Sonntag, 7. Januar 2018

"Die Truman Show" - Ein Glanzbeispiel in Sachen Effizienz. Oder: Weshalb dem Publikum nicht alles vorgekaut werden muss


Geschichten effizient und fokussiert zu erzählen, ist eine Fähigkeit, die, so fürchte ich, nicht genügend Würdigung erfährt. Dabei kann der Gedanke "Ach, hätten die nur eine Serie, statt bloß einen Film daraus gemacht" manchmal höchst absurd sein. Und eines meiner liebsten Beispiele für effizientes, kompaktes Geschichtenerzählen ist ausgerechnet ein Film über die längste Fernsehserie der (fiktionalen) Geschichte: Die Truman Show.

Peter Weirs mediensatirisches Komödiendrama handelt davon, dass Truman Burbank (Jim Carrey in der besten Leistung seiner Karriere) unwissentlich der Hauptdarsteller der größten Realitysendung des gesamten Globus ist. Doch eines Tages fällt ihm aus heiterem, vermeintlichen Himmel ein Scheinwerfer vor die Füße. Wird er die Scharade, die um ihn herum aufgeführt wird, durchschauen, und wenn ja, kann er der Illusion, in die er eingebettet wurde, entkommen?

Mit diesem Absatz habe ich die grundlegende Prämisse und die Initialzündung des zentralen Plotfadens von Die Truman Show zusammengefasst - und zu diesem Zweck musste ich nicht einmal die ersten vier Filmminuten vorwegnehmen. Alles Wesentliche. Enthalten in nur vier Minuten eines 103 Minuten langen Kinofilms. Weir und Drehbuchautor Andrew Niccol ist damit eine Glanzleistung in effizientem Storytelling gelungen. Wäre Die Truman Show eine moderne Fernsehserie, hätte ich mit obigem Absatz wohl den Schluss-Cliffhanger der Pilotfolge vorweggenommen - und in Zeiten des sogenannten "Peak-TV" geht die Tendenz sogar zu noch weiter ausgebreitetem Erzählen. In irgendeinem Paralleluniversum fällt Jim Carrey in Netflix' Die Truman Show erst nach zwei Dritteln von Episode drei der Scheinwerfer vor die Füße ...

Weirs Die Truman Show legt ein zielstrebiges Erzähltempo vor - und lässt daraufhin nicht locker. Die Situation eskaliert, Trumans Zweifel an seiner Lebenssituation wachsen, er zieht Konsequenzen daraus, seine Konsequenzen schlagen Wellen, es kommt zu einer endgültigen Konsequenz. Obwohl Die Truman Show so kompakt erzählt ist, mangelt es diesem Film an nichts. Die Handlung ist stark kondensiert, der erzählerische Fokus sehr konzentriert. Und daher weckt Weirs Dystopie so intensive Emotionen. Das gepackte, gebannte Erzählen sorgt dafür, dass Die Truman Show stark räsoniert. Ich würde bezweifeln, dass die Geschichte bei mir so lange nachhallen würde und ich so häufig über sie ins Grübeln geriete, wäre sie weniger prägnant, pointiert und intensiv.

Denn Die Truman Show ist, weil es kaum erzählerisches Fett gibt, ein elegant erzählter Film. Und eben diese Eleganz, nur selten von Trumans schleichender Erkenntnis und ihren Folgen abzuweichen, macht den Film in meinen Augen nicht nur zu einem Beispiel für schönes Geschichtenerzählen - es macht ihn auch anspruchsvoller. Weir und Niccol vertrauen dem Publikum, dass es selber eins und eins zusammenzählt, wo andere es vor- und gegenrechnen, ehe sie den Rechenweg nochmal erläutern.

Daher frustriert es mich so sehr, wann immer ich die modisch gewordene Aussage "Serien sind so viel intelligenter als Filme, weil sie mehr Zeit in Anspruch nehmen" höre oder lese. Länge allein sagt nichts über das gebotene Niveau aus. Twilight - Bis(s) zum Morgengrauen ist in der englischsprachigen Paperbackausgabe über 490 Seiten lang, Goethes Faust nimmt in der Reclam-Ausgabe keine 140 Seiten in Anspruch.

Es gibt keine Grundregel, welches Medium und welche Erzählzeit höheren Intellekt erfordert oder anspruchsvoller ausgearbeitet ist. Es ist eine Frage, die sich von Fall zu Fall entscheidet. Breaking Bad würde ich etwa als herausragende Serie bezeichnen, die nichts dadurch gewinnen würde, auf 103 Filmminuten gekürzt zu werden. Es ist eine Charakterstudie, und teils auch Milieustudie, die von dem emotionalen und moralischen Wandel ihres Protagonisten erzählt, sowie von den Konsequenzen für ihn und sein Umfeld. Breaking Bad zeichnet sich dadurch aus, dass Vince Gilligan jeden Winkel, jede Falte, jeden Schönheitsfleck seines Studienobjekts ausleuchtet. Auslassungen wären eine erzählerische Fehlleistung; der Anspruch dieser Erzählung ist, die ausdauernde Konzentration, die sie erfordert. Sie verlässt sich auf unsere Fähigkeit, den Ausführungen dieser intensiven Fallstudie zu folgen. Breaking Bad ist, auf die Gefahr hin, eine holpernde Metapher zu kreieren, ein Studiengang.

Die Truman Show ist kein Studiengang. Die Truman Show ist ein berührendes Sinnbild. Dieser Film steht ein Stück weit für den Aufwand, der in Fiktion steckt, und erzählt von ihren Grenzen. Und er steht gewissermaßen für das Leben an sich. Ähnlich, wie die Show-im-Film nur ein kleines, verzerrtes Abbild der Wirklichkeit ist, ist auch Die Truman Show ein solches. Denn partiell geht es uns allen wie Truman Burbank: Wir werden in Umstände hineingeboren, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Niemand konnte sich seinen Geburtsort aussuchen. Wir alle hatten keinerlei Mitspracherecht über die Familienkonstellation, in die wir hineingeboren wurden. Und unsere frühe religiöse Erziehung oder Grundschule konnten wir uns ebenso wenig aussuchen wie das wirtschaftliche Sprungbrett, von dem aus wir ins Becken namens Wirklichkeit springen. Die Frage, die wir uns alle irgendwann stellen, ist: "Will, ja, kann ich ausbrechen?"

Weir und Niccol nehmen diesen unterschwelligen Gedanken und erzählen ihn mit poetischer Eleganz und vergnüglicher Kurzweil. Von diesem Sinnbild ausgehende, teilweise nur dezent mit ihm verbundene, mediensatirische und situationskomische Elemente sind sehr vorsichtig, aber gezielt gewählt: Wäre Die Truman Show zu einseitig fokussiert, verkäme der Film zu einem cineastischen Inspirationsposter wie Verborgene Schönheit. Und gäbe es viel mehr rund um den Grundkern der Erzählung herum ... Nun:


Eine moderne Serienversion von Die Truman Show würde mühelos Leerstellen in der Erzählung finden und den Kern des Stoffes um Schicht um Schicht um Schicht ergänzen. Wie fühlte sich Truman vor dem Scheinwerfer-Unfall? Lasst uns, ehe die eigentliche Handlung beginnt, zweieinhalb Episoden über seinen Alltag erzählen, dann kann das Publikum bestimmt viel besser nachvollziehen, wie verwunderlich dieser Moment war! Wer hat den so schicksalsträchtigen Scheinwerfer installiert und wie ist es dieser Person nach dem Missgeschick ergangen? Machen wir eine Folge darüber! Wie reagiert eigentlich die Außenwelt auf dieses Reality-TV-Experiment? Statt eine Handvoll Szenen darüber zu zeigen, sollte es eine Folge über die Fangemeinde geben und eine über Protestler, dann ist die Erzählung gleich viel umfassender! Sonst fehlt es dem Stoff ja an Dimension! Wie sehen die Verhandlungen um Werbeplatzierungen in der Sendung aus? Das benötigt einen eigenen Staffelhandlungsbogen!

Und was ist eigentlich mit der Frau, die Trumans Ehefrau spielt? Die wird doch quasi von den Produzenten dafür bezahlt, dass sie Sex mit Truman hat. Also ist sie sowas wie eine Prostituierte, oder? Wie besetzt man solch eine Rolle, sorgt sowas für einen Skandal, hat die Frau daher Gewissensbisse? Und was trägt sie angesichts dessen in ihrem Steuerformal unter der Sparte "Beruf" ein? Das ist Stoff genug für eine Doppelfolge!

Oder ... es bleiben einfach erzählerische Leerstellen. Ja, die moralischen Implikationen rund um Trumans Ehefrau bleiben in Die Truman Show unbehandelt. Es sind Fragen, die sich lange nach der Filmsichtung eines nachts beim Gang zum Kühlschrank aufdrängen, woraufhin in den grauen Zellen eine Alarmleuchte aufblinkt: "Moment mal, was bedeutet das?" Doch dass Weir und Niccol diese Frage nicht selber aufwerfen, geschweige denn über sie reflektieren, ist lein Versäumnis. Diese Lücken schwächen den Film nicht.

Dadurch, dass mir als Zuschauer die Antworten nicht vorgesetzt werden, bevor ich die Fragen überhaupt stellen kann, kommt die eigentliche Essenz von Die Truman Show mit Grazie, jedoch Deutlichkeit zum Tragen. Und alles, was über sie hinausgeht kann, darf, ja, soll ich selber entdecken. Es ist so viel spannender, selber auf die Konsequenzen zu stoßen und über sie zu werten, als alles vorgekaut und via narrative Zwangsernährung eingetrichtert zu bekommen.

Montag, 1. Januar 2018

Meine Gedanken zum Kinojahr 2017


2017 war die konsequente Fortsetzung des Jahres 2016. Die gesellschaftspolitischen Debatten des Vorjahres wurden explosiver weitergesponnen, die erschütternde Politlage wurde noch anstrengender und in der Welt des Films gab es ein weiteres Mal eine Riege an schwach aufgenommenen Blockbustern, die ganz allein in der öffentlichen Wahrnehmung den Blick aufs Kinojahr getrübt haben, obwohl es doch so viele filmische Perlen zu genießen gab.

Der gallige "Fans gegen Kritiker"-Diskurs 2016 hat sich 2017 zwar glücklicherweise nicht noch weiter potenziert, abgeebbt ist er allerdings leider auch nicht. Das für mich dominante Thema im Filmdiskurs 2017 war jedoch das Auseinanderdriften zwischen US-Konsens und der hiesigen Rezeption. Ob Pirates of the Caribbean: Salazars Rache, Thor - Tag der Entscheidung, Wonder Woman, Baywatch, Die Mumie, Aus dem Nichts, Star Wars - Die letzten Jedi oder, oder, oder: Viele Filme kamen auf der anderen Seite des Teichs bei der schreibenden Zunft ganz anders an als in der Bundesrepublik. Da wir aber keinen solchen Kritikerspiegel haben wie Rottentomatoes, verbreitet sich dieser deutsche Konsens in den sozialen Medien schleichender. Was viele Vorteile haben kann (die sklavische Hörigkeit auf den RT-Prozentwert ist lästig), aber auch viele Nachteile. Denn (wohl auch Trump-Wahnsinn sei Dank): Die Amerikaner sind in ihrer Popkulturrezeption 2017 ganz schön durchgeknallt.

Und ich fürchte, dass die kaputte Stimmung in dem Land, aus dem wir einen Großteil unseres Entertainments importieren, uns in den kommenden Jahren eine Fortsetzung meines ungeliebtesten Trends des Filmjahres bringen wird. Denn schon 2017 wurden viele Filme durch aufgesetzte, extrem kitschige, mit dem Brecheisen in den Erzählfluss gehobelte, idiotische Monologe über den Wert der Liebe hinuntergezogen. Das Ende von Wonder Woman zieht sich irgendwas über Liebe und Vertrauen aus der Nase, in Valerian sülzt Cara Delevigne eine weder zur Charakterzeichnung ihrer Figur noch in den Filmmoment passenden Rede über Liebeliebeliebeliebe hinunter, der eigentlich sehr schöne Guardians of the Galaxy Vol. 2 verwässert manche seiner emotionaleren Passagen, indem aus Subtext ganz brutal Text gemacht wird, und von Alien: Covenant fang ich jetzt besser gar nicht erst an. Und damit ist nur die Spitze des Eisberges abgedeckt. Wenn betont warmherzige Familienfilme wie Paddington 2 oder Bibi & Tina - Tohuwabohu total! ihre Botschaft wesentlich subtiler rüberbringen, sollte das den "erwachsenen" Unterhaltungsschaffenden eine große Warnung sein!

Wenigstens konnte ich mich auch 2017 in einige Sondervorführungen flüchten. Darunter befanden sich die im beschränkten Eventfenster ausgewerteten Filme Rammstein: Berlin, Hans Zimmer Live sowie Berlin Falling, darüber hinaus habe ich mir etwa eine Wiederaufführung von Ghostbusters - Answer the Call in 3D gegönnt, eine Q&A-Vorführung von Einsamkeit und Sex und Mitleid und Kino-Neusichtungen von Terminator 2 (in 3D), Die Reifeprüfung (in 4K-Neuabtastung), Das fünfte Element (ebenfalls in 4K), Dirty Harry (mit allem Bildrauschen und Knacksen, das dazugehört), Falsches Spiel mit Roger Rabbit (in 35mm) sowie  Fantasia (in HD). Außerdem habe ich Dunkirk in 70mm begutachtet, ein sehr emotionales Planet der Affen-Triple besucht und  dieStar Wars-Episoden VII sowie VIII im Double erlebt.

Was bleibt mir sonst zu sagen, außer: Auf ein schönes 2018!