Samstag, 31. Oktober 2020

Relic

Wann immer Leute rummaulen, Popcorn-Kassenschlager wie Avengers || Endgame würden das Kino zerstören, kriege ich einen inneren Schreikrampf. Denn diese Statements zeigen sich vollkommen ignorant gegenüber der Realität des Standorts Kino: In einer Ära, in der sich Millionen und Abermillionen von Menschen einreden, Filme seien umsonst, wenn sie als Teil einer monatlichen Flatrate angeboten werden, wurde der "Dafür gehe ich ins Kino"-Impuls zahlreicher Personen nun einmal kleiner. Das ist eine Entwicklung, die schon vor dem Aufkommen des Marvel Cinematic Universe begonnen hat. Man schaue sich bloß einmal die sinkende Erfolgskurve von Dramen und Komödien mittleren Budgets in den USA an, wo Kabelfernsehen und Netflix deutlich früher und stärker Einfluss auf das Kinokonsumverhalten hatten als in Westeuropa. 


Filme wie Avengers || Endgame sind nicht der Untergang des Kinos, sondern deren Notnagel, den es benötigt, solange Otto und Anna Durchschnittskonsum denken "Ach, ich hab keine Lust, Geld auszugeben und vor die Tür zu gehen, ich schau was auf Netflix". Und ein Umdenken wird angesichts der Nachrichtenlage 2020 so rasch nicht eintreten. Aber es gibt noch einen Grund, weshalb das MCU nicht den Untergang des Kinos bedeutet: Zahlreiche "Verbrecher" nehmen die Gage für ihren "Verrat an der Kunst", um Filme zu finanzieren, die sonst nicht gemacht worden wären oder zumindest weniger Verbreitung gefunden hätten. So haben die Brüder Joe & Anthony Russo ihre satten Marvel-Gehälter genommen, um AGBO zu gründen, ein Label, das seither unter anderem die großartige Gesellschaftssatire Assassination Nation vertrieben hat und (gemeinsam mit Jake Gyllenhaal) Relic mitfinanzierte, das feinfühlige, gefühlvoll-schaurige Regie- und Drehbuch-Langfilmdebüt von Natalie Erika James.


Und als sensible Grusel-Auseinandersetzung mit Mutter-Tochter/Enkelin-Mutter-Großmutter-Dynamiken, in denen Verständnis und Einfühlungsvermögen bedeutendere Komponenten sind als Terror, Twists, Schrecken und blutige Konflikte ist Relic kein Stoff, der mal eben finanziell gestemmt, umgesetzt und der Masse zugänglich gemacht wird, noch dazu auf diesem Niveau. 


Als Kay (Emily Mortimer) von den Nachbarn ihrer Mutter Edna (Robyn Nevin) besorgniserregende Nachrichten erhält, fährt sie prompt mit ihrer Tochter Sam (Bella Heathcote) in ihr altes Elternhaus: Edna sei nicht mehr ganz sie selbst. Nachdem sie vor wenigen Monaten beinahe einen fatalen Haushaltsunfall hatte, sei es kürzlich zudem zu einem weiteren schrägen Vorfall gekommen. Und nun ist sie auch noch spurlos verschwunden. Kay und Sam gehen schon vom Schlimmsten aus, als sie im Haus mitten im Wald ankommen. Tatsächlich finden sie es leer vor, Wände und Lebensmittel sind bereits von Schimmel befallen. Überall sind Notizzettel, teils mit simplen Alltagserinnerungen, teils mit ominösen Anweisungen. Als Edna plötzlich wieder auftaucht, voller blauer Flecken, von denen sie selber nichts zu wissen behauptet, überkommen Kay und Sam große Sorgen: Geht hier mehr vor als Demenz? Sie wissen nur eines: Edna braucht ihre Familie. Und zwar jetzt! Aber kann Edna das akzeptieren ..?


Wer bei Relic den Psychoterror von Hereditary erwartet oder geisterhaften Grusel, der nebenher auch das Thema Demenz behandelt, ist bei Relic an der falschen Stelle. Natalie Erika James verzichtet vollkommen auf Jumpscares, nennenswerte Gewaltausbrüche oder eine verschachtelte Mythologie. Es gilt keinen Fluch zu entschlüsseln, einen übernatürlichen Schurken zu bezwingen oder durch literweise Ekeleffekte zu waten. James stellt ihr Publikum nicht einmal vor ein verschachteltes Rätsel, sondern legt schon früh im Film inszenatorisch die Karten auf den Tisch: Ihr Film ist eine einzige, große (genreesk überspitzte) Analogie auf das Gefühl, seine (Groß-)Eltern beim Älterwerden zu erleben, und auf alle Gedanken und Gefühle, die damit einhergehen. 


Dadurch, dass James sämtlichen Plotmechanismen, die mit einer verkopften Verarbeitung dieses Themenkomplexes einhergehen würden, gar nicht erst anpackt, sondern früh und zielstrebig den Pfad einschlägt, assoziativ ihre Emotionen in bewegte Bilde zu kanalisieren, gibt es keine Nüsse zu knacken. Keine Ebenen kaputt zu analysieren, um Relic erst einmal auf den Grund zu gehen. So deutlich, wie Ednas Kondition ist, ist auch die Frage, worauf Relic hinausläuft. Und das ist hier durch und durch positiv gemeint. Es bahnt den Weg für eine herzlichere Geschichte. Und tiefer verborgene, existenziellere Befürchtungen.


James kreiert mit Relic eine sehr kunstvolle, berührende filmische Konfrontation mit dem Gespenst namens Altern, und die nachtschwarz-melancholische Weise, wie sie damit verbundene Ängste in Filmbilder und unerklärliche Geschehnisse überträgt, bohrt tiefere Löcher in die Seele als es die meisten Fließband-Geisterschocker tun. Zumal James die unmissverständliche Parabel, die sie erzählt, damit ausschmückt, dass sie den Grusel emotional nuanciert verankert.


Kay und Sam durchlaufen sowohl Ängste um Edna ("Was, wenn ihr was passiert?"), als auch Ängste vor Edna ("Was macht sie da nur?") und um/vor sich selbst ("Was, wenn ich auch so werde ... oder schon bin?"), die Emily Mortimer und Bella Heathcote gleichermaßen genregemäß (was diesem einfühlsamen Horrorfilm weiterhin eine beklemmende Grundstimmung verleiht) wie berührend-feingliedrig zur Schau stellen. James derweil beweist in Sachen Bildgestaltung, Kameraführung und (vor allem im Finale) zusammen mit ihrem Editing-Duo Denise Haratzis & Sean Lahiff im Schnitt schon bei ihrem Langfilmdebüt großes atmosphärisches Verständnis des Mediums, indem sie ein "irrationale Wahrheiten" visualisiert, also das Innenleben unmittelbar nach außen kehrende Bilder schafft.


Fazit: Relic ist waschechter Old-School-Grusel nach Schule des frühen, dunkelemotionalen Schauerkinos. Nichts für Fans des schnellen Schocks - und zugleich einer der betrüblich-schönsten Filme des Jahres.

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Hexen hexen

 Robert Zemeckis meldet sich zurück im Fach des Familiengrusels: Der Zurück in die Zukunft- und Falsches Spiel mit Roger Rabbit-Regisseur nähert sich nur selten dem schaurigen Fach, doch mit Der Tod steht ihr gut hat er einen der besten Filme aus der Sparte "Tim-Burton-Filme, die Tim Burton nie gemacht hat" abgeliefert, die es so zu finden gibt. Und auch wenn seine Weihnachtsgeschichte so ihre Makel hat (einige gar eklatante), so ist die Motion-Capturing-Tour-de-Force mit Jim Carrey reizend familienfreundlich-gruselig geraten. Insofern war ich vorfreudig-neugierig auf Zemeckis' Hexen hexen, die neuste Adaption der Roald-Dahl-Geschichte, die 1990 bereits von Nicolas Roeg (Wenn die Gondeln Trauer tragen) verfilmt wurde. 


Die Story dreht sich um einen Waisenjungen, der bei seiner liebevollen Großmutter lebt, die über großes Vorwissen über Hexen verfügt und ihren Schützling sofort in ein opulentes Seebad-Hotel verfrachtet, als sich abzeichnet, dass Hexen es auf ihn abgesehen haben. Denn Hexen greifen üblicherweise nur Kinder vom unteren Ende der Sozialleiter an - sie würden doch nie in ein Luxushotel gehen ... Aber ausgerechnet jetzt bittet die Hoch-Großmeisterhexe der Welt ihre Weggefährtinnen aus allen Teilen des Erdballs in genau dieses Hotel, um unter falscher Identität bei einem Kongress einen Plan zu schmieden, wie sie alle Kinder der Welt in Mäuse verwandeln und zerquetschen können ... 


Ich habe die Rezeption von Roegs Hexen hexen gespaltener in Erinnerung als sie nun mit einem Blick auf Aggregatorseiten wie Rottentomatoes wirkt: Mit Respekt für die praktischen Effekte, aber Verständnis für Roald Dahls überaus kritische Sicht auf den Film (vor allem auf sein gegenüber der Vorlage abgeschwächtem Ende) und viel Schulterzucken für Passagen, in denen Hexen hexen auf der Stelle tritt, schien mir die erste Adaption gemeinhin mehr als Film wahrgenommen, der zwar recht harsch für einen Kinderspaß war, aber erzählerisch halt dennoch unausgegoren ist. Doch der sehr positive Rottentomatoes-Konsens und die völlig aus dem Nichts gekommene, urplötzlich-unabdingbare Liebe für die erste Verfilmung, die nun aus den sozialen Netzwerken trieft, machen mir offensichtlich, dass ich da eher eine Minderheit als Teil der Mehrheit bin. 


Doch ich muss der aktuell so deutlichen Liebe für Hexen hexen von 1990 in einer Hinsicht deutlich widersprechen. Es geht um das Hexen-Make-up von Anjelica Huston.


Das Hexen-Make-up Hustons wird derzeit herumgereicht als strahlendes Beispiel dafür, was 1990 alles richtig war in Hollywood und was heute im auf Computereffekte setzenden Hollywood alles falsch liefe, denn Huston sei ja noch gruselig gewesen. Sagen zumeist Leute jenseits der 30 oder gar 40, die es vermissen, sich als Grundschulkind aufgrund von Bergen von Schminke zu ängstigen. Aber selbst ich als jemand, der einen gut gemachten, praktischen Effekt enorm zu schätzen weiß, würde dem entgegnen: Ja, Hustons Hexenform ist beeindruckende Handwerkskunst. Aber ich finde sie nicht mehr gruselig. Wenn ich sie mir als Erwachsener anschaue, sehe ich etwas, bei dem ich sofort an die Stunden an Arbeit denke, die da wohl reingeflossen sind. Ich respektiere diese Leistung sehr, doch sie ist zu sehr Hexen-Klischee-Abarbeiterei, als dass sie mir irgendeine Form von Schauer entlocken würde. Dafür ist es zu karikaturesk-grotesk. Und ich wage zu behaupten, dass es selbst der Kernzielgruppe des Films so heute in weiten Teilen geht, da entstellte, absurde Anblicke nunmehr in der Popkultur viel weiter verbreitet sind. Hässlich ist heute nicht mehr automatisch angsteinflößend.


Egal, wie viele die visuelle Grundentscheidung hinter Zemeckis' Hexen hexen hinterfragen, muss ich grundsätzlich sagen: Der Cast Away-Filmemacher verfolgt da einen guten Impuls, wenn er sich bei der Absurdität des Hexendesigns zurücknimmt. Anne Hathaway als Hexe lässt mir deutlich eher einen Schauer über den Rücken laufen, wenn ihre dezent zu großen Augen in die Kamera starren und sich ihr Lächeln langsam über die Breite dehnt, die ein Menschenlächeln haben dürfte. Die "Uncanny Valley" hat angerufen, eine ihrer Bewohnerinnen ist ausgebüxt ... 


Das Problem ist jedoch: Zemeckis weiß offenbar nicht, was er da an der Hand hat. Im fertigen Film enthüllt er Hathaways volle Hexenform viel zu früh, er zeigt mehrmals, wie sie mutiert und sofort wieder in menschliche Form zurück schwenkt und so den Schrecken wieder zurücknimmt. Er gewöhnt sein Publikum durch kleine, stetige Tropfen an das visuelle Grauen und Unwohlsein - und das ist symptomatisch für den kompletten Film. Zemeckis' Version ist auf dem Papier näher an der Buchvorlage und garstiger. Doch in der Umsetzung dämpft Zemeckis diese Härte, Schaurigkeit und Gemeinheit unentwegt dadurch ab, dass etwa einige besonders garstige Anblicke extrem cartoonig und schlacksig animiert sind. Oder aber der Schnitt konterkariert sie. Oder aber die in Mäuse verwandelten Kinder schneiden Grimassen, als stünden sie für ein DreamWorks-Animation-Poster Modell, was in seiner aggressiven "Bin ich nicht hip?"-Art allem kurz zuvor aufgebautem Flair die Fallhöhe nimmt. Ähnliches gilt für Alan Silvestris Score, bei dem auf jede Minute mit dunkler Märchenatmosphäre fünf Minuten kommen, die so klingen, als hätte Zemeckis ihm gesagt: "Hey, gib mir deine Avengers | Infinity War-Entwürfe, das kam doch gut an?!"


Dessen ungeachtet bleiben mir Chris Rocks sehr launigen (aber quantitativ etwas übertriebene) Erzählkommentare positiv in Erinnerung, das routiniert-warmherzige Spiel von Octavia Spencer als liebende Großmutter sowie natürlich Anne Hathaway, die ihre in Ocean's 8 und Glam Girls begonnene "Ich übertreibe maßlos und habe Spaß daran"-Saga mit ansteckender Freude fortführt. Leider reicht das nicht, um das (auch der Vorlage geschuldete) Auf-der-Stelle-treten abzuschütteln oder das Gefühl, Zemeckis hätte seinen eigenen Stoff nicht so ganz erfasst.


Aber: Hey, wenigstens bekommen wir den Film (kurzzeitig) im Kino zu sehen (anders als die USA), und für einen Kinonachmittag mit jüngeren Kindern, die sich gruseln wollen, ist dieser Hexen hexen noch immer annehmbares Herbstkino!