Donnerstag, 30. April 2015

The Voices


Magenta, Missgeschicke, Mord, Miau. Die US-amerikanisch-deutsche Gemeinschaftsproduktion The Voices ist ein manischer, mutiger Mischmasch aus Gemütszuständen. Daher wird sie sich schwer tun, ein Publikum zu finden. Für eine Komödie ist sie zu nachdenklich, für ein Drama ist sie zu abstrus-ulkig und für einen Horrorfilm ist sie nicht schaurig genug. Gerade diese tonale Schizophrenie, die gewiss einige Zuschauer verschrecken wird, ist jedoch zugleich eine große Stärke von The Voices. Denn Regisseurin Marjane Satrapi (Persepolis) und Drehbuchautor Michael R. Perry (Paranormal Activity 2) schwanken mit beachtlicher Zielstrebigkeit zwischen munteren und finsteren, absonderlichen und nachdenklichen Momenten hin und her. Und nähern sich dadurch eindrucksvoll dem Thema ihres Films. In dessen Mittelpunkt steht nämlich der unscheinbare Außenseiter Jerry, der unter Schizophrenie leidet und Hauptdarsteller Ryan Reynolds zu einer neuen Karrierebestleistung anspornt.

Der in einer abgeschiedenen, leicht dem Puls der Zeit hinterherhinkenden US-Kleinstadt lebende Jerry könnte kaum unscheinbarer sein: Fleißig geht er in einer Sanitärfabrik seinem Tagwerk als Verpacker nach, ohne je engere Bande mit seinen Kollegen zu knüpfen oder sich alternativ mit ihnen anzulegen. Nach Dienstschluss tauscht er seinen magentafarbenen Overall gegen unauffällige Jedermannsklamotten, geht allein Essen oder stapft direkt in seine Wohnung direkt über der örtlichen Bowlingbahn. Dort erwarten ihn sein Kater Mr. Whiskers, der mit seinem Herrchen umspringt wie es ihm beliebt, und sein Hund Bosco, eine gutmütige Seele, die dem einsamen Jerry stets Trost spendet. Und das nicht allein durch seinen treuseligen Blick, sondern auch mit Worten: Denn seit Jerry eigenmächtig die Psychopharmaka abgesetzt hat, die ihm seine Psychotherapeutin Dr. Warren (Jacki Weaver) verschrieben hat, hört er, wie seine Haustiere mit ihm sprechen. Während Mr. Whiskers mit rotzfrechem Mundwerk Jerry wahlweise runtermacht oder zu ungezogenem Verhalten anzustiften versucht, übernimmt Bosco die Rolle eines etwas schwerfälligen, geduldigen Engels. Als Jerry sich vornimmt, die Büroschönheit Fiona (Gemma Arterton) um ein Rendezvous zu bitten, erhält er von Bosco den erhofften Rückhalt. Dann aber geht der gemeinsame Abend furchtbar schief - und Mr. Whiskers fordert sein Herrchen auf, dies zum Anlass zu nehmen, seine finstere Seite auszuleben ...

Möchte man The Voices unbedingt mit einem Genrelabel versehen, so lässt sich die neuste Arbeit von Marjane Satrapi am ehesten als 'tragikomische Psycho-Groteske mit vereinzelten Horrorelementen' bezeichnen. Klingt zunächst sperrig, ist es auf gewisse Weise auch. Denn Satrapi, die ihren auf dem Studio-Babelsberg-Gelände entstandenen Film mit harmonischer Dudelmusik und einem dezent-makaberen Zeichentrickvorspann eröffnet, ist spürbar wenig daran interessiert, ein angepasstes Werk abzuliefern. Als Zuschauer muss man schon ein Faible fürs Absonderliche mitbringen und/oder durch Reynolds' vielschichtige Darbietung gefesselt werden, um Zugang zu The Voices zu finden. Gerade diese Herangehensweise ist es, durch die The Voices für den geneigten, sich diesem geistreichen Wahnwitz stellenden Zuschauer aber erst so denkwürdig wird. Denn mittels unentwegter narrativer Tonfallwechsel ist die Geschichte des in eine mordsmäßige Tragödie versinkenden Jerrys schwer vorhersagbar und konfrontiert das Publikum zudem schonungslos mit seinen Moralvorstellungen. Der sich in immer größere Schwierigkeiten manövrierende Jerry erregt gleichermaßen Mitleid, Abneigung, Gleichgültigkeit, Sorge um ihn und sogar Respekt vor ihm, all dies von Szene zu Szene wechselnd und dank des kurzweiligen, aber unterschwellig überraschend einsichtsvollen Drehbuchs stets fundiert.

Es gibt zahlreiche Filme, die sich mit kaputten Psychen beschäftigen, und es herrscht nicht einmal ein Mangel an guten Vertretern, dennoch ist The Voices wahrlich einzigartig: Die komödiantischen Sprengsel, allen voran die sketchartigen Gespräche zwischen Jerry und seinen Haustieren sowie sämtliche Momente die Satrapis Vision des Kleinstadtlebens offenbaren, meiden es, sich über Jerry lustig zu machen. Sofern Mr. Whiskers aber nicht gerade etwas sagt, das dermaßen falsch ist, dass man einfach lachen muss, lädt The Voices auch nicht ein, mit Jerry zu lachen. Stattdessen sind die humoresken Passagen durch und durch abstrus bis grotesk und somit diatanzierend. Sie sind zumeist sehr kurzweilig, zeugen von Einfallsreichtum und erleichtern den Einstieg in dieses Psychopathen-Psychogramm, da sie den Eindruck einer irrealen Geschichte erwecken. Aber je weiter The Voices voranschreitet und die Abgründe hinter den nie endenden bizarren Einfällen absteckt, desto glaubwürdiger, echter wird die Hauptfigur. Dies führt dazu, dass die spaßige Oberfläche von The Voices weit von unserem Alltag entfernt scheint, während der emotionale Weg Jerrys nahegeht. Ryan Reynolds zeichnet mit traurig-verängstigt-schüchternem Blick, erschreckendem Comedy-Timing und zielstrebigem Gestus einen faszinierend-komplexen Charakter, der ungewöhnlich genug ist, um inmitten Satrapis exzentrischer Inszenierung zu bestehen, der gleichzeitig aber so lebensnahe Gefühle hat, dass einem immer wieder das Lachen im Hals stecken bleibt. Zuweilen schwingt sich Jerry dank Reynolds' instinktiver Leistung gar zu einer astreinen Identifikationsfigur auf - bloß um wenige Sätze später effektiv an Slasher-Schurken zu erinnern.


Das breiteste Gefühlsspektrum deckt The Voices jedoch ab, sobald der Protagonist engere Bande mit einer weiteren Kollegin knüpft: Nachdem es mit der von Arterton ebenso selbstbewusst-arrogant wie witzig gespielten Fiona übel endete, geht Jerry auf die schüchterne, durch frühere Beziehungen verletzte Lisa zu. Diese wird von Anna Kendrick auf gewohnt zuckersüß-sympathische Weise gespielt, kitzelt aber glaubwürdig zuvor ungeahnte Seiten wach, die Jerry innewohnen. Aufgrund dessen unterbrechen Satrapi und Michael R. Perry die Schilderung des zuvor so schlichten Date-Abends durch einen Rückblick auf Jerrys Kindheit. Durch die Sound- und Schnittarbeit ist dieser wie aus einem Horrorfilm entliehen, aufgrund der Verletzlichkeit darlegenden Dialoge traurig und dank des Kontexts hochdramatisch - all dies, ohne die Gelegenheit für kleine grotesk-komische Elemente verstreichen zu lassen.

The Voices verdient, zumindest von jenen, die sich auf seine den Inhalt stützende atmosphärische Heterogenität einlassen können, schon allein aufgrund der Orchestrierung der Tonfallwechsel großen Respekt. Hinzu kommt, dass die Filmemacher ihre ausführlichen Recherchearbeiten zum Thema Geisteskrankheiten ebenso unaufdringlich, wie effektvoll ins fertige Werk einfließen lassen. Diese rabenschwarze Tragikomödie erhebt nie den Anspruch, ein Lehrbeispiel abzubilden, gleichwohl greifen sämtliche Aspekte von Jerrys Umfeld und Persönlichkeit so plausibel ineinander, dass spätestens in den finalen 15 Minuten die grausam simple Wahrheit auf das Publikum einbricht: Es ist einfach, für Unglücke einen Schuldigen ausfindig zu machen, allerdings machen wir es uns den Umgang mit diesen Schuldigen all zu einfach. Sei es rückblickend oder zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch hätten eingreifen können.

So beeindruckend The Voices seine thematischen Elemente auch darbietet, sei es erzählerisch oder durch die farbenkräftige Produktionsgestaltung, rundum makellos ist natürlich selbst dieser Film nicht. Zu den Stolpersteinen zählt etwa die Animation, die ermöglicht, dass Mr. Whiskers seinen Mund bewegt, aber nur in Profileinstellungen rundum überzeugen kann. Und so engagiert Gemma Arterton auch spielen mag, ist ihre Figur längst nicht mit den besten Dialogzeilen des Films gesegnet.

Jedoch wäre da noch der vor Originalität platzende, zunächst so befremdliche Abspann. Sitzenbleiben macht sich hier außerordentlich bezahlt, denn wenn Reynolds ein letztes Mal gen Kamera schaut, dringt dieser Blick fast schon ins Innere des Zuschauers vor. Und dieser darf daraufhin entscheiden, ob er kopfschüttelnd versucht, The Voices als haarstäubend abzutun. Oder ob er sich Jerrys Blick stellt - und allem, was in ihm mitschwingt. Gänsehaut nicht ausgeschlossen!

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