Freitag, 19. Februar 2016

Boy 7




In Hollywood wird seit Jahren ein Jugendroman nach dem anderen adaptiert. Das deutsche Kino tut sich dahingehend zwar etwas schwerer, dessen ungeachtet wäre es falsch, zu behaupten, dieses Genre werde von den Produzenten hierzulande völlig ignoriert. In jüngster Vergangenheit fanden etwa die ersten zwei Bücher aus Kerstin Giers Edelstein-Trilogie den Weg auf die Leinwand, sowie Mara und die Feuerbringer. Während die nach edlen Klunkern benannten Zeitreise-Geschichten gut genug liefen, um auch die Verwirklichung eines dritten Films zu rechtfertigen, ging letztgenannte Produktion an den Kinokassen katastrophal baden. Auch Boy 7 macht leider kaum Werbung dafür, mehr Genrestoff aus deutschen Landen zu verwirklichen. Denn die Adaption der niederländischen Dystopie aus der Feder von Mirjam Mous stellt qualitativ nicht gerade einen Ausreißer darstellt.

Ein junger Mann (David Kross) erwacht in einem der U-Bahn-Tunnel Hamburgs. Weder erinnert er sich an seinen Namen, noch daran, wie er dorthin gelangt ist. Eines wird ihm aber schnell klar: Jemand ist hinter ihm her! Die Polizei ist ebenfalls nicht gewillt, ihm zu helfen. Also gibt es für ihn nur eine Option: Fliehen! Als er sich halbwegs in Sicherheit wiegt, entdeckt er ein Tagebuch, das alle Antworten zu enthalten scheint. Eine geheimnisvolle junge Frau (Emilia Schüle) spielt offensichtlich eine große Rolle, und die ganze Misere muss wohl im Resozialisierungszentrum der Kooperation X ihren Anfang genommen haben. Aber während der Namenlose die Vergangenheit nacharbeitet, nähern sich seine Verfolger – und bedrohen so seine Zukunft …

Nach dem Gangsterfilm Chiko und der Gangsterrap-Musikkomödie geht Regisseur Özgür Yıldırım mit Boy 7 neue Wege. Ein wenig hat es sich der Regisseur, der zudem den Wotan-Wilke-Möhring-Krimi Tatort: Feuerteufel inszenierte, aber heimisch gemacht: Der gebürtige Hamburger verlegte die Handlung in die Hansestadt, die er hier von einer subtil-futuristischen, sowie kühlen und dreckigen Seite zeigt. Diese Entscheidung erweist sich aus vielerlei Hinsicht als cleverer Schachzug. Eine relativ günstige deutsche Genreproduktion etwa in den USA spielen zu lassen, sorgte in der Vergangenheit schon wiederholt für unfreiwillige Komik. Auf der anderen Seite haben Hamburg (und auch andere deutsche Städte) eine starke Ausstrahlung, die viel zu selten im Kino ausgenutzt wird. Somit ist das Setting von Boy 7 im großen Ganzen der dystopischen Filmlandschaft ein erfrischender Anblick, den Yıldırım sowie Kameramann Matthias Bolliger zwar nicht auf Hollywood-Niveau, wohl aber leinwandtauglich einfangen. Die schmuddeligen, giftigen Farben sorgen für eine angespannte Atmosphäre, ohne aus dem Schauplatz einen anonymen Sci-Fi-Ort nach Schema F zu kreieren.

Obwohl die Masse an schrägen Blickwinkeln und verwackelten Kamerafahrten gen Ende der Laufzeit ermüdend wird, ist der visuelle Aspekt der deutlichste Pluspunkt an Boy 7. Hinsichtlich der handelnden Figuren hat dieser Mix aus Thriller, Liebesgeschichte und Sci-Fi-Drama nämlich so seine Makel. Die talentierten Jungdarsteller Emilia Schüle und David Kross, die schon mehrmals bewiesen haben, was sie drauf haben, schlagen sich zwar mit kessen Charme durch ihre gemeinsamen Dialogpassagen, können angesichts des Skripts aber keine denkwürdigen Figuren erschaffen. Ihre Rollen sind durch das Drehbuch zu mühselig darauf hingebogen, einfach alles abzudecken und möglichst vielen Teenagern als Identifikationsfiguren zu dienen: Rebellisch, aber nicht zu rebellisch. Witzig, aber auch ernst. Romantisch, aber dann auch doch wieder nicht.


Die Weigerung, eine klare Linie zu fahren, schadet auch dem eigentlichen Plot: Die Frage, was im Resozialisierungszentrum vor sich geht, verliert rasch ihren gesellschaftskritischen Beiklang, um Raum für eine sich mit Katz-und-Maus-Spiel kreuzende Lovestory zu machen. Die Debatte, wie viel Individualität eine sicherheitsorientierte Gesellschaft erlauben kann, spielt im großen Ganzen dieses Films nur eine minimale Rolle. Hinzu kommt, dass Regie und Skript so viele überdeutliche Vorausdeutungen machen, dass die eh schon archetypische Geschichte arg durchschaubar wird. Das letzte Drittel wird daher nahezu im Alleingang von Jens Harzer getragen, dessen sadistische Figur von Minute zu Minute immer mehr wie ein Bernd Stromberg wird, der sich als schleimiger Sci-Fi-Erzieher versucht. Klingt so niedergeschrieben vielleicht peinlich, ist dank der engagierten Performance aber ein herrlicher Lichtblick in einem konstant an positiv auffallenden Merkmalen verlierenden Stück Genrekino.
Fazit: Boy 7 ist als deutsche Jugend-Dystopie zwar prinzipiell lobenswert, allerdings fehlt es den Figuren an Kontur und der Story an Biss, weshalb der Sci-Fi-Film selbst große Genrefans enttäuschen dürfte.

Southpaw


Boxen. Der Sport, der wie fürs Kino geschaffen ist. Er ist rau, schnell und brutal, erlaubt aber auch Taktik und somit Köpfchen – und die Sportler sind praktisch ungeschützt, was eine hohe Emotionalität im Schauspiel erlaubt. Zudem spielt sich die dynamische Action in genau dem Bereich ab, der für einen charaktergestützten Film so entscheidend ist: Während etwa im Fußball das Wichtige am Boden geschieht, fern vom Gesicht, kann beim Boxen die Kamera genau dorthin halten. Und dabei sowohl fliegende Fäuste einfangen als auch Bände sprechende Gesichtsausdrücke. Kein Wunder, dass der Boxsport eine Vielzahl an sehenswerten Leinwandgeschichten inspirierte. Von Martin Scorseses losgelöstem Wie ein wilder Stier und dem ikonischen Sozialdrama Rocky (sowie seinen tonal extrem ungleichen Fortsetzungen) bis hin zu Clint Eastwoods Oscar-Abräumer Million Dollar Baby.

Entsprechend schwer fällt es, in diesem von Schwergewichten besetzten Feld  weiterhin Treffer zu landen, die der Zuschauer noch lange spürt. Training Day- und The Equalizer-Regisseur Antoine Fuqua steuert mit Southpaw einen neuen Genrevertreter, der große Ambitionen verfolgt. Allerdings prügelt Fuqua die melodramatischen Bestrebungen seines Films dermaßen penetrant auf sein Publikum ein, dass Southpaw das wirklich Elementare aus den Augen verliert. Somit hat die 25-Millionen-Dollar-Produktion immerhin einiges mit ihrem Protagonisten gemeinsam:

Der vierfache Box-Weltmeister Billy Hope (Jake Gyllenhaal) glaubt sich am Höhepunkt seiner Karriere angelangt: Er hat sich (im wahrsten Sinne des Wortes) aus ärmlichen Verhältnissen in die Ränge der Superreichen gekämpft, und ermöglicht mit seinem schweißtreibenden Schaffen seiner Frau (Rachel McAdams) sowie seiner Tochter (Oona Laurence) ein behütetes Leben in einer riesigen Villa. Als der cholerische Boxer bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung von einem vorlauten Kollegen beschimpft wird, teilt Billy aus – und verursacht so Hals über Kopf eine schreckliche Tragödie, die sein ganzes Leben aus der Bahn wirft. Am Boden zerrüttet, wendet sich der Linkshänder Alkohol und schmerzbetäubenden Medikamenten zu; eine Kombination, die ihn zum reinsten Wrack verkommen lässt und das Jugendamt auf den Plan ruft. Alles, was sich Billy aufgebaut hat, zerrinnt in seinen Händen. Er sieht nur einen Silberstreif am Horizont: Sein Ex-Manager (Curtis '50 Cent' Jackson) bietet ihm die Gelegenheit zu einem Comeback, sobald Billy wieder kämpfen darf. Da sich seine finanziellen Rücklagen wie im Nu verflüchtigen, willigt Billy ein. Um im Ring bestehen zu können, muss er aber dringend einige Trainingsstunden nachholen …

Ganz gleich, wie sehr Southpaw in mancherlei Hinsicht daneben haut: Die Performance von Jake Gyllenhaal ist ein wuchtvoller Uppercut, der sich gewaschen hat. Gyllenhaals Leistung beschränkt sich dabei nicht nur auf die physische Transformation. Der Nightcrawler-Hauptdarsteller verwandelte sich zwar in einen riesigen Muskelberg, entscheidender ist aber die brodelnde Intensität, die er zu Tage legt. In den Boxszenen scheint er kurz davor sein, zu explodieren, und auch in den stillen Momenten trumpft er mit unter der Oberfläche kochenden Emotionen auf. Solch eine Hingabe überrascht bei diesem Mimen zwar eigentlich nicht mehr, da er seit Jahren eine Spitzendarstellung an die nächste reiht. Angesichts des flachbrüstigen Skripts erstaunt es letztlich aber sehr wohl, dass Gyllenhaal es vermag, einen glaubwürdigen Protagonisten mit einem nachvollziehbaren sowie mitreißenden Gefühlsleben zu erschaffen.

Das Drehbuch von Kurt Sutter, der die Geschichte ursprünglich Eminem auf den Leib geschrieben hat, stellt nämlich eine haltlose Klischeeparade ab. Trotz der respektablen 124 Minuten Laufzeit hechelt Southpaw durch eine ebenso unvermeidliche wie vorhersehbare Kombination aus Schicksalsschlägen. Das Unglück prügelt auf den unsubtil benannten Billy Hope ein, und im gleichen Maße wird der Betrachter von Sutter sowie Antoine Fuqua tormentiert: Jeder Wendepunkt wird ausgeschlachtet, Billys Leid in theatralen Bildern eingefangen und von wehmütigen, doch schalen Dialogen begleitet. Für die Momente dazwischen, für bittersüße Klänge und die Story ausarbeitende Passagen, lässt sich Southpaw dagegen keine Zeit. Erschwerend kommt hinzu, dass Fuqua und Kameramann Mauro Fiore außerhalb des Boxrings die immer gleiche, niederschmetternde Bildsprache wählen und ihrer (atmosphärisch grundsoliden) Milieuskizze niemals neue Winkel abringen. Sollte die Fülle an überhöht dargebotenen emotionalen Tiefschlägen der Versuch sein, das Gefühl eines selbst ausgetragenen Boxkampfs auf das Filmerlebnis zu übertragen, so haben die Southpaw-Macher die Lektion ihres eigenen Films ignoriert. Hope muss im Laufe der Handlung lernen, das Boxen mehr ist als so lange Einzustecken, bis man endlich einen mit geballter Kraft ausgeteilten Lucky Punch landet.

Doch während Hope an die technischen Feinheiten erinnert wird, die den Boxsport ausmachen, schlägt Southpaw von Anfang bis Ende nur mit großen Gesten um sich, ohne sie je taktisch klug einzusetzen. Die wunderbare Rachel McAdams ist in ihrer hauchdünn skizzierten Rolle völlig verschenkt, so dass ihr Schicksal keine Blessuren beim Zuschauer hinterlässt. Wenn im Mittelteil weitere Nebenfiguren eingeführt und alsbald wieder aus der Story raus geschrieben werden, wird die Theatralik dieses Boxerfilms zwischenzeitlich sogar unfreiwillig komisch. Dass die von Skyfall-Aktrice Naomie Harris gespielte Sozialarbeiterin ihre Position gegenüber Hope wie ein Fähnchen im Wind ändert, fällt angesichts des laschen Drehbuchs letztlich kaum noch ins Gewicht.

Was Southpaw abseits von Gyllenhaals Leistung davor abhält, in die völlige Belanglosigkeit abzudriften, ist nicht etwa die solide, wenngleich konturarme Darbietung von Forest Whitaker in der obligatorischen Rolle des alten, weisen Trainers. Sondern die Art und Weise, wie Fuqua in der ersten Hälfte die Brutalität und das halsbrecherische Tempo des Boxsports einfängt. Schweiß, Blut und Spucke fliegen gen Kamera – mal in verwackelten, rasant geschnittenen Bildabfolgen. Mal in Ultrazeitlupe, so, als würde das angestaute Adrenalin die Welt anhalten. Das große Finale setzt leider nur noch partiell auf diesen rohen, energiegeladenen Inszenierungsstil, verwässert ihn durch längere Strecken, die auch einer hochwertig produzierten, aber anonymen Fernsehübertragung entliehen sein könnten. So geht Southpaw in den letzten Minuten selbst in seiner kraftvollen Boxkampf-Schilderung die Puste aus, weshalb sich Fuquas keinerlei Subtilität oder Innovation kennende Regiearbeit nur für Gyllenhaal-Fans und Boxfilm-Komplettisten lohnt.

Fazit: Antoine Fuqua sucht mit Southpaw selbstbewusst den Kampf mit den Meisterwerken des Boxfilms. Doch obwohl Hauptdarsteller Jake Gyllenhaal wieder einmal eine schlagkräftige Darbietung zum Besten gibt, würde dieses einseitige Melodram im Duell mit wahren Genregrößen spätestens in Runde drei k.o. gehen.