Samstag, 14. Mai 2011

Parlay

Welch' Überraschung, Spoiler erwarten euch auf dem Weg durch diesen Artikel... Selbst schuld, wer Am Ende der Welt noch nicht sah...

Es ist ein hübscher Running Gag seit dem Kinostart von Die Truhe des Todes: Wann immer jemand gegenüber den Autoren Ted Elliott und Terry Rossio erwähnt, dass die Pirates of the Caribbean-Reihe zu kompliziert und aufgeblasen wurde, und wie schade es sei, dass sie die Simplizität des so erfrischenden Fluch der Karibik verlor, weisen sie stets auf eine Sache hin. Nämlich, dass zu Folge der Kritiker schon Fluch der Karibik für simplen, spaßigen Piraten-Abenteuerfilm viel zu kompliziert gewesen sei - das Publikum aber verstand ihn, und kaum kam die Fortsetzung, erging es so auch den meisten Kritikern. Kaum kam Am Ende der Welt in die Kinos, verstanden natürlich alle die Handlung von Die Truhe des Todes, und es war auf einmal enttäuschend, dass ausgerechnet das Finale der Trilogie die Auflösung der spannenden Vorgänger in einem verwirrenden Haufen von Handlungsfäden versteckt. In Interviews wurde deswegen regelmäßig gescherzt, dass der beste Grund sei, einen vierten Teil zu drehen, dass danach jeder auch Am Ende der Welt leicht verständlich fände.

Da in wenigen Tagen mit Fremde Gezeiten auch endlich besagter vierter Teil in die Kinos kommt, läuft mir langsam die Zeit davon, mich als Wegweiser durch die grausamen Untiefen Am Ende der Welt zu profilieren, als jemand, der dem Irrsinn trotzt und sich in diesen Gewässern auskennt. In ein paar Wochen verstehen ja, sollte sich die Faustregel erneut bewahrheiten, ja auch der letzte Depp dieses epochale Abenteuer verstehen. Wen soll ich dann eigentlich hiermit beeindrucken?

Dabei ist es gar nicht so schwierig, sich durch das riesige Figuren-Repertoire und dem Wust an persönlichen Zielen, vorgetäuschten Interessen und heimlichen Plänen zu kämpfen. Man könnte es sich ja bereits allein dadurch einfach machen, dass man die irrationale Gier nach vollumpfänglichem Verständnis, den viele Erwachsene ausmacht, aufgibt, und nicht Szene um Szene, Dialogzeile um Dialogzeile mit einem inneren Notizblock jeder Figur hinterherrennt, um festzuhalten, was sie plant, welchen Ersatzplan sie in der Hinterhand hat, was sie vorgibt zu wollen, wann sie all diese Ideen austüftelte, warum sie will, was sie will, und wie sie sich wem gegenüber durchzusetzen versucht. Man kann sich ja bereits damit begnügen, zu verstehen, wer wichtig ist und welches Gesamtziel diese bedeutenden Personen aus Am Ende der Welt verfolgen. Die ganzen Zwischenschritte dienen der Überraschung, der Kreation einer komplexen fiktiven Welt und um beim wiederholten Anschauen weiter neue Dinge zu entdecken. Und sei es nur die erstaunte Erkenntnis: "Oh, hast du das gesehen, wie da bei ihm die Augen in die Ferne wandern? Da fasst er den Plan, dass er... also, wow, ha!"

Nun gut, nun gut... Versetzen wir uns trotzdem in jemanden, der sich völlig vom mit einer ausschweifenden Laufzeit, pompösen Produktionswerten und massenhaft piratigem Verrat gesegneten Am Ende der Welt überrannt fühlt. Es sei denn, ihr seid exakt so jemand; jemand, der auf diesem Artikel vor Anker gegangen ist, um sich nach all den Jahren vergebenen Nachgrübelns Am Ende der Welt erklären lassen wollte. Dann müsst ihr euch in niemanden hineinversetzen und könnt einfach so, ganz unvorbereitet, folgende Zeilen lesen:

Überall nur stinkige Piraten, jeder verfolgt sein eigenes Ziel. Ein Wahnsinniger löscht Heerscharen von Menschen aus, allein um den Gewinn zu maximieren. In eurer Nähe eine heidnische Göttin, die in menschliche Bande gefangen wurde und zwei aus dem Reich der Toten zurückgekehrte Piratenfürsten. Ein unmenschliches Wesen durchfährt die See, alles tötend, was seinen Weg kreuzt. Der Schmerz seiner verschmähten Liebe ließ ihn sein Herz rausschneiden und mit einem furchtbaren Fluch belegen, den bereits auf ihm liegendne Fluch verkomplizierend. Wer dieses Herz durchstößt, muss den Platz seines Besitzers einnehmen. In einer aus Schiffswracks gebauten Festung versuchten sich wilde Piraten in der Politik, viel Prügel und mindestens einen Toten später fanden sie ihren König in einer britischen Gouverneurstochter. In den Krieg wollen sie ziehen, nur unterschätzten sie die Anzahl ihrer Gegner. Euch schwirrt der Kopf, ihr werdet böse von euren Mitmenschen angestarrt, weil ihr ihnen nichts sagen könnt? Dann helft euch endlich aus dieser misslichen Lage, sprecht es aus... "Parlay!?"



Parlay, so schreibt sich im Pirates of the Caribbean-Universum das Parley-Recht, das im von Morgan und Bartholomew zusammengetragenen (zusammen getragenen?) Piratenkodex festgelegte Anrecht auf Verhandlungen unter Feinden. Dieses Verhandlungsrecht existierte wirklich unter den historischen Piraten, denn all dieses ruchlose Gesindel pochte tatsächlich auf so etwas wie eine Ganovenehre, gewisse Grundregeln für das gesetzlose Leben auf der hohen See. Parlay, das ist es, was Jack Sparrow vorschlägt, als den Piraten im Krieg zwischen der East India Trading Company und dem Hohen Rat der Bruderschaft das Wasser bis zum Halse steht. Sogar der gerissenste, trickendste und unberechenbarste aller Piraten muss diese letzte Karte ziehen, um Übersicht zu gewinnen und die verwirrende Situation neu zu überblicken. Doch vor allem, um sie neu zu gestalten. Parlay, das ist der Knotenpunkt Am Ende der Welt, die große Wende vor dem finalen Akt, dem alles entscheidenden Kampf in der ursprünglichen Pirates of the Caribbean-Trilogie. Parlay, das ist das letzte Rettungsseil für den verlorenen Zuschauer. Er mag nicht zwangsweise verstehen, wer wann wie beschlossen hat, was auf welche Weise zu erreichen, aber er sieht die handlungsrelevantesten Figuren, wie sie alle denken, ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen zu sein. Parlay, das ist, wie Gore Verbinski, Ted Elliott, Terry Rossio und Hans Zimmer einen Spaghettiwestern auf hoher See veranstalten, um aus der Kombination von Handlungs-Bestandaufnahme und Mündeweg in ein megalomanisches Actionstück eine ultracoole Kinosequenz zu erschaffen.

Sobald die Sequenz anfängt, komme ich aus einem überglücklichen Grinsen nicht mehr heraus. Es beginnt schon alleine beim Schauplatz der Verhandlungen zwischen den involvierten Parteien: Mitten auf hoher See liegt eine schmale Sandbank, perfekt für dramatische Kriegsverhandlungen zwischen versoffenen Piraten, einem schmierigen Helferlein, einem machthungrigen Lord und dem monströsen Herrscher über die Meere. Dass im malerisch türkisenen Ozean, in praktikabler Reichweite unserer Helden und Schurken, so ein Fleckchen Sand liegt, vollkommen unkommentiert, das zeugt von dieser beeindruckenden Selbstverständlichkeit, die Am Ende der Welt auslebt. Das moderne Piratenspektakel von Gore Verbinski, Jerry Bruckheimer und Disney wuchs im Laufe dreier Filme vom mit postmoderner Ironie, horrormäßigem Seemannsgarn und klassischem Swashbuckler-Feeling ausgestatteten Abenteuer zum bombastischen Seefahrtskriegsdrama mit Fantasy-Action und abstrus-subversivem Humor heran, das zwischen den Zeilen einer gewissen Traumlogik folgt. Natürlich liegt just neben der Schiffbruch Bay eine Sandbank im Meer, die allein schon anhand ihrer Präsenz zu Verhandlungen mit Netz, doppeltem Boden und dreifacher Täuschung verführt.



Aus Zuschauer-Sicht nimmt das Piratenspektakel in diesem Moment eine genretechnische Auszeit, wildert in Spaghettiwestern-Gefilden. Großartig fotografierte, mit toller Musik unterlegte Sergio-Leone-Hommagen sind eh stets gerne gesehen, hier schaltet sich für den Pirates of the Caribbean-Fan aber noch die Meta-Ebene ein. Das man sich vor dem Western-Maestro verneigt, ist zugleich höchst selbstreferentiell. Die kreativen Köpfe hinter der Filmreihe waren sich nämlich höchst einig, dass sie nicht einfach ein paar Piraten-Filme drehten, sondern diese Abenteuer auch viel vom Geiste anderer Genres hatten. Hans Zimme erklärte, dass die Art, wie Rebellion und die Wertschätzung von Freiheit und stolzen Schiffen in den Pirates of the Caribbean-Filmen viel von Rockern aus Bikerfilmen hat. Die Piraten seien alles Rockerbanden, die auf ihren Motorrädern durch die Welt pflügen. Von diesem Eindruck beeinflusst schuf Zimmer das rockige Kraken-Thema in Teil 2 der Reihe. Ein weiteres Genre, mit dem man Vergleiche zog, waren (Spaghetti-)Western, von denen Zimmer, Verbinski und die Autoren allesamt große Fans sind. Diese Parallelen beziehen sich vor allem auf die Schlüsselrolle von Barbossa und Jack Sparrow in der Pirates of the Caribbean-Trilogie. Wie die Autoren erklärten, sehen sie die zwei glorreichen Piratenkapitäne wie solch überhöhten Westernhelden wie Clint Eastwoods Mann ohne Namen. Sie streifen, halbgottgleich und unveränderlich, durch die Weltgeschichte, wobei sie die Schicksale aller Normalsterblichen, denen sie begegnen, auf den Kopf stellen. Jack Sparrow ist allen anderen zwei Schritte voraus, wirbelt Staub auf, bleibt beharrlich auf seinem (selbst erschaffenen) Olymp, während durch ihn ein Waffenschmied den Respekt gewinnt, um die Gouverneurstochter heiraten zu dürfen. Sein Handeln ist es auch, der ihn mit seinem zweimal verfluchten Piratenvater bekannt macht und zum verdammten Kapitän der Flying Dutchman macht, er ist es, der besagte Gouverneurstochter Mitten in einen Krieg zwischen gierigen Wirtschaftsmächten und gröhlenden Piraten zieht, und, und, und... Aber Jack selbst, er will doch einfach nur seine Freiheit. Und Rum. In den Fortsetzungen hielt ein weiterer typischer Western-Aspekt Einzug: Die Betrachtungsweise, dass Modernisierung unseren famosen Abenteuerhelden die Existenzgrundlage entzieht. Der Kampf der Revolverhelden gegen das alltägliche, mit welchen Tricks die Filme den Betrachter in eine verbotene Welt entführen... So wie George Lucas einige Western-Gene in Star Wars sieht, sah Verbinski auch in Pirates of the Caribbean-Westernanteile.

Eben diese Westernanteile werden durch Parlay bis auf's äußerste ausgereizt, gleichzeitig augenzwinkernd, wie ernsthaftig verdeutlicht. Mit Parlay lädt die Mannschaft hinter Pirates of the Caribbean das Publikum dazu ein, diese Filme aus ihrer Perspektive zu bestaunen. Die lange Kamerafahrt längst der Sandbank, der Schnitt, wie die auf Will Turner, Beckett und Davy Jones zulaufende Partei um Jack Sparrow, Elizabeth und Barbossa durch den Sand schreitet, die ernsten Blicke in engen Closeups, die Farbsättigung... alles wie aus einem Sergio-Leone-Western. Der Gedanke hinter den Figuren und die tatsächliche Umsetzung nehmen eine einheitliche Form an, nun sind sie wirklich über dem Normalbürger stehende, in stolzen Schritten unbeirrbar ihren Weg gehende, gottesgleiche Westernhelden, die durch ihr Handeln das Schicksal verändern können.


Perfektioniert wird diese Verschmelzung von Piratenabenteuer und Western durch Hans Zimmers Begleitmusik. Die Instrumentierung stellt Parlay als offensichtliche Hommage an den begnadeten Filmkomponisten Ennio Morricone dar, speziell auf das legendäre Western-Thema Man with a Harmonica. Wer sich davon aber nicht beirren lässt, sondern auch auf die gespielten Melodien achtet, wird erkennen, dass die schneidende Mundharmonika und die dumpf dahinklampfende E-Gitarre (gespielt von niemand geringerem als Gore Verbinski) das Liebesthema aus Am Ende der Welt spielen. Die im Hintergrund der Western-Instrumente für ordentlich Dramatik sorgenden Streicher spielen indes mit beängstigender Präzision das Leitmotiv von Lord Cutler Beckett. Zwei aus dem Film bereits bestens bekannte Themen, jeweils stellvertretend für eine der beiden Seiten im anstehenden Konflikt, vereinen sich für die große Verhandlungssequenz zu einer Verneigung vor dem Genre des Spaghettiwesterns. Und da soll nochmal irgendein Banause daherkommen und Hans Zimmers Musik als anspruchslos beschimpfen...

Als Hans Zimmers Parlay langsam ausklingt, stehen sie sich dann endlich gegenüber, die sechs großen Handlungsträger von Am Ende der Welt. Diese Strippenzieher von variierender Expertise sind es, deren Ziele der Zuschauer zu verfolgen hat, ihre Entscheidungen sind es, von denen das weitere Schicksal des Pirates of the Caribbean-Universums abhängig sind. Sie sind die Könige in einem komplexen Schachspiel - nach außen hin lassen sie sich jeweils einer von zwei Parteien zuordnen, doch in Wahrheit verfolgen sie alle ihre eigene Intention. Parlay ist der Moment, in dem sich diese Handlungsfäden verknüpfen, in denen jede dieser Figuren für ihre eigenen Absicht kämpft und, sich als vermeintlichen Gewinner fühlend, ihren Handlungsfaden wieder getrennt ins große Finale der Trilogie trägt.



Schon in Die Truhe des Todes gab es einen Moment, in dem drei wichtige Handlungsfäden zusammentrafen. Auf der Isla Cruces übernahm der griechische Chor in Form von Pintel und Ragetti die Erklärungsfunktion - es war eine offensichtliche Hilfestellung an die verlorene Zuschauerschaft, jedoch in sich derart selbstironisch, dass ich sie äußerst vergnüglich statt penetrant fand. Parlay ist dennoch um einige Klassen besser: Parlay ist keine eingeschobene Erklärung, sondern eine dramaturgisch unvermeidliche Passage auf dem Weg zum kämpferischen Finale dieses Piratenepos. Parlay bietet naturgemäß eine Übersicht für den verworrenen Betrachter, zeigt noch mal auf, auf welche Figuren besonders geachtet werden muss, was ihre grundlegenden Vorhaben sind. Gleichzeitig bleibt Parlay für eine Sequenz eines Sommerblockbusters komplex, lässt Überlegungen der Figuren im halbdunkeln. Dies hebt Am Ende der Welt über den üblichen Big-Budget-Actioner hinaus, wo die Figuren so durchsichtig wie Klarsichtfolie sind - und es ist elementarer Teil der von Ted Elliott und Terry Rossio so häufig beschworenen „Weltenbildung“: Fans sollen diskutieren, wer wann genau wie seinen Plan geschmiedet hat. Parlay tänzelt auf dem schmalen Draht zwischen „der Handlung folgen können“ und „nicht alles komplett ohne Aufwand verstehen können“, der so reizvoll ist und den Zuschauer in seine kindliche Medienrezeption zurückführt, wo man nur verstehen wollte, was passiert. Und nicht sauer war, wenn ein halbes Dutzend irrelevanter (doch spannender) Fragen einen verführerisch anblicken.

Umso ärgerlicher, dass ausgerechnet die nach mehr Substanz in Sommerfilmen schreienden Kritiker Am Ende der Welt vorwarfen, er ist kein Stück weit nachvollziehbar. Wenn man wenigstens während Parlay aufhört darüber nachzugrübeln, ob es eine kluge Idee war, gesalzenes Popcorn zu bestellen, kann man sehr wohl den sechs Handlungssträngen problemlos folgen. Oder? Gehen wir einfach mal die sechs Verhandlungspartner durch und urteilen selbst:

Barbossa traf eine Vereinbarung mit der Göttin Calypso, sie von ihrem menschlichen Bande zu befreien. Dies kommt dem das Piratenleben wertschätzenden, aus dem Reich der Toten zurückgekehrten Piratenkapitän sehr recht, da er hofft, den machthungrigen Beckett und seine Mannen der East India Trading Company mit Calypsos Hilfe wieder in ihre Schranken zu weisen. Um diesen Plan zur Fruchtung zu bringen, benötigt Barbossa Jack Sparrow, dessen Realis-Silbermünze er noch nicht einsammeln konnte, welche für die Beschwörung Calypsos notwendig ist.

Will Turner trat die Reise auf den Grund des Meeres an, um nicht etwa Jack Sparrow von ihn erwartenden, ewigen Qualen zu erlösen, sondern um seine kostbare Black Pearl zu bergen. Er hoffte, dass er mit der Black Pearl Davy Jones bezwingen kann, um so seinen verfluchten Vater Stiefelriemen Bill von seinem Dienst an der Flying Dutchman zu befreien. Da allerdings derjenige, der Davy Jones' Herz durchsticht an seine Stelle treten muss, würde die Befreiung seines Vaters ihn von seiner Verlobten Elizabeth trennen. Deshalb machte er einen Deal mit Jack Sparrow, dass sie beide es so einfädeln, dass dieser für Will einen Dolch durch das Herz Davy Jones' treibt.

Elizabeths Mission war bereits erfüllt, als sie Jack (verhältnismäßig) wohlbehalten in Davy Jones verfluchtem Reich gegenüberstand und sie so ihr Gewissen von ihrem tödlichen Verrat reinwaschen konnte. Allerdings erfuhr sie noch bevor sie wieder ins Diesseits zurückkehren konnte, dass ihr Vater durch Becketts Machenschaften das zeitliche segnete. Seither sinnt sie nach Rache, und die erhält sie nur, wenn die Piraten sich gegen die East India Trading Company im Kampf vereinen. Während der Parlay-Verhandlungen möchte sie Will auch davon abhalten, sich selbst für die Befreiung seines Vaters einzusetzen, da sie von Stiefelriemen Bill erfuhr, welches Schicksal ihn erwarten würde. Außerdem ist sie das jüngste Mitglied in der Gesellschaft für ausgefallene Seefahrerhüte und möchte das allen Anwesenden demonstrieren.

Cutler Beckett ist davon besessen, die Piraterie komplett auszulöschen. Er behauptet, es ginge ihm dabei nur ums Geschäft, andere sehen in seinem Handeln eine manische Kompensierung körperlicher Makel oder auch schlicht die Gier nach Macht. Er ist im Besitz von Davy Jones' Herz und befehligt ihm deswegen, auf den sieben Weltmeeren ein Massaker anzurichten. Um seinem Ziel näher zu kommen, hat er des Weiteren ein Abkommen mit Jack Sparrow, der ihm den Hohen Rat der Bruderschaft ausliefern soll. Als Belohnung soll Jack Sparrow angeblich von Beckett verschont bleiben, jedoch steht Beckett den piratigsten Piraten in Sachen Hinterhältigkeit in Nichts nach. Er ist eigentlich sogar noch schlimmer, da für ihn der Piraten-Kodex nicht Gesetz ist.

Jack Sparrow hat offenbar irgendwas zwischen den Zähnen, was ihm vielleicht auch seinen üblen Mundgeruch verschafft, den er ja bekanntlich dann und wann als Waffe einsetzt. Bei den großen Parlay-Verhandlungen geht es ihm darum, irgendwie auf Davy Jones' Schiff zu kommen, um so den tentakligen Käpt'n der Flying Dutchman umzulegen. Danach wäre Wills Piratenvater von seiner Schuld an Jones befreit, der gute Welpe kann mit seiner Zuckerschnute herumhängen und Jack würde bekannt als "der unsterbliche Captain Jack Sparrow", auf ewig frei zu tun, was auch immer er zu tun gedenkt. Er lieferte Beckett den Hohen Rat der Bruderschaft aus, indem er Will als verräterisches Helferlein nutzte, dies jedoch nicht ohne Hintergedanken. Wie edel oder egoistisch diese sind, liegt wohl im Auge des Betrachters: Der torkelnde Strippenzieher konnte so seinen Austausch an Bord der Flying Dutchman in die Wege leiten, was vor allem ihm zu gute kommt. Jedoch zeigt Sparrow auch große Initiative, Beckett auszuschalten. Ob er das einfach so als kleines Geschenk hinnimmt oder es stets sein großer Plan war, das weiß vielleicht nicht einmal er selbst. Bedenkt man Jacks Persönlichkeit, ist wohl einzig und allein sicher, dass er den Deal mit Beckett garantiert nicht einging, um tatsächlich alle anderen Piraten auszulöschen.

Davy Jones, letztendlich, erfuhr, dass Jack Sparrow vom höllengleichen Grund des Meeres befreit wurde - und er somit, je nach Standpunkt, seine Schuld bei ihm nicht beglichen hat. Deswegen fordert er ein, dass Sparrow an Bord der Dutchman kommt, um so seinen Dienst anzutreten. Seine Knechtschaft als Becketts diabolische Promenadenmischung macht Jones zu schaffen, und er wartet sehnlich auf den rechten Augenblick, sich gegen seine Herren aufzulehnen. Ihm kam dank Will Turner zu Ohren, dass der Hohe Rat vorhat, seine einstige Geliebte Calypso zu befreien. Er reagierte geschockt auf diese Information, bezeichnete es als Fehler, die unberechenbare Meeresgöttin aus ihren menschlichen Banden zu lösen. Während der Tagung des Hohen Rats traf er sie wieder, und dieses Wiedersehen war ein Musterbeispiel für ambivalente Gefühlslagen. Dass sie ihn nicht so liebt, wie er es begehrt, erzürnte ihn, dennoch behauptet er, sie ewiglich zu lieben. Aber all dies ist nur von geringer Relevanz. Hauptsächlich geht es Davy Jones während der Parlay-Verhandlungen darum, möglichst viel Würde auszustrahlen, und über den peinlichen Wasserzuber hinwegzutäuschen, in dem er sich aufgrund seines Fluchs aufhalten muss.

Davy Jones ist von allen Parteien derjenige, der sein Hauptziel mit den geringsten Problemen erreicht. Wirklich niemand wagt es, den gedemütigten Meeresteufel auf seinen Zuber anzusprechen, noch immer verbreitet er Angst, Schrecken und Ehrfurcht. Aber auch alle anderen Verhandlungspartner sehen sich als Gewinner - und der Zuschauer weiß endlich, wer woran ist. Parlay ist ein Moment der Offensichtlichkeit, und dennoch voller Unklarheiten. Wieviel geplant ist, was glückliche Zufälle oder Improvisationen sind, darüber ist sich niemand im Klaren. Diese Ambiguität passt perfekt zu der Traumlogik von Am Ende der Welt, die den Film zwar nie in eine reine, surreale Bilderabfolge abrutschen lässt, dennoch etwas unwirkliches und extremes an sich hat. Am Ende der Welt ist in seiner Grundstimmung konkret, und dann doch irgendwie eben nicht.

Für manche ist exakt dies das Problem mit Am Ende der Welt, andere behaupten den Film auf eine Weise gesehen zu haben, die nicht ist und wieder andere... für die bedeutet Parlay schlicht einfach nur eine vor Atmosphäre und Intensität überquillende, saucoole Dialogsequenz. Es ist einer der Momente, auf denen die Autoren Ted Elliott und Terry Rossio besonders stolz sind, da ihrer Meinung nach während ihr spürbar wird, was alles an Kraft und Engagement in diesen sechs Schicksalen der teilhabenden Figuren liegt. Ich würde ihnen zustimmen - Gore Verbinskis atmosphärische Inszenierung, Hans Zimmers so simpel klingendes, in Wahrheit jedoch minutiös durchdachtes Musikstück und die vor Spielfreude überquillenden Darstellungen (vor allem von Johnny Depp und Bill Nighy) machen Parlay zu einer dieser Sequenzen, wegen derer ich Am Ende der Welt nicht oft genug sehen kann. Es ist eigentlich nur eine simple Dialogsequenz, in der Verhandlungen stattfinden. Keine von heutiger, gesellschaftspolitischer Relevanz, keine die eine Pointe nach der anderen nachlegen. Und dennoch, es ist so viel Schaffensfreude an ihr, so viel mehr Gehalt in ihr, als man von einem Abenteuerfilm erwarten dürfte, dass ich aus dem vergnügten Grinsen nicht herauskomme.

Und wenn Ted Elliott und Terry Rossio richtig liegen, dann werden mich und all jene, die Am Ende der Welt als ihren Lieblingsteil der PotC-Reihe bezeichnen, in den kommenden Tagen immer mehr Leute verstehen. Und wenn nicht... dann lenken wir uns halt mit Gesprächen über Fremde Gezeiten ab.

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Mittwoch, 11. Mai 2011

"Geduld, Jungs! Was lange währt, wird endlich gut!" - Die Höhen und Tiefen von Rapunzel

In meiner Vorabkritik warnte ich ja bereits: Nach einem Jahrzehnt Wartezeit wirkten störende Kleinigkeiten in Rapunzel auf mich wie Dornen im Auge. Und dennoch habe ich den Film vom Herzen geliebt. Mit jeder Stunde nach dem Kinobesuch immer mehr. Ein für mich nicht ungewohnter Prozess, auch Küss den Frosch wirkte in den ersten Stunden sehr toll, aber "befremdlich", da unbekant.

Mittlerweile habe ich Rapunzel fünf Mal im Kino gesehen, und er hat mir von Mal zu Mal immer besser gefallen, weil sich seine Stärken bewähren und man dem Film wirklich anmerkt, mit welcher Hingabe er produziert wurde, wie viel Gedanken und Herzblut in seine Entstehung flossen.
Das neuste Disney-Märchen ist kein Neuankömmling im Meisterwerke-Kanon mehr, sondern in ihn integriert, ich habe ihn nun öfter gesehen, als manche meiner am wenigsten gemochten Disney-Trickfilme aus den Hauptstudios. Der "Das kenn' ich nicht, das mag' ich nicht!"-Gedanke kann nicht weiterhin greifen. Somit lässt er sich endlich meinem Fanherzen angemessen beurteilen. Und wie bei Küss den Frosch möchte ich dies zum Anlass nehmen, euch an dieser Stelle meine Glanzpunkte aus dem wundervollen Disney-Meisterwerk Rapunzel zu präsentieren, ebenso wie die Dinge, die mir am wenigsten an ihm gefielen. Aufgrund der Bildgewalt und emotionalen Bedeutung von Rapunzel sah ich mich gezwungen, mich in aller Ruhe, sehr ausführlich mit diesem Artikel zu beschäftigen. Deshalb die Veröffentlichung so lange nach Kinostart. Aber hey, jetzt sind die DVD und Blu-ray raus, also passt's wieder!

Die zehn strahlendsten Glanzpunkte von Rapunzel:
1) Die atemberaubende, malerische und anmutige visuelle Komponente

Wenn das beste an einem Film die Optik ist, dann impliziert das üblicherweise, dass er inhaltlich enttäuscht. Wieso sonst sollte man die Verpackung über den Inhalt stellen? Nicht so bei Rapunzel! Hübsche Bilder allein hätten mich nach fast einem Jahrzehnt gebangten Wartens betrübt zurückgelassen. Inhaltlich ist Rapunzel wirklich gelungen, und ich werde nachfolgend in dieser Liste noch darauf eingehen. Dass ich die visuelle Komponente trotzdem an erste Stelle setze, liegt daran, dass Rapunzel in diesem Bereich schlicht am strahlendsten glänzt und die Konkurrenz geradeheraus deklassiert.
Ich könnte fast schon eine Hitliste allein über den Look von Rapunzel erstellen, allerdings wäre mir das viel zu anstrengend, da ich mich entscheiden müsste, wie die Rangfolge auszusehen hätte. Und das fällt mir ziemlich schwer, da mir sämtliche Komponenten ungeheuerlich gefallen. Deswegen lässt auch die erstaunliche Wirkung der Filmoptik bei mir selbst nach fünf Kinobesuchen nicht nach, denn nachdem ich zuerst vom Gesamteindruck überwältigt wurde, sind es jetzt all die Kleinigkeiten und weniger auffälligen Elemente, die mir wieder ein fröhliches Lächeln entlocken.
Generell ist Rapunzel einfach ein Film, der wunderschön anzuschauen ist. Die Hintergründe haben eine weitreichende Bildtiefe und zahllose Details, das Design ist liebevoll und zeigt eine märchenhaft idealisierte Welt mit Bilderbuch-Bauten und Waldlandschaften, in denen man sisich verlaufen möchte. Das Figurendesign überträgt den archetypischen Disneystil perfekt in die plastische Welt der Computeranimation. Selbiges gilt für die Animation: Die Figuren bewegen sich mit einer Dynamik und Flexibilität, wie man sie sonst fast ausschließlich aus den besten Zeichentrickfilmen kennt, gleichzeitig haben sie die Dimensionalität und greifbare Plasitizität, wie sie nur der Computer bieten kann. Am besten zeigt sich diese Ehe des besten aus beiden Trickwelten in Rapunzels Haaren, die gleichermaßen real wie (im mehrfachen Sinne des Wortes) übernatürlich wirken. Und ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass Kleidung bis dato noch nie am Computer animiert (und gerendert) wurde, als in Rapunzel. Ob Mutter Gothels samtig-seiden glänzendes, sich in ihren theatralischen Gesten wiegendes Kleid, ihr Boshaftigkeit ausschreiender Mantel oder Rapunzels vor unaufdringlichen Details sprießendes, anmutiges Kleidchen, es sieht alles so echt aus, dass man es anfassen und aus nähster Nähe bestaunen möchte. Alternativ tun es natürlich auch diese detaillierten Kostümanalysen.

Der unbesungene Glanzpunkt in all der Schönheit von Rapunzel ist aber... die Beleuchtung! Der Licht- und Schattenwurf in Rapunzel gibt dem Bild nicht nur seine Tiefe, sondern setzt das bereits eh schon fantastisch gelungene Rendering auch so in Szene, dass der Film überhaupt nichts vom Plastiklook solcher Filme wie Triff die Robinsons hat. Zu Gunsten des an Disney-Zeichentrickfilme angelehnten Bewegungsflusses hat man in der endgültigen Version von Rapunzel zwar darauf verzichtet, voll und ganz auf den Fraggonard-Ölgemälde-Effekt zu setzen, die Grundidee kann man in den mehr auf Ästhetik, denn auf Photorealismus setzenden Oberflächen noch immer spüren. Hie sind die Details akribisch ausgearbeitet, dort ansprechend verwaschen. Im Zusammenspiel mit dem Figurendesign und der plastischen Ausleuchtung ergibt dies ein Gesamtbild, dass die Illusion vollstens aufleben und den Zuschauer die reale Außenwelt vergessen lässt. Dadurch wirkt Rapunzel letztlich echter, als Zemeckis Motion-Capturing-Filme mit ihren an der Feinarbeit krankendem Photorealismus.
Farbdesign und Lichtdramaturgie pfeifen in Rapunzel eh vollkommen auf die Gesetze der Realität. Ist es euch aufgefallen, dass es in sehr vielen Disneyfilmen pünktlich zum Showdown regnet, im Idealfall auch blitzt und donnert? Rapunzel nimmt dieses Stilmittel und macht es sich vollkommen selbstbewusst zu eigen. Die Licht- und Effektabteilungen kreierten in Rapunzel eine voll und ganz der Filmdramaturgie hörige Umwelt, die den selben Wald entweder märchenhaft saftig-grün, emotional zerrüttet blau-grün oder unheimlich blass-giftgrün erscheinen lässt. Manchmal sind die Wechsel fließend, ohne jemals albern rasant zu wirken. Noch deutlicher als in den schwelgerischen Waldsequenzen wird die emotionale Wirkung der digitalen Beleuchtung wohl in Rapunzels Turm: Als sie mit ihrem Leben im Turm glücklich ist, ist er sonnig ausgeleuchtet - wenn man jemals an einem Ort für achtzehn Jahre von der Außenwelt abgeschottet wird, dann bitte an diesem (mit Claire Keanes wunderschönen Hintergrundmalereien). Als sie den Turm verlassen hat und Gothel dahinterkommt, wirkt der Turm kalt, finster und leblos. Dadurch erhöht sich die Brenzligkeit der Situation, die emotionale Wirkung der Szene - und es suggeriert, dass Rapunzel selbst es war, die Licht in ihr Lebensumfeld brachte. Die Lichtverhältnisse in Rapunzel sind wirklich überdramatisiert, fast ins Extreme gezogen, aber durch die gelungenen Figuren und das straffe Tempo des Films, kann sich diese Lichtarbeit nie in den Vordergrund der Aufmerksamkeit drängen. Und so lenkt es nicht etwa ab oder wirkt aufgesetzt, sondern sorgt für atemberaubende Aufnahmen und unterstreicht den märchenhaften, zelebrierenden Charakter des Films.

2) Rapunzel

Als eingeschworener Disney-Fan kommt man ja kaum umhin, auch die Märchen-Trickfilme des Studios zu lieben. Und auch wenn ich mich zur nicht gerade kleinen Gruppe zähle, die Pinocchio eher als Walt Disneys handwerkliche und künstlerische Reifwerdung betrachtet, als Schneewittchen und die sieben Zwerge, so habe auch ich mich natürlich in die Disney-Märchen vernarrt. Doch so weit mein Respekt und meine Liebe für diese Filme auch reichen mag, die Disney-Prinzessinnen haben trotzdem bei mir nicht zwangsweise einen leichten Stand.
Soll zum Beispiel bedeuten: Die für Disney-Prinzessinnen so charakteristisch dahingeträllerten Lieder darüber, was sie sich im Leben wünschen und dass sie ihren Prinzen seit dem ersten Blick (oder sogar schon seit einem Traum vor der ersten Begegnung) inniglich lieben werden... Die treffen meinen Musikgeschmack eher peripher. Das am besten platzierte Prinzessinnenlied in meiner Hitliste Musikalisches Immergrün war Die Schöne und das Biest auf Platz 18. Und das ist bereits diskutabel, schließlich singt dieses List eine Teekanne, und keine (künftige) Prinzessin. Aber gut, gönnen wir den Disney-Krönchenträgerinnen diesen Eintrag, den viele der populärsten Lieder dieser Gattung reihen sich bei mir (viel) weiter hinten ein. Und dann ist da generell die Frage der Popularität dieser Figuren. Ja, ich liebe ihre Filme, aber das bedeutet bei weitem nicht, dass Rapunzels Vorgängerinnen auch nur irgendwie in die Rangliste meiner liebsten Disney-Figuren kommen.
Damit scheine ich allerdings recht alleine zu sein, bedenkt man mal, wie viel Kohle der Disney-Konzern seit einigen Jahren mit der Vermarktung seiner Prinzessinnen scheffelt. Die einzige Erklärung, die ich für mich persönlich finden kann, um dieses Phänomen auch nur irgendwie zu umfassen: Kleine Mädchen sind hohl und unfassbar simpel gestrickt. Denen ist es piepsegal, wie Schneewittchen, Belle oder Aurora so als Figuren gestrickt sind... Sie wollen zum Beispiel innerhalb der Tore eines Disneyparks in deren Kleidchen rumlaufen, schlicht und einfach, weil es halt Prinzessinnen sind. Da nimmt man halt das Kleid in seiner Lieblingsfarbe und fertig ist die Geschichte. Okay, okay, vielleicht war das "hohl" was provokant formuliert, es ist ja schon legitim, sich ein schönes Kleid kaufen zu lassen, völlig gleich, welche Figur dieses Kleid sonst so trägt. Dass aber dann solche Mädchen sagen, dass sie "Cinderella auch ganz toll finden und auch mal so sein wollen wie sie", macht mich dann doch etwas stutzig. Als ausgebildete Persönlichkeiten oder einfach nur interessante, spannende oder zur Identifikation nützliche Figuren taugen die meisten Disney-Prinzessinnen nämlich keinen Deut.
Nehmen wir mal Schneewittchen: Was wissen wir über ihre Persönlichkeit? Hm, was hat sie in ihrem Film schon groß getan, außer in einen Apfel zu beißen, dem einen eine gruselige alte Vettel so andrehen will? Nun, nachdem sie um ihr Leben fliehen musste, kommt sie im Haus der Zwerge unter. Und statt sich darüber zu freuen, endlich sicher zu sein, und keine weiteren Ansprüche zu stellen, motzt sie herum, wie dreckig und unaufgeräumt die Bude doch sei. Explizit gesagt: Sie ist eine pedantische Zicke mit Sauberkeitswahn. Und nicht nur das: Statt selbst dafür zu sorgen, dass ihr Zufluchtsort ihren hohen Ansprüchen genügt... Zwingt sie mit ihrem quietschigen Gesang unschuldige Waldtiere, mit ihr aufzuräumen. Na, halleluja. Oder was wissen wir über Auroras Persönlichkeit? Hm... Nichts. Mir fällt zumindest kein wirklicher Charakterzug ein. Seit Arielle, die Meerjungfrau ist das Ganze zwar etwas besser geworden, aber Jasmin bleibt immernoch eine viel (an Aladdin) herum meckernde Zimtzicke (besonders in den Fortsetzungen und der Serie) und wie selbstständig und aufgeweckt Arielle nun wirklich ist, darüber könnte man ebenfalls debattieren, wenn man denn möchte. Tiana war da schon was bodenständiger und schafft es im Laufe des Films sogar, ihren Arbeitswahn runterzuschrauben, aber wie ihr anhand des mangelnden Eintrags über sie in meinen Tops und Flops aus Küss den Frosch ablesen könnt, hat sie mich auch nicht vollkommen umgehauen.

Auftritt Rapunzel: Endlich mal eine voll ausgerundete, durchdachte und gleichermaßen märchenhaft-idealisierte, wie bodenständig-glaubwürdige Disney-Märchenprinzessin! Von mir aus dürfen die Fans von Arielle die rothaarige Meerjungfrau gerne weiter in ihr Herz einschließen, ihr Vater-Konflikt war ja gut ausgearbeitet, aber insgesamt finde ich Rapunzel nochmal um einiges realer. Und während sich Arielle nach, was, zweieinhalb Sekunden in Erik verliebt, entwickelt sich Blondies Beziehung zu Flynn in einem viel nachvollziehbareren Tempo.
Aber der Reihe nach: Ich muss zugeben, dass sich bei der Bewertung der Persönlichkeit von Rapunzel in meinem Fall Sympathie und bemühte, objektive Ansichten ineinander verzahnen. Finde ich sie sympatischer, weil sie menschlicher, mehrdimensionaler ist, oder sehe ich ihre verborgenen Seiten, weil ich mich aufgrund der Sympathie zu dieser Figur verstärkt auf ihre Darstellung konzentriere? Nun, man muss ja schonmal einsehen, dass Rapunzel einen bedeutsameren Part in ihrem Film einnimmt, als ihre Vorgängerinnen. Schon ulkig, dass das Kino-Marketing sie zum Sidekick für Flynn degradieren wollte... Schneewittchen stand in achter Reihe hinter den sieben Zwergen, die Konzentration auf Cinderella wurde von ihren tierischen Freunden gestört, Dornröschen war im Grunde genommen nichts anderes als ein früher Vorgänger des Konzepts von Rosencrantz and Guildenstern Are Dead und Wicked, indem dieser Film das Märchen aus der Perspektive dreier guter Feen erzählte, Arielle wurde von einer jamaikanischen Krabbe und einer Meereshexe an die Wand gesungen, Jasmin schaffte es nichtmal in den Titel (ähem... schwaches Argument) und musste obendrein hinter Aladdin stehen, der in der Zuschauerrezeption noch hinter dem Dschinni stand... Nur Belle, vor Rapunzel die sympatischste und mehrdimensionalste Disney-Prinzessin, hatte richtigen Freiraum. Aber in Rapunzel lebt der gesamte Film von der Persönlichkeit der zentralen Figur. Sie ist die Antriebsfeder der Handlung und zeigt viel mehr Initiative als ihre Märchenvorgängerinnen - wenn da die Persönlichkeit so flach wie dein Bogen Papier ist, fällt die gesamte Dramaturgie in sich zusammen.

Und so kommt es, dass sich die Disney-Studios in der Gestaltung Rapunzels von ihrer arbeitsamsten Seite zeigten. Was zeichnet das in Gefangenschaft aufgewachsene Blondchen nicht alles aus? Das Eröffnungslied und die begleitende Sequenz geben bereits einen erschöpfenden Einblick: Rapunzel ist (nicht zuletzt von ihrer Lebenssituation bedingt) vielseitig interessierte sowie talentierte junge Frau, die die Welt kennenlernen will, statt einfach einen Prinzen zu heiraten und von einem ihr unbemerkten gesellschaftlichen Korsett erdrückt einen Ball nach dem anderen zu besuchen. Sie ist eine kleine Leseratte, versinkt aber nicht völlig in ihren Büchern, sondern ist auch kreativ tätig und genießt es auch mit ihrem Freund pascal rumzutoben. Trotzdem vermieden es Autor Dan Fogelman und das restliche Storyteam, sie zur reinen, perfekten "Mary Sue" zu machen. Rapunzel ist leicht beeinflussbar, was unterhaltsam und dennoch nachdrücklich in den Mutter weiß mehr-Sequenzen vorgeführt wird und sie zeigt auch ein äußerst wechselhaftes Gemüt, als sie endlich ihren lebenslangen Traum anpackt und den Turm verlässt. Der emotionale Krieg mit sich selbst war für mich bei jeder Rapunzel-Sichtung ein herzhafter Lacher (wüsste nicht, welche Kanon-Prinzessin das je hingekriegt hat... und Rapunzel hat gleich mehrere davon!) und das nicht zuletzt auch, weil es so lebensnah und nachvollziehbar rüberkam. Und im restlichen Film zeigt Rapunzel auch noch, dass sie es faustdick hinter den Ohren hat. Mehr als einmal rettet sie Flynn aus einer misslichen Lage, trotzdem ist sie nicht die Über-Frau und so bekommt auch Flynn seine heldenhaften Momente.

Tja, und dann halt noch, wie gesagt, der gesamte romantische Plot. Bis einschließlich Arielle verfolgte Disney bei seinen Prinzessinnen immer dieses alte Märchen-Schema der erträumten Liebe, was zwar nicht hindert, schöne Geschichten zu erzählen, der Charakterentwicklung allerdings immer etwas im Wege stand. Jasmin und Tiana brauchten schon ihre Momenten, aber bei Jasmin fand ich das Hick-Hack um die Lüge immer ein winzig kleines bisschen was aufgebauscht (hey, er dürfte dir eigentlich nichtmal gegenüberstehen...) und bei Tiana und Naveen kommt nach dem anfänglichen Gezoffe und Naveens schrittweiser Annäherung an Tiana ihr Umdenken was plötzlich, so als müsste der Film halt vorankommen. Aber Rapunzel und Flynn... nicht nur, dass sich auf der narrativen Ebene mal was Zeit genommen wird, auch die Animatoren haben eine kleine Meisterleistung vollbracht. In den längeren Dialogen zwischen Rapunzel und Flynn sieht man regelrecht, wie es in den Köpfen der beiden langsam, aber beständig rattert und sie während eines Gesprächs oder eines stillen Moments kurz innerlich einen Schritt zurück machen und ihre Gefühle füreinander entdecken. Es sind diese unterdrückten Schmunzler, die sachte aufleuchtenden Augen, die diese Romanze für die Verhältnisse eines Disney-Märchenmusical besonders real machen, ohne den verzaubert-kitschigen Eskapismus, den diese traumhaften Filme bieten wollen, zu untergraben.

Überhaupt ist Rapunzel fantastisch animiert, nicht nur in diesen Momenten. Aber wie herausragend die Figurenanimation in Rapunzel ist, habe ich ja bereits angerissen. Dennoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass ich öfter die Leistungen der Animatoren und Zeichner bestaune, aber bei den meist recht steifen, mehr durch ihre Sangeskünste auffallenden Prinzessinnen habe ich mich nie ertappt, wie ich mit weit offenem Mund die künstlerische Leistung bewundere. Rapunzel hingegen hat mich letztlich sehr wohl öfter erwischt - sie hat halt auch viel mehr Gelegenheiten dazu. Etwa, wenn sie mit einem süßen Grinsen den Duft ihrer frisch gebackenen Plätzchen genießt. Oder wenn sie ängstlich auf Flynns Rückkehr wartet, Es sind so Kleinigkeiten, die Rapunzel auch animationstechnisch vor ihren adeligen Kolleginnen hervorhebt.

Was gibt es noch zu sagen... Das obligatorische Missverständnis wird ebenfalls viel besser umgesetzt, da es sehr stark auf Rapunzels bereits etablierte Persönlichkeit und Vergangenheit aufbaut, so dass man verstehen kann, dass sie auf schlimme Gedanken kommt. Und da man sie auch mit dem Verdacht kämpfen sieht, wirkt es umso menschlicher. Oh, und Rapunzel liebt Entchen. Eine sympatische, süße junge Frau die was im Kopf hat und Entchen liebt, wie kann man sie nicht in sein Herz schließen?!

3) Endlich sehe ich das Licht und die dazugehörige Sequenz

Die Disney-Liebesballaden haben, wie schon öfters erwähnt, bei mir nicht diesen generellen und großzügigen Startbonus, den sie bei vielen Disney-Fans genießen. Ich finde viel eher die Bösewichter-Songs von Natur aus umwerfend. Aber wenn ich eine Disney-Ballade liebe, dann liebe ich sie dafür umso stärker. Vor Rapunzel war mein unschlagbares Lieblingslied aus dem kaum erschöpflichen Disney-Fundus zum Thema schmachtend besungener Liebe Bella Notte aus Susi & Strolch. Die Schöne & das Biest (aus dem gleichnamigen Film) folgte den Hunden stets auf Schritt und Tritt, doch sowohl Lied, als auch die dazugehörige Sequenz fand ich bei Susi & Strolch stets noch um drei meisterliche Schliffe perfekter abgestimmt. In Die Schöne & das Biest wird märchenhaft gefeiert, was sich schon entwickelt hatte, es ist ein Bestätigungslied, die Filmsequenz beeindruckt durch ihre Opulenz. In Bella Notte sehen wir, wie der Funken rüberspringt, das Lied drückt mit weniger Nachdruck mehr Emotion aus.
Endlich sehe ich das Licht bietet all dies. Ja, Rapunzel und Flynn näherten sich bereits an, taten ihre einander vernarrten Blicke aber wieder als reine Sympathie ab. Während Endlich sehe ich das Licht realisieren sie, was ihre Gefühle füreinander sind, sie finden einander und dies wird märchenhaft überhöht besiegelt. Begleitet von einer träumerischen, visuellen Opulenz, die mir im Kino ein ums andere Mal die Tränen der Rührung und Ehrfurcht vor dieser künstlerischen Leistung in die Augen trieb.

Ich weiß noch nicht, ob ich Endlich sehe ich das Licht als Lied noch mehr verehre als Bella Notte, aber es ist sehr gut möglich, dass ich mir noch einer neuen Disney-Lieblingsballade bewusst werde. Alan Menken und Glenn Slater schufen für das Herzstück von Disneys 50. Meisterwerk eine Melodie, die einen sofort dahinschmelzen lässt, ohne pathetisch und aufdringlich zu werden. Endlich sehe ich das Licht ist zärtlich, gewinnt seine emotionale Kraft von innen heraus und vermag es so, das geneigte Publikum völlig in sich versinken zu lassen. Einige Balladen erinnern einen daran, was man fühlen soll. Andere erinnern einen an eigene Wünsche, Sehnsüchte oder Momente, in denen man sich wie in eben dieser Ballade lebend fühlte. Endlich sehe ich das Licht ist eine dieser perfekt aufgehenden Balladen, die den emotionalen Raum des Zuhörenden betreten und ganz von alleine füllen. Das Lied, die Filmszene, perfekt. Sie braucht keine unterstützenden Gedanken.

Und die Sequenz erst... Schon als die ersten Laternen aufleuchten und von sanften Streichern begleitet emporsteigen, packt mich die Gänsehaut. Aber wenn der gesamte Himmel von den Laternen erleuchtet in märchenhafte, unwirkliche Farben getaucht wird, sich Rapunzel und Flynn immer näher kommen und die Streicher im perfekten Moment anschwillen, dann vergisst man wirklich alles um einen herum. Die vielen Himmelslaternen, die Farbwahl, die perfekte Animation... Endlich sehe ich das Licht ist purer Disneyzauber und wird noch Generationen nach uns verzaubern.

4) Kingdom Dance

Montagen. Entweder Regie und Schnitt beherrschen sie, verwenden ein treffliches Musikstück und sie finden ihren angemessenen Platz im filmischen Handlungsfluss - oder sie sind ein von Faulheit zeugendes Stilmittel, welches die Filmemacher durch Zeitraffung davor bewahrt, sich eigenständige Sequenzen auszudenken, die eine schwer zu erzählende Entwicklung skizzieren. Die Disney-Trickstudios wissen, ihre Montagen einzusetzen. In Tarzan etwa kommen gleich mehrere vor (eigentlich ein cineastisches Sakrileg), und sie sind für mich integraler Teil dessen, weshalb ich den opulenten Abschluss der Disney-Renaissance so sehr liebe. Gewiss, Phil Collins trug dazu mehr als sein Scherflein bei, aber wir wollen ja nicht abschweifen. Hier geht es um Rapunzel, und sofern ich nicht seit Monaten einen absoluten Lieblingsfilmmoment verdränge, so wohnt Rapunzel meine neue Lieblingsmontage inne. Auf jeden Fall meine Lieblingsmontage, die zu instrumentaler Musik verläuft: Kingdom Dance. Für mich läutete diese Szene schon bei meiner ersten, noch durch Nervosität ob der Filmqualität getrübten, Sichtung von Rapunzel eine äußerst lange Gänsehautphase ein. Rapunzel und Flynn betreten das bezaubernd pittoreske Königreich und verleben einen fröhlichen Tag, an dem die Prinzessin mit dem güldenen Haar ihre letzten Bedenken abbaut und das Leben außerhalb ihres Turms ohne jegliche Sorge um bzw. Furcht vor Mutter Gothel in vollen Zügen genießt. Rapunzel stillt in einer Bobliothek ihren Wissensdurst, durch Straßenmalerei lebt sie ihre pochende künstlerische Ader aus, sie scherzt und lacht und tanzt mit Flynn, die zwei kommen sich immer näher... und währenddessen läuft Alan Menkens (wenigstens meiner Meinung nach) beste Instrumentalkomposition seiner bisherigen Karriere! Lasst es euch auf der Zunge zergehen: Disneys (semi-)offizieller Hofkomponist, der allein schon für seine Filmscores mit 4 Oscars ausgezeichnete Alan Menken.... verzaubert in dieser Filmsequenz mit seinem vielleicht schönsten Stück. Die Montage selbst ist bereits großartig, einerseits inhaltlich, da uns die schon längst enorm sympatischen Hauptfiguren noch näher ans Herz wachsen, andererseits auch filmisch. Längere Vingnetten des beneidenswert sorgenfreien Tags im Königreich wechseln sich in einem berauschenden Takt mit kürzeren Ausschnitten ab, der Fokus auf Rapunzel und dem ihr in dieser Sequenz etwas untergeordneten Flynn wird mit fabelhaften Totalaufnahmen (wie der obigen) gebrochen... Ich könnte noch richtig lange schwärmen. Aber dann kommt dieses sensationelle Stück von Alan Menken hinzu, und ich kommt gar nicht mehr zum schwärmen, weil ich vorher schon völlig weggeschmolzen bin. Es beginnt eher zurückhaltend, mit einer märchenhaft verschnörkelten Mittelalter-Marktplatzstimmung, aber dann explodiert es zu einer den Zauber der Disneymärchenfilme einfangenden, mitreißend folkloristisch angehauchten Zelebrierung all dessen, was Spaß macht und zu Herzen geht. Die Füße wollen bei den fidelen Streichern nicht still stehen, die eingestreuten Bläser kitzeln die Gänsehaut voran, mein Herz ist an die Szene verloren.
Andere Trickstudios würden bei Kingdom Dance den Schlussstrich ziehen. Selbst Disney hätte während manchen Phasen auf Kingdom Dance etwas Neues folgen lassen, statt der Romantik weiteren Raum zur Entfaltung zu geben. Doch dies wäre nicht Disneys 50. abendfüllender Animationsfilm, es wäre nicht diese Glanzleistung, wäre es so gekommen. Stattdessen gehen Alan Menken, Byron Howard und Nathan Greno noch mehrere Schritte weiter und lassen auf diese Sequenz noch die Laternen-Sequenz folgen.

5) Gothel (sowie ihre Beziehung zu Rapunzel und ihr Schurkenlied Mutter weiß mehr)

Hossa, Mutter Gothel bloß auf einer niedrigen Position der Dinge, die ich an Rapunzel am meisten mag? Als mir das bewusst wurde, war ich selbst bezüglich dieser Rangfolge erstaunt, schließlich lassen sich zahlreiche Disney-Filme daran bemessen, wie stark ich den Schurken finde. Und obwohl Gothel in Rapunzel sogar eine besonders zentrale Position einnimmt, bei einer misslungenen Charakterisierung sowie Darstellung dieser Figur der gesamte Film in sich zusamenfiele, ist Gothel für mich kein Podestkandidat der besten Elemente dieses Films. Das spricht weniger gegen Gothel, sondern mehr für das Gesamtwerk Rapunzel. Gothel ist eine starke Disney-Schurkin, überaus denkwürdig und toll in Szene gesetzt. Dennoch drängen sich mir bislang genannte Punkte in meiner Lobeshymne dringlicher auf.
Eine Frage auf die ich bislang keine Antwort fand, ist ob Gothel Dr. Facilier aus Küss den Frosch übertrumpft, den ich vorheriges Jahr als den besten Disney-Trickbösewicht seit langer Zeit bezeichnete. Nun, isloiert betrachtet ist Dr. Facilier die reizvollere Figur: Er ist eindrucksvoller und vitaler, tanzt sich aktiver ins Gedächtnis und hat die berauschendere Schurkensong-Sequenz. Betrachtet man diese beiden dagegen als Teil eines größeren Ganzen, muss ich wohl Gothel den Vorzug geben, da bei ihr wie gesagt eine gelungene Umsetzung bedeutender für den Film ist. Dr. Facilier ist ein knalliger Ganove, ein Entertainer. Gothel wiederum muss subtiler vorgehen. Ihre unklare, im Grauen verschwimmende Beziehung zu Rapunzel verleiht diesem Märchen zusätzlichen Reiz und eine größere emotionale Auswirkung. Es bleibt auszudiskutieren, ob sie Rapunzel ausschließlich ob ihres heilenden Haars duldete, oder ob sie die Prinzessin nicht doch in ihr Herz geschlossen hat. Ich finde schon, dass ihr schon etwas an Rapunzel liegt und sie sich wirklich um ihr Wohlergehen kümmerte, bin mir jedoch unsicher, wann diese Gefühlshaltung endgültig zu reiner Nutznießerei und Boshaftigket umkippt. Als Gothel realisiert, dass Rapunzel aus dem Turm verschwunden sein könnte und sie ihr heimatliches Gefängnis in der Hoffnung, sie doch noch vorzufinden, auf den Kopf stellt, sehe ich in ihrer verzweifelten Mimik neben der Angst vor den sie vielleicht erwartenden Palastwachen und dem Verlust ihres lebenden Jungbrunnens auch Bruchstücke von Sorge um Rapunzel als Person. Ihre anschließenden Lügen und Intrigen sind dagegen von purer Egomanie getrieben. Meine Sicht, zumindest. Und das macht Gothel so reizvoll: Sie hat sowohl die übertriebene Theatralik, die ich so sehr an Disney-Bösewichtern liebe, als auch gewisse charakterliche Tiefen. Unvergesslich sind natürlich auch all ihre Ticks und Macken, die sich das Disney-Team in detektivischer Kleinarbeit von den eigenen Müttern abguckte und Gothel somit zu einer überdramatisierten Frankensteinschöpfung der schlimmsten Mutter-Kind-Momente machen. Das verdient besondere Anerkennung, denn eine solche Figur könnte schnell ennervierend werden, aber die Animatoren und die Sprecher (ganz gleich ob Donna Murphy im Original oder Monica Bielenstein/Christine Leyser in der Synchronisation) machen Gothel zu einer perfide unterhaltsamen Leinwanderscheinung. Jede Dialogszene, die sich Rapunzel und Gothel teilen, ist einfach klasse - und dazu zählen selbstverständlich auch Gothels Gesangssequenzen. Als alleinstehende Szene ist Freunde im Schattenreich aus Küss den Frosch besser, es gibt viel mehr, woran sich das Auge ergötzen kann, wobei Mutter weiß mehr ebenfalls vor visueller Einfälle strotzt. Die zu gleichen Teilen albernen wie fiesen Schindluder, die Gothel mit Rapunzel treibt, um ihr Angst vor der Außenwelt einzuflößen, sind sehr pointiert umgesetzt und lassen viel Raum für toll abgestimmte Charakteranimation. Die einschneidende Reprise hebt Mutter weiß mehr letztlich in eine höhere Stratosphäre - und gibt Gothel ihren distinktiven Disney-Bösewichtmoment, natürlich inklusive diabolischem Crescendo.

6) Pascal

Ich habe fast schon richtiges Bauchgrimmen, weil ich Pascal so weit unten erwähne. Er müsste eigentlich viel mehr Ruhm abkriegen, nur ist Rapunzel so schön, dass es nicht so einfach geht. Fast wäre er dann auf Rang 5 gelandet, doch Mutter Gothels komplexe Beziehung zu Rapunzel (für einen Disney-Schurken) konnte ich nicht so einfach runterwerten, indem ich einen stummen Sidekick über sie stelle. Dafür werde ich mir irgendwann einen richtig tollen Spielzeug-Pascal kaufen, wenn ich einen finde, der dieses liebenswert-freche Chamäleon gut trifft. Von Gothel werde ich mir so schnell nichts holen. Ausgleichende Gerechtigkeit...
Also... Pascal. Was soll ich groß erzählen? Er ist einfach richtig, richtig niedlich. Allein schon, wie er im Intro-Song Wann fängt mein Leben an immer irgendwo im Bild rumsitzt und was zu Rapunzels Aktion passendes macht. Wie er auf ihrer Schulter sitzt und einen Keks knabbert, wie er mit genervtem Blick ein Kleidchen genäht bekommt... all das ist schon zuckersüß. Was ihn für mich allerdings erst zu einem riesigen Pluspunkt für Rapunzel macht, ist all der wunderbar effektiv eingesetzte, schwunghaft animierte Humor, den Pascal reinbringt. Er ist ohne Sprache derart ausdrucksstark, zeigt so viel Persönlichkeit in seiner Mimik und seiner Gestik, das ich ihn locker zu einem der besten Disney-Sidekicks aller Zeiten wählen würde.

Das freche Chamäleon, das Flynn voller Misstrauen stets im Auge behält, könnte vom Charakter und der dynamischen Animation her problemlos aus einem richtig grandiosen Disney-Classic-Cartoon stammen. Ich kann es mir selber kaum erklären, doch wenn ich Pascal sehe, muss ich unweigerlich an Donald Duck denken. Ein besseres Lob können Disneyfiguren kaum erhalten. Die Neugier, das destruktive im herzlichen, das hat was vom schnatternden Erpel - vor allem aber sehe ich in Pascal den idealen Störenfried für den von mir so geliebten Schnatterich. In Rapunzels treuem Freund steckt ein kleiner Frechdachs, und wenn man ihn nun in Donalds Nähe frei ließe, würden sich garantiert äußerst amüsante Situationen entwickeln. Und wenn sie sich bloß um den letzten leckeren Keks streiten... Die beiden sind füreinander geschaffen, und wenn Disney mir schon nicht den Traum einer Phantomias- oder Maui Mallard-Filmreihe erfüllen will, dann sollte das Studio aus Pascal A- und B-Hörnchen für das 21. Jahrhundert machen. Natürlich kommen Pascal und Donald aus unterschiedlichen Trickwelten, doch mit einem Schuss Kreativität wäre das zu beherrschen. Der Computeranimation etwas von ihrer Räumlichkeit nehmen, Donald so greifbar kolorieren wie in Falsches Spiel mit Roger Rabbit, und ich wäre im Kurzfilmparadies.
Wird wohl kaum geschehen. Nehme ich halt mit einem Rapunzel-Kurzfilm vorlieb, in dem das kecke Kerlchen sein Unwesen treibt...

7) Flynn Rider (und seine Prolog-Erzählung)

Flynn hat einiges mit Aladdin gemeinsam: Sie beide sind clevere Diebe, deren Design durch einen von den weiblichen Angestellten der Disney-Trickstudios bestimmt wurde, weil man sich einen richtig gut aussehenden Helden für den Film wünschte. Flynn ist in seiner Funktion als Dieb listiger, als die mitleidserregende Straßenratte Aladdin, er lebt eher das verträumte Ideal eines linkischen Haudegens. Zugleich bringt Flynn mehr Humor in den Film als Aladdin - dafür ist Flynn wohl auch um einiges schusseliger. Was ihn richtig liebenswert macht - wäre ich aber eine hilflose Person in Nöten, so würde ich eher darauf setzen, dass Aladdin mich im Alleingang retten kann. Flynn ist in seinen Abenteuern viel stärker auf neu gewonnene Freunde und das entzückende, mit Improvisationstalent gesegnete Blondchen angewiesen.
Der charismatische Halunke ist allerdings nicht nur ein witziger, mit allen Wassern gewaschener Typ, der unter seiner selbstverliebten Oberfläche ein Herz aus Gold hat, sondern obendrein ein toller Erzähler. Rapunzel stand ja unter dem Druck, als Disneys Rückbesinnung auf seine Wurzeln sowie Modernisierungsversuch etwas neues bieten zu müssen, ohne wirklich etwas an der Disney-Formel zu verändern. Für das Intro bedeutete dies, dass man auf das überreizte Märchenbuch-Intro verzichtete, und stattdessen Flynn als warmherzigen, kecken jungen Erzähler einzusetzen. Der Prolog von Rapunzel bietet mit der einfühlsamen, magischen Musikuntermalung von Alan Menken und den traumhaften Landschaftsbildern sehr viel Märchen-Gefühl, während Flynn mehr Tempo in diese Eröffnung einbringt, als der übliche mit voluminöser Stimme brummende Erzähler. Meine werte Gastautorin Ananke fand Flynn anfangs zu frech, zu modern in seinem Tonfall, ich dagegen sah ihn einfach nur als jugendhafteren Erzähler, mehr wie einen J.M Barrie und weniger wie einerseits das spuckende Lama namens Kuzco oder andererseits den trägen, typischen Märchenfilmerzähler. Nach wiederholter Sichtung verschwand der Lama-Vorwurf, aber ich scheine weiterhin mehr Begeisterung für Flynns Erzählung aufzubringen. Wenn sie einfach eine Soundtrackanalyse von mir ankündigt, vielleicht möchte sie sich dafür über das Intro von Rapunzel auslassen? ;-)


8) Maximus

Maximus gehört glasklar zu den größten Publikumslieblingen von Rapunzel, und es ist schwer, den Grund nicht zu erkennen: Dieses so expressiv und wundervoll übertrieben animierte, stolze Ross ist einfach urkomisch. Seitens der Regisseure und Animatoren wurde Maximus als eine Art "Tommy Lee Jones spielt einen knallharten Cop mit dem Geiste eines Hundes, gefangen im Körper eines Pferdes" beschrieben, und damit ist auch die Essenz von Maximus' Komik getroffen. Die Zoffereien zwischen ihm und Flynn, wie er sämtliche Palastwachen mit seiner Spürnase alt aussehen lässt, wie er sich von Rapunzel wie einen treudoofen Haushund kraulen lässt, all das wird mit extrem viel Witz und viel Seele umgesetzt. Dass es so viel Publikumsresonanz erzeugt, liegt aber auch daran, dass es in dieser Form so frisch wirkt. In einem klassischen Disney-Meisterwerk hat man eine Figur wie Maximus noch nie gesehen. Trotzdem würde ich Maximus nicht als aggressive Frischzellenkur für die Post-Shrek-Generation bezeichnen. Maximus hätte es schon immer in einem Disney-Märchen geben können, nur kam zuvor keiner auf die Idee. Vielleicht, weil man Pferde zuvor einfach nur als edle, stolze Tiere sah. Den Humor kann man ja woanders reinpacken...
Dass ich Maximus zwar als frischen, nicht aber als postmodernen Einfall sehe, liegt daran, dass er auf einen von Disney-Märchen bislang nicht annektierten Bereich der Classic Cartoons zurückgreift. In Schneewittchen etwa hatten wir schon die ulkigen, kleinen Männer, in Cinderella gab es sprechende, singende Mäuse in knuffiger Kleidung, die mit der fetten Hauskatze einen auf Tom & Jerry machten, Maximus dagegen ist eigentlich einfach ein kompetenter Pluto mit Polizeiausbildung. Somit sorgt er für die wohl größten Lacher im Film. Wieso ich ihn dann unter Pascal setze? Naja, ich wüsste zwar keinen Gag, den ich rausschneiden würde, aber dennoch ist Maximus manchmal ein wenig "over the top", um mir so sehr wie Rapunzels "Frosch" zu gefallen.

9) Die Reprisen

Trotz der Genialität von Endlich sehe ich das Licht und Kingdom Dance ist Rapunzel für mich keine musikalische Ansammlung von Unfehlbarkeit. Wann fängt mein Leben an gewinnt mit mehrfachem Hören (und Sehen) zwar enorm, kippt mir in seiner Mischung aus 60er/70er-Rock, Disney-Musicalklängen und Moderne trotzdem zu sehr ins letztere über, Ich hab 'nen Traum wiederum ist sogar einer der schwächeren Spaßsongs im Disney-Musikfundus. Keinerlei Vergleich zu Alan Menkens wundervollem (und tonal vergleichbaren) Gaston. Doch dazu später mehr.
Wodurch ich mich bezüglich der Lieder allerdings wieder voll und ganz mit Rapunzel versöhnen konnte, sind die grandiosen Reprisen. Oft tendieren Reprisen bei Disney für mich zu bloßen "musikalischen Markierstiften", sie unterstreichen durch Rückgriff auf ein schon bekanntes Lied einfach das, was eh schon in der Szene vorhanden ist. Das ist keinesfalls übel, nur möchte ich damit sagen, dass die Repisen in Disney-Filmen für mich keine garantierten, eigenen Höhepunkte sind. Das ist nahezu ausnahmelos den Schlussreprisen vorbehalten. Der König der Löwen und Tarzan lassen grüßen. In Rapunzel dagegen gefallen mir die Reprisen deutlich besser, als die ersten Verwendungen der jeweiligen Lieder. Die Reprise von Wann fängt mein Leben an ist wie eine Impfspritze voll Disneyzauber, eine pompös-prinzessinnenhafte Wende für Rapunzel. Ich finde es wirklich gelungen, wie Musik und Text an dieser Stelle das Innenleben der ausbüxenden Rapunzel reflektieren - und die Reprise von Mutter weiß mehr ist nicht nur wundervoll intrigant, sondern kraftvoll theatralisch. Außerdem bietet sie viele Interpretationsansätze.

10) Die Dramaturgie und der Tonfall

Um die Dramaturgie und den Tonfall von Rapunzel mehr zu loben, hätte er sich etwas weniger streng an der Disney-Formel heranhangeln müssen, und sie mehr als inspirierende Leitlinien sehen sollen. Trotzdem: Natürlich gehört die Disneyhaftigkeit zum Zauber von Rapunzel dazu. Er ist in seiner Romantik so etwas wie der idealistische, naiv-märchenhaftere Gegenpart zu  Pixars WALL•E; die "Ohhhs" und "Aaaaahs" kommen bei der Prinzessin zuerst, weil man es so erleben will, und erst in zweiter Instanz, weil man es so ähnlich kennt. Beim verliebten Müllroboter war es anders, dort schmelze ich wie ein Eis in der Sonne, weil es so lebensnah ist, und dann erst, weil es romantisierter und überhöht ist. Dadurch, dass die obligatorische Wende zum Missverständnis glaubwürdiger als bei vielen RomComs ist, fiel Rapunzel positiv aus dem klassischen Liebesrahmen heraus, die witzigen Momente sind knalliger, als in ähnlich gearteten Disney-Filmen, die tragischen Momente sind düsterer und ergreifender. Und dank der versierten Regie gehen diese Stimmungswechsel trotzdem perfekt auf - so, wie man es derzeit von Pixar gewohnt ist. Disney hat wirklich viel aus der Geschichte einer Turmgefangenen geholt, die Story schön an Rapunzels Persönlichkeit geknüpft und die Actionmomente wiederum nicht als Anbiederung an die Jungs gestaltet, sondern zu elementaren Teilen gemacht. Rapunzel ist eine fließende Gefühlsachterbahn. Lachen, mitfiebern, weinen - etwas mehr Thrill hätte es vielleicht sein können, denn das Streckendesign ist recht konventionell. Aber Rapunzel ist eine der stärksten Umsetzungen dieses Grundkonzepts. Zumindest für den Disney-Fan.

Meine zehn größten Kritikpunkte an Rapunzel:
1) Brummbärs ungepflegter Vetter vierten Grades

Wie gern hätte ich doch Rapunzel in Anwesenheit der Regisseure in einer Testvorführung gesehen. Das wäre ein Heidenspaß geworden. Gratulation, Komplimente, Verehrung - und dann scheuere ich denen verbal sowas von eine runter. Was im unheiligen Namen des unehelichen Kindes von Lady Tremain und Chernabog hat die bitte schön geritten, diesen hässlichen, versoffenen und unlustigen Gnom einzubauen? Und was fanden bitte die ganzen Nasen an ihm, die ihn in ihren Filmbesprechungen unter den Highlights nannten? Animationsexperte Amid Amidi (liest seinen Artikel hier), einer der Glee-Darsteller, Lee Unkrich (!!!) und weitere Leute, die ich zu ihrem Wohl gerade nicht mehr rekapituliert kriege, sehen in diesem zahnbelückten, alten Ganoven etwas, dass unbedingt gesondert gelobt werden muss... Was?! Ich will ja niemand sein, der andere Meinungen direkt runtermacht, aber das ist eines der unverständlichsten Urteile, das mir seit langem untergekommen ist. Und versteht mich nicht falsch, es geht nicht um irgendeine durch Modelshows indoktrinierte verklärte Weltsicht, die mir den Kerl unschmackhaft macht. Unter den Kneipenschlägern ist ein weiterer eher hässlicher Kerl, der sogar über sein übles Äußeres singt - aber sein Aussehen passt in den Stil von Rapunzel. Dieser Typ dagegen fällt völlig aus dem Produktionsdesign von Rapunzel heraus. Eine kleine Sünde, verglichen damit, wie lahm diese augenscheinlich urkomisch gedachte Figur ist. Sie ist im Grunde nicht viel mehr, als ein Statist, dem ein paar Textstellen in die Hand fielen, und er erreicht somit lange nicht die Weihen eines Jar Jar Binks, er ist sogar in seiner Schlechtheit zu unbedeutend, als dass er mir den Film vermiesen oder als Argument gegen einen Rapunzel-Kinobesuch taugen könnte. Aber wäre ich die Art Mann, die stets sämtliches für den Bau eines ordentlichen Hauses erforderliche Equipment dabei hätte - bei einem der dreieinhalb Gags mit ihm, und an einem aufbrausenderen Tag könnte ich mit Ziegelsteinen gen Leinwand werfen.

2) Monroses Entzauberung von Endlich sehe ich das Licht

Glücklicherweise ist es nur der zweite Song im Abspann, und somit (nach der Erstsichtung inklusive obligatorischer Würdigung des gesamten Abspanns) überaus leicht zu vermeiden, zumal bis zum Einsatz dieses Liedes auch die hübschen Begleitbilder wegfallen und nur noch eine mit gelegentlichen Randzeichnungen versehene Flut an Text zu sehen ist. Dennoch handelt es sich dabei um einen Teil des Films. Einen Teil des 50. Walt Disney Meisterwerkes. Monrose... Teil... eines Meilensteins... Ich denke, weshalb ich prinzipiell dagegen bin, muss ich nicht weiter erläutern, also komme ich direkt zum Lied an sich. Es ist für Monrose-Fans sicherlich super (endlich mal gut komponiertes Lied von denen, schade, dass es wohl keine weiteren mehr geben wird *fiesseiunddeckungsuch*), auch jene mit einer Schwäche für vor sich hinplätschernde Radioballaden werden ihn mögen. Bloß muss man an meiner Kritik verstehen, dass ich diese Version von Endlich sehe ich das Licht nunmal durch meine Ohren höre. Ohren die in einer ausführlichen Würdigung der magischen Welt der Disney-Musik die von ihnen meistgeschätzte Liebesballade auf Platz 17 stellen (ich stelle mal die These auf, dass ca. 87% der Disney-Fans mindestens drei Liebesballaden in ihren Top 10 haben), und Elton Johns Kann es wirklich Liebe sein? auf Platz 126 (ja, ich bin da was... eigen...)! Liebesballaden haben es bei mir allgemeinhin schwer, und langsame, dezentere üblicherweise noch mehr als große, theatralische. Endlich sehe ich das Licht ist eine solche  langsame, dezente Liebesballade. Und all jene gesanglichen Elemente, die dieses Lied sämtlichen meiner Hörgewohnheiten zum Trotz zu einer meiner liebsten Disney-Balladen macht, werden von Monrose in ihrer Version durch ihren eigenen Stil ersetzt. Solange wir Monrose überhaupt einen eigenen Stil attestieren wollen - an und für sich ist es ja einfach nur dieser 08/15-Radiopopballaden-Stil, von dem hier die Rede ist. Die Filmversion von Endlich sehe ich das Licht ist gesanglich mit Disney-Zauber versetzt, glatt gesungene Stellen, wo ich während der Autofahrt beim Durchzappen durch Radiostationen keine glatten Momente erwarten würde, dialogartiges Stocken, wo Nicht-Filmmusik nie auf diese Idee käme... Ihr könnt vielleicht erahnen, was ich meine. Und wenn sich Monrose durch den kompletten Titel durchvibiriert und den Kitsch in den radiotypischen Momenten in die Stimme legt, statt in die Filmmomente, dann ist's für mich kein Disney-Zauber mehr.

3) Diese eine Aufnahme von Rapunzel

Irgendwie hoffe ich, dass sich anhand dieses Punktes vorführen lässt, dass eine Abgrenzung zwischen Objektivität und Subjektivität hinsichtlich Filmkritiken möglich sein kann. Aus objektiver Sicht müsste man beispielsweise die Schemahaftigkeit erwähnen, die Rapunzel teils ausmacht. Sie hindert ihn nicht daran, ein großartiger Film zu sein, aber sie könnte dahingehend empfindliche Kinobesucher schon genug betrüben, dass sie etwa Toy Story 3 den bessern Animationsfilm des Jahres fanden. Fans der 90er-Disney-Musik hätten vielleicht lieber den "alten" Menken zurück. Und die Schlägertruppe hat zwar dramaturgischen Nutzen, weshalb sie sich nicht aus dem fertigen Film rausschneiden lässt, allerdings wäre es möglich gewesen, das Drehbuch so zu gestalten, dass Rapunzel ohne solch periphären Figuren auskommt. Persönlich habe ich mich aber, der deutschen Synchronfassung sei Dank, mit den Kneipenschlägern arrangiert. Dass ein Disney-Märchen ein Disney-Märchen is, stört mich auch nicht (was nicht automatisch bedeutet, dass ich mehr Innovation abgelehnt hätte). Dafür springen mir Dinge ins Auge, die dem sich weitaus weniger an diesen Film investierenden Zuschauer sicherlich vollkommen gleich sind. Etwa dieses eine Bild. Es ist eine Aufnahme von bestenfalls 2 Sekunden, sie fiel mir nach wiederholtem Sehen der Trailer in eben diesen leicht negativ auf, war im Kino bei der Gesamtsichtung aber wieder vergessen. Mit mehrmaligem Ansehen von Rapunzel, entdecke ich sie jedoch wieder - und für einen kurzen Augenblick reißt es mich aus dem Film. Es ist irgendwas an Rapunzels Gesicht, das mich in dieser Einstellung stört. Es sieht runder, püppchenhafter aus, als im restlichen Märchenmusical. Es wirkt als wäre es unfertig, als müssten die Regisseure oder Animationsleiter Glen Keane bei der Durchsicht der Tagesmuster nun aufspringen, an ihre coolen neuen Zeichentabletts gehen, die Keane unbedingt für Rapunzel haben wollte, und als Feedback die zu erstrebende Gesichtsform hineinkritzeln, so dass man sich aufmacht, nach Wegen zu suchen, diese Einstellung anders wirken zu lassen.
Viele werden es im Kino und nun auf DVD/Blu-ray nicht entdecken. Auch ich werde es sicher irgendwann wieder übersehen. Aber es ist da, und es passiert ausgerechnet während Rapunzels großem, emotionalem Moment der Befreiung. Da will ich eigentlich nicht für einen Wimpernschlag lang denken "mh, das hätten sie besser hinkriegen können".
Klingt nach Haarspalterei? Ist es auch - und das spricht für die Klasse des Films, wenn ich schon solche winzigen Details als Kritikpunkte herausstelle. Old Dogs oder Kindsköpfe wären froh, wenn ich eine 2-Sekunden-Aufnahme bereits im zweistelligen Bereich als Mangel aufzählen würde.

4) René Marik als die Stabbington-Brüder

Die Stabbington-Brüder, Flynns einschüchternden, stiernackigen Ex-Diebeskollegen, sind nicht gerade die denkwürdigsten Mitglieder der disney'schen Schurkengallerie. Das liegt weniger an einer schwachen Drehbuch- oder Regieleistung, sondern eher daran, dass Rapunzel solche Figuren wie die Stabbington-Brüder benötigt, ihnen selbst zugleich wenig Raum lässt. Sensationellere Stabbington-Brüder bedeuteten weniger Scheinwerferlicht für Gothel, Flynn oder Rapunzel. Was die Figuren im Originalton zumindest einen Hauch von etwas besonderem gibt, ist ihr Sprecher: Ron "Hellboy" Perlman. Seht ihr die Familienähnlichkeit? Und wen hat sich die deutsche Disney-Dependance als deren Sprecher ausgedacht? Den Hänfling mit den sprachunerzogenen Puppen, René Marik. Erfreulicherweise hat man ihm keine Gelegenheit gegeben, der Synchronfassung seinen befremdenden Stempel aufzudrücken (sowas dürfen nur wenige Ausnahmen wie Otto als Mushu) und Marik versucht redlich, sich seiner Rolle anzupassen. Allerdings bleibt es beim Versuch. Vollkommen künstlich krächzt und kratzt und drückt er sich durch seine wenigen Dialogstellen. Hätte man nicht unbedingt für das deutsche Pressetext die Präsenz des "Rapante, Rapante!"-Puppenspielers haben wollen, wäre eventuell jemand mit einer voluminösen, bedrohlichen und kräftigen Stimme hinter's Mikro gekommen. Eventuell sogar Hellboy-Sprecher Tilo Schmitz (seine Statistenrolle als Kneipenschläger hätte jemand anderes übernimmen). Doch das war Disney anscheinend zu sinnvoll.

5) Grace Potters Something That I Want

Dieses Lied ist der ultimative Beweis, dass Alan Menken auf Disneys Geschäftsführung eine weniger Ehrfurcht erbietende Ausstrahlung hat, als Jerry Bruckheimer. Wenn Disney Jerry Bruckheimer in einem Meeting sagen möchte, dass sein nächstes Projekt, ein abstruses Piratenabenteuer mit diesem kuriosen Johnny Depp in der Hauptrolle und übernatürlichen Skelett-Freibeutern, aufgrund zu hoher Kostenerwartungen eingestellt wird, kommt Bruckheimer mit einer Budgeterhöhung wieder aus dem Konferenzsaal heraus. Wenn Alan Menken sagt, ihm passe es nicht, dass Disney im Abspann von Rapunzel einen Nicht-Menken-Song haben will, kommt Rapunzel mit Grace Potters Something That I Want in die Kinos. Schade. Erstens, weil Menken offenbar im Schulsport gefehlt hat, als Roundhouse-Kicks unterrichtet wurden und ihm so das nötige Durchsetzungsvermögen fehlt, zweitens weil Grace Potters fröhlich modernes Beinahe-Indie-Poprock-Gedudel für mein Empfinden nicht gänzlich zur Stimmung des Films passen will. Es ist immer noch, bei weitem, der beste Disney-Schlusssong der letzten Jahre (außerhalb Pixars), einen guten Menken würde ich ihm aber jederzeit vorziehen. Rapunzel hätte es doch so sehr verdient gehabt, genau wie WALL•E mit einem umwerfenden Abspann zu enden, und da gehört die Musik nunmal dazu...

6) Der US-Titel / Der dt. "Untertitel"


Als im Februar dieses Jahres bekannt wurde, dass der US-Titel von Rapunzel in Tangled umgändert wurde, hatte ich Unverständnis für diese Entscheidung. Der laute Aufschrei, Tangled sei eine Beleidigung an die Disney-Tradition und einer der denkbar schlechtesten Titel, war meines Erachtens wiederum zu viel. Erstens: Es gibt viel schlimmere Titel. Zweitens: Von allen Alternativen war Tangled eigentlich sogar mit die beste. Es klingt schön... und... joah, ich dachte, es könnte auch den Filminhalt wiederspiegeln, aber so richtig verflochten oder gar verworren ist da nun auch nichts. Flynn und Rapunzel haben keine ineinander verwobenen Schicksalsfäden, sie berühren zwar einander und ändern das Leben des jeweils anderen, doch weder von Irrungen, Wirrungen noch von Bestimmung eine Spur. Rapunzel, so sollte dieser Film heißen. Und nicht anders. Auch die in die Logoeinblendung beförderte Tagline Neu verföhnt ist absoluter Schwachfug. Das ist nicht Shrek, es ist nichtmal Ein Königreich für ein Lama. Und spätestens bei der Wieder-Wieder-Wiederveröffentlichung geht Neu verföhnt eh den gleichen Weg wie Peter Pans "heitere Abenteuer", Pongo und Perdi – Abenteuer einer Hundefamilie oder Dornröschens sexuelle Gleichberechtigung in Form eines Titelanhängsels.
Ich sah das Intro des Films einmal, wie es im Idealfall aussähe. Ohne Untertitel - und es war perfekt. So sollte es immer sein. Disney, es ist nicht zu spät, ihr könnt schon bei der Heimkino-Zweitveröffentlichung alles richtig machen! Übrigens: Muss man den Fön auch noch unbedingt in der deutschen Tonspur verstecken? Leute, ihr habt den Clip mit der Filmbesetzung einmal richtig eingesprochen - verwendet die Spaßfassung für das missleitende Marketing und überlasst die schlauere Wortwahl dem Film!

7) Die Epilog-Erzählung

Flynns Erzählung im Prolog, oder den gesamten Prolog an sich, finde ich richtig stark. Es erweckt ein zeitgemäßes Disney-Märchengefühl, ohne zu sehr in die Moderne abzugleiten oder den altbekannten Märchenbuchanfang weiter zu überreizen. Die Erzählweise unseres feschen Helden passt zu seinem Charakter und findet sogar Anknüpfungspunkte in einem späteren Moment der Haupthandlung. Straffes Tempo und dennoch genügend Luft zum Atmen. Wundervoll. Der Epilog dagegen ist weniger gelungen - er ist nicht schlecht, aber er lässt etwas von der Vortrefflichkeit seines Gegenstücks missen. Hier wird mir irgendwie zu schnell durch alle offenen Punkte gehetzt und auch darstellerisch fehlt, sowohl im Original als auch in der Synchronfassung, ein wenig der Wärme der Eröffnungserzählung.
Mein Lieblingssatz in der Schlusserzählung lässt mich übrigens an Inglourious Basterds denken. So wie Quentin Tarantino via Aldo Raine das Spaghetti-Weltkriegsmärchen als sein Magnum Opus bezeichnet ("Utivich? I think this might be my masterpiece!"), bekommt der Disney-Fan auch bei Rapunzel eine gerechtfertigte Selbsteinschätzung des jüngsten Meisterwerks unserer geschätzten Traumfabrik: Auf diese Prinzessin hat sich das Warten gelohnt. Ja, das hat es, da stimme ich voll und ganz zu...

8) Keine Logoabwandlung

So sehr ich es auch liebe und ich mich aufrege, wenn es bei Wiederveröffentlichungen ersetzt wird: Das alte Disney-Logo war gen Schluss seiner Lebzeit ein rückständiges Überbleibsel anderer Zeiten. Sein einziger Vorteil gegenüber dem neuen Schloss: Es war leicht abzuwandeln. Das 2006er-Disneylogo dagegen ist recht komplex und erfuhr bislang nur wenige Variationen. Die meisten davon waren zudem simpler Natur, wie die in kräftigeren, dunkleren Farben getauchte Fassung von Das Vermächtnis des geheimen Buches. Tron Legacy schlussendlich bekam die bislang aufwändigste, coolste und originellste Umgestaltung des Disney-Logos gegönnt. Und was gab's für Rapunzel? Nichts. Keine als Vorgriff dienenden, schwebenden Laternen am Nachthimmel, kein güldenes Haar, das aus dem Turmfenster weht. Geschweige denn, dass das stilistisch sehr gut ins Logo passende Schloss von Rapunzels Eltern den Platz des Dornröschen-Zuckerbäckerwerks einnimmt. Irgendwie schade.
(Ja, das Walt Disney Animation Studios-Logo bekam eine Abwandlung, aber ich wollte eins für das Walt Disney Pictures-Logo...)

9) Ein winzig kleiner Touch mehr Swashbuckling für die letzte Actionsequenz hätte nicht geschadet

Ich finde das Finale von Rapunzel keineswegs schlecht, nein, ich überlege, ob es nicht das beste Disney-Märchenfinale überhaupt ist. Aber wenn ich schon auf zehn Kritikpunkte kommen will, dasnn muss ich mit enorm gestrengem Blick sagen, dass mir die letzte Actionsequenz ein Stück zu sehr vom Comic Relief geprägt ist. Ich wünsche mir ja kein Popcorn-Testosteron-Actionabenteuerfinale und ich sage keineswegs, dass diese Sequenz schlecht ist. Doch wenn ich mir mein ganz eigenes Traum-Rapunzel ausmalen könnte, dann müsste sich ein Weg finden lassen, wie diese Sequenz tonal mehr in Richtung von Disneys Adaption von Die Drei Musketiere oder Jacks Flucht vor dem Galgen in Fluch der Karibik rückt. Ein paar längere Kampfeinstellungen, ein etwas verwegenerer Score, und dann reiten wir wieder los zum nicht veränderten, märchenhafteren Anteil des Films.

10) Kein Vorfilm

Seht ihr das, seht ihr welche Strecken ich gehen muss, um zehn mich wirklich störende Kritikpunkte an Rapunzel zu finden? Und ja, auch wenn es den eigentlichen Film nicht betrifft, hinsichtlich der Kinoerfahrung ist es wirklich etwas, dass ich bemängeln muss. Wenn ich daran denke, wie vorbildlich Pixar die Kurzfilmtradition aufrecht erhält, und welche Flügel sie dem alltäglichen Kinobesuch verleihen, dann frage ich mich schon, wieso Disney keinen Vorfilm mit Rapunzel veröffentlichte. Noch unverständlicher wird die Entscheidung, da Disney mit Glago's Guest einen Kurzfilm im Archiv versauern lässt. Was, sollen wir noch zehn Jahre auf Walt Disney Treasures: Disney Rarities II warten, um ihn sehen zu dürfen?

Somit habe ich endlich für euch, und für mich selbst, aufgeschlüsselt, weshalb Rapunzel mein ganz persönlicher Lieblingsfilm 2010 wurde - sowie, was mich als klassisch viel zu genau hinschauenden Fan so stört. Denn irgendwoher musste der in aller Begeisterung ruhende Zweifel nach der ersten Begegnung mit der langhaarigen Prinzessin herkommen. Jetzt bin ich diese zwanzig Punkte also endlich, wohl überlegt in eine Rangfolge gepresst, von der Seele losgeworden. Wer sich alles durchgelesen hat, darf sich selbst krönen. Und nun mag ich natürlich wissen, was für euch besonders glanzvoll und besonders irritierend war. Nicht zwangsweise exklusiv an diesem Artikel, sondern natürlich an Rapunzel.