dämlicher Starttermin), Exit Through The Gift Shop, Last Night (dämlicher Starttermin und wankelmütige Kritikergunst) und Buried. Gerade auf letzteren halte ich große Stücke, bloß hatte ich während der Kinolaufzeit keinerlei Glück mit den Spielorten und -zeiten. Für eine weitere Das weiße Band-Odyssee hatte ich schlicht keine Zeit.

Worin 2010 allerdings bestach, war eine neue "Bestenleistung": Noch nie habe ich während eines Jahres so viele Leute das Kino verlassen sehen. Zuvor hatte ich nur während der sich hinauszögernden Avatar-Vorpremiere ein älteres Pärchen erlebt, dass nach ca. einem Drittel wohl keine Lust mehr hatte oder endlich feststellte, dass sie im falschen Saal sind und nun wohl bis auf den Abspann alles von Zweiohrküken versäumt haben ("Mensch, war der Schweiger schon immer so blau?").
2010 dagegen war die Kinoflucht zwar nicht unbedingt ein regelmäßiges Motiv, aber häufig genug, um sich in meinem Gedächtnis festzusetzen.
Das erste Mal passierte in Rob Marshalls insgesamt doch recht unterschätzten Musical Nine. Der Film hat, wie ich bei Quotenmeter ausführte, zugegebenermaßen ein vergleichsweise hohe Polarisierungspotential, allerdings hat es das jugendliche Paar vor uns nicht einmal lange genug ausgehalten, um davon irgendetwas mitzubekommen. Viel mehr floh es eine halbe Minute nachdem der erste Song anfing. Die einzige mögliche Erklärung wäre, dass die zwei eine gewaltige Musicalallergie haben und im Vorfeld dennoch nicht mitbekamen, dass Nine genau der Art von Filmen angehört, die ihnen die Luft zuschnürt. In dem Fall bin ich aber schadenfroh, dass ihnen der Kinobesuch für nichts und wieder nichts neun Euro gekostet hat.
Das zweite Mal war in Green Zone, einem vergessenswerten Irakkriegs-Politthriller mit Matt Damon. Nach rund der Hälfte verließ ein geschätzt 14-jähriger den Saal, kam mit einem Haufen Nachos mit Salsa zurück, aß sie auf, ging wieder und ward von da an nie wieder gesehen. Ich kann es ihm nicht unbedingt verübeln, die Salsa in dem betroffenen Kino ist wirklich recht aromatisch. Womit ich das größtmögliche Lob über den Green Zone-Besuch ausgesprochen habe, denn in einer Welt ohne The Tourist hätte es dieser spannungsarme Thriller in meine Kino-Hassliste 2010 geschafft.
Das meiste Verständnis hatte ich für die Kinogänger, die aus Kampf der Titanen flohen. Ich hatte irgendwann den Überblick verloren, aber mindestens drei Personen sind unabhängig voneinander aus dem Kino gegangen und kamen nicht mehr in den Saal zurück, um sich vom grottenschlechten 3D Kopfschmerzen einhämmern zu lassen.
Über Kinopublikum zu meckern, hat hier im Blog ja mittlerweile Tradition, und eine heilvolle Tradition ist es obendrein! Nach meiner Hitliste der schlimmsten Kinobesucher musste ich keine Störenfriede mehr ertragen, die es in die Top 12 dieser Hitliste geschafft hätten. Aber ein paar nervige Situationen gab es dennoch, die ich aus 2010 mitnahm. Da wäre zum einen das Paar schräg hinter uns in Sherlock Holmes: Nach elendig verworrenem Getuschel während des Vorspanns verstummen die zwei endlich. Für sehr kurze Zeit. Denn dann tritt Robert Downey jr. endlich frontal ins Licht. Das Mädel rüttelt an ihrem Freund und stößt halblaut in den Saal hinein: "Boah, warum siehst du nicht so geil aus?"
Und einige Sequenzen weiter, wo das wiederkehrende Symbol eines schwarzen Rabens als subtiles Zeichen für übernatürliche Vorkommnisse verwendet wird... bekommt der junge Mann seine fünfzehn Sekunden Ruhm: "Watt?! Meine Fresse, dat is'n Science-Fiction-Film!"
Viel schlimmer und wohl nervig genug für die niederen Ränge meiner Kinobesucher-Nervliste war die vorderste Reihe bei meinem bislang letzten Rapunzel-Kinobesuch. Alles lief super: Der Saal war gut gefüllt und die Altersverteilung erfreulich: 40% Familien mit Kindern, 45% Jugendliche und der Rest waren Rentnerpaare (ohne Enkel). Ich erinnere mich an Zeiten, zu denen ich der einzige Jugendliche in Mitten von Familien war. Das Publikum ging auch super mit, bis kurz vor der fantastischen Laternensequenz. Dann brach ganz vorne nämlich ein riesiger Krach aus. Nur damit ihr eine Ahnung habt: Ich saß ganz hinten, und ich bekam mit, wie in der vordersten Reihe das Bier ausging und daraufhin ein großer Zank vom Zaun brach: "Geh' du holen, ich war beim letzten Film!" -"Ne, Penner, geh' du holen, ich will jetzt nicht raus." "Mann ey, wieso?" -"Ja, ich will gucken wie dat weiter geht!" "Isch aber auch, Arsch!" -"Ja, Pech, ich will aber unbedingt wissen, wie das weitergeht, guck mal, wie toll dat is, da geh isch doch kein Bier hol'n!" So ging das hin und her und es eskalierte dermaßen, dass einer der beiden den Rucksack des anderen durch die Reihen warf. Ich mein, es spricht auf eine abstruse Weise für den Film, dass solche Kerle nicht eine Minute verpassen wollen... Aber man kann dem Film auch anders huldigen. Leiser, vor allem.
Das waren zum Glück meine einzige Begegnungen mit Kinostörenfrieden im Jahr 2010. Ich würde es eigentlich an dieser Stelle mit meinen Publikumskommentaren dabei belassen, aber von einem benachbarten Blog inspiriert, will ich mir auch mal auf die Zunge beißen und lobende Worte für gutes Publikum in die Tasten zimmern.
Mir käme da die Spätvorstellung von Toy Story 3 in den Sinn. Altersdurchschnitt so in den frühen Zwanzigern, die etwas familientauglicheren Gags gingen dennoch nicht unter, aber die "erwachsenen" Gags wurden richtig gefeiert, bei den spannenden Stellen ging das Publikum spürbar mit und bei den emotionalen Momenten roch der Saal förmlich nach Salzwasser, so sehr waren alle gepackt. Und dann kam der Abspann, während dem sich tatsächlich die Gruppe hinter uns darüber stritt, ob der Film nun "geil" oder "super, schön, toll" war. Wusste nicht, dass man über die Formulierung seines im Abspann hinausgebrabbelten Lobs eines Films so kontrovers diskutieren kann! War aber freudig mitzuerleben und rückblickend schätze ich dieses Erlebnis noch mehr, denn... naja, habe ich hier schonmal erwähnt, wie peinlich ich das deutsche Einspielergebnis von Toy Story 3 finde?
Fast das gleiche lässt sich über die Spätvorstellung von Rapunzel sagen: Gleiches Kino, größerer Saal, mehr Zuschauer. Der New Super Mario Bros. Wii/ Donkey Kong Country Returns-Spot wurde zelebriert, die Animationsfilmtrailer kamen gut an, Winnie Puuh wurde richtig gefeiert (!) mit "Ooooh, Winnie!"-Rufen der Frauen und "Yeah! I-Ahh! Wooooohuuuu!"- sowie "Geil, Tigger!"-Rufen der männlichen Kinogänger. Und das ohne einen Deut Ironie in der Stimme. Beim Film wurde richtig mitgegangen, Frauen ermahnten ihren Herzbuben, nicht so laut zu schluchzen, einfach super.
Und dann wären da noch die mit Filmgeschmack gesegneten Kinder in Kindsköpfe. Der Film ist stupide, moralinsauer, träge, witzlos, aber auch frech und vulgär. Man müsste also denken, dass ein riesiger Haufen Fünft- und Sechstklässler, die sich in den Film verirrten, sich über jeden dämlichen Pups beömmelt, als gäbe es kein Morgen. Von wegen. Bis auf einige wenige Kicherer und Schmunzler verzog sich zunächst keine einzige Miene - bis das kultivierteste in den Saal gesagte Filmzerreißen begann, dass ich je erlebte. "Liegt es an mir, Kevin, oder ist dieser Film tatsächlich vollkommen lustlos?" "Mit diesem komödiantischen Timing vermiesen die sich ja jeglichen Witz... und der Witz selbst ist bereits erschreckend schwach." "Sonst geht man bei solchen Filmen ja davon aus, dass auf ein Drehbuch verzichtet wurde und die Darsteller nur Spaß haben wollten - bloß, wo ist in diesem Film der Spaß?" Es ging noch nicht einmal ununterbrochen so, es waren nur perfekt parallel zu hölzernen Szenenübergängen abgeschossene Spitzen. Mit einer solchen Kinojugend könnte es mit Filmdeutschland vielleicht wieder bergauf gehen...
Eine weitere Ehrennennung geht noch an die unwissenden Zuschauer bei From Dusk Till Dawn, die ich bereits an anderer Stelle hier im Blog verewigte. Ich hoffe, irgendwann einen kollektiven Schock zu erleben, sollte ich mal Planet der Affen oder Jahr 2022... die überleben wollen im Kino sehen dürfen. Jetzt halte ich alles für möglich. Vielleicht sogar ehrliche Schocks beim Ende von Die Truhe des Todes während der Pirates of the Caribbean-Kinonacht kommenden Mai? Ich nehm, was ich kriegen kann!
Und um diesen Jahresrückblick auch auf positiver Note zu enden, will ich an dieser Stelle die erfreulichsten Überraschungen des Kinojahres 2010 aufführen. Rapunzel, Toy Story 3, Inception, ihr müsst auf einen anderen Artikel hoffen, denn ihr hattet den Fluch des Vertrauens vor Kinostart. Ihr könnt hier gar nicht mehr auftauchen.
Dafür soll erneut Sherlock Holmes genannt sein. Der Film war besser als von mir erwartet. Jude Law und Downey jr. haben eine tolle Chemie und Guy Ritchie ließ sich von dem ungewohnt hohen Budget nicht überfordern. Mein Star des Films war allerdings Hans Zimmer, dessen exzentrischer und verwegener Zigeuner-Irish-Pub-Wahnvorstellungen-Klangmix das ganze Jahr über Teil meiner Playlist war und mich nicht in Wut versetzt hätte, wäre durch ihn Michael Giacchinos Oben-Musik der Oscar abhanden gekommen. Jetzt will ich unbedingt, dass Hans Zimmer an einem monströsen Steampunk-Film mitwirkt, das wäre sicherlich eine außerordentliche Musikerfahrung. Überrascht war ich auch von Scott Pilgrim gegen den Rest der Welt, der nicht nur ein mit Referenzen vollgestopftes, hyperaktives Geekfest ist, sondern meiner Auffassung nach auch künstlerisch viel zu bieten hat und deutlich ausgebildeter ist, als ihm viele Kritiker, sogar einige derer, die ihn gut benoteten, zugestehen wollen.
Die größte Überraschung war aber Drachenzähmen leicht gemacht. Dass Dean DeBlois und Chris Sanders Dreamworks auf ein höheres Level zu heben vermögen, schien mir ja sicher, aber dass sie einen derart zauberhaften und bildhübschen Film aus dem Boden stampfen, hätte ich nie erwartet. Die Beleuchtung ist großartig, das Figurendesign toll, die Musik super. Ich freue mich wirklich sehr auf die Fortsetzungen.
Das waren also meine halb strukturierten Gedanken über das Kinojahr 2010. Vielleicht raffe ich mich bald auf, eine Hitliste über die besten Filme des Jahres zu erstellen. Wenn nicht, dann fühlt euch jetzt von mir ins neue Kinojahr begrüßt - auf dass es ein besonders erfolgreiches und schönes wird!
Siehe auch:
- Meine Lieblingsfilme des Jahres 210 (Teil I und Teil II)
- Die schlechtesten Kinofilme 2010
- Die 10 besten Soundtracks 2010
- Meine Hits des Jahres 2010
1 Kommentare:
Hm, mein Kinojahr 2007 bestand aus Romantikkomödien, (Halb)Animations- und Fortsetzungsfilmen. Wobei von den 21 Kinobesuchen allein 6 auf AWE entfallen (und dazu dann noch Teil 1 + 2 *g*). "Prestige" wollt ja damals keiner mit mir gucken gehen, diese ollen Banausen...
Hm, ich vermute mal, dass in von mir besuchten Vorstellungen möglicherweise noch mehr Leute rausgegangen sind - ich habs wahrscheinlich einfach nur nicht mitbekommen (bei "Kampf der Titanen" müssen einfach Leute gegangen sein...).
"Boah, warum siehst du nicht so geil aus?"
DA musste ich jetzt doch sehr lachen - hätte er doch zu ihr sagen könne, als Rachel McAdams ihren Auftritt hatte. *g* (Und ja, der film ist gut "gealtert" - ich liebe ihn immer noch und hätte nie gedacht, dass ich mich auf einen Film mit Jude Law freuen könnte, aber Teil 2 - japp, definitiv!)
Boah, zum Glück sind mir so leute in "Rapunzel" erspart geblieben...
Das freut mich, dass ich dich inspirieren konnte mit den besten Kinobesuchern. *g* Die Kleenen in "Kindsköpfe" waren ja super!
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