Donnerstag, 30. April 2015

The Voices


Magenta, Missgeschicke, Mord, Miau. Die US-amerikanisch-deutsche Gemeinschaftsproduktion The Voices ist ein manischer, mutiger Mischmasch aus Gemütszuständen. Daher wird sie sich schwer tun, ein Publikum zu finden. Für eine Komödie ist sie zu nachdenklich, für ein Drama ist sie zu abstrus-ulkig und für einen Horrorfilm ist sie nicht schaurig genug. Gerade diese tonale Schizophrenie, die gewiss einige Zuschauer verschrecken wird, ist jedoch zugleich eine große Stärke von The Voices. Denn Regisseurin Marjane Satrapi (Persepolis) und Drehbuchautor Michael R. Perry (Paranormal Activity 2) schwanken mit beachtlicher Zielstrebigkeit zwischen munteren und finsteren, absonderlichen und nachdenklichen Momenten hin und her. Und nähern sich dadurch eindrucksvoll dem Thema ihres Films. In dessen Mittelpunkt steht nämlich der unscheinbare Außenseiter Jerry, der unter Schizophrenie leidet und Hauptdarsteller Ryan Reynolds zu einer neuen Karrierebestleistung anspornt.

Der in einer abgeschiedenen, leicht dem Puls der Zeit hinterherhinkenden US-Kleinstadt lebende Jerry könnte kaum unscheinbarer sein: Fleißig geht er in einer Sanitärfabrik seinem Tagwerk als Verpacker nach, ohne je engere Bande mit seinen Kollegen zu knüpfen oder sich alternativ mit ihnen anzulegen. Nach Dienstschluss tauscht er seinen magentafarbenen Overall gegen unauffällige Jedermannsklamotten, geht allein Essen oder stapft direkt in seine Wohnung direkt über der örtlichen Bowlingbahn. Dort erwarten ihn sein Kater Mr. Whiskers, der mit seinem Herrchen umspringt wie es ihm beliebt, und sein Hund Bosco, eine gutmütige Seele, die dem einsamen Jerry stets Trost spendet. Und das nicht allein durch seinen treuseligen Blick, sondern auch mit Worten: Denn seit Jerry eigenmächtig die Psychopharmaka abgesetzt hat, die ihm seine Psychotherapeutin Dr. Warren (Jacki Weaver) verschrieben hat, hört er, wie seine Haustiere mit ihm sprechen. Während Mr. Whiskers mit rotzfrechem Mundwerk Jerry wahlweise runtermacht oder zu ungezogenem Verhalten anzustiften versucht, übernimmt Bosco die Rolle eines etwas schwerfälligen, geduldigen Engels. Als Jerry sich vornimmt, die Büroschönheit Fiona (Gemma Arterton) um ein Rendezvous zu bitten, erhält er von Bosco den erhofften Rückhalt. Dann aber geht der gemeinsame Abend furchtbar schief - und Mr. Whiskers fordert sein Herrchen auf, dies zum Anlass zu nehmen, seine finstere Seite auszuleben ...

Möchte man The Voices unbedingt mit einem Genrelabel versehen, so lässt sich die neuste Arbeit von Marjane Satrapi am ehesten als 'tragikomische Psycho-Groteske mit vereinzelten Horrorelementen' bezeichnen. Klingt zunächst sperrig, ist es auf gewisse Weise auch. Denn Satrapi, die ihren auf dem Studio-Babelsberg-Gelände entstandenen Film mit harmonischer Dudelmusik und einem dezent-makaberen Zeichentrickvorspann eröffnet, ist spürbar wenig daran interessiert, ein angepasstes Werk abzuliefern. Als Zuschauer muss man schon ein Faible fürs Absonderliche mitbringen und/oder durch Reynolds' vielschichtige Darbietung gefesselt werden, um Zugang zu The Voices zu finden. Gerade diese Herangehensweise ist es, durch die The Voices für den geneigten, sich diesem geistreichen Wahnwitz stellenden Zuschauer aber erst so denkwürdig wird. Denn mittels unentwegter narrativer Tonfallwechsel ist die Geschichte des in eine mordsmäßige Tragödie versinkenden Jerrys schwer vorhersagbar und konfrontiert das Publikum zudem schonungslos mit seinen Moralvorstellungen. Der sich in immer größere Schwierigkeiten manövrierende Jerry erregt gleichermaßen Mitleid, Abneigung, Gleichgültigkeit, Sorge um ihn und sogar Respekt vor ihm, all dies von Szene zu Szene wechselnd und dank des kurzweiligen, aber unterschwellig überraschend einsichtsvollen Drehbuchs stets fundiert.

Es gibt zahlreiche Filme, die sich mit kaputten Psychen beschäftigen, und es herrscht nicht einmal ein Mangel an guten Vertretern, dennoch ist The Voices wahrlich einzigartig: Die komödiantischen Sprengsel, allen voran die sketchartigen Gespräche zwischen Jerry und seinen Haustieren sowie sämtliche Momente die Satrapis Vision des Kleinstadtlebens offenbaren, meiden es, sich über Jerry lustig zu machen. Sofern Mr. Whiskers aber nicht gerade etwas sagt, das dermaßen falsch ist, dass man einfach lachen muss, lädt The Voices auch nicht ein, mit Jerry zu lachen. Stattdessen sind die humoresken Passagen durch und durch abstrus bis grotesk und somit diatanzierend. Sie sind zumeist sehr kurzweilig, zeugen von Einfallsreichtum und erleichtern den Einstieg in dieses Psychopathen-Psychogramm, da sie den Eindruck einer irrealen Geschichte erwecken. Aber je weiter The Voices voranschreitet und die Abgründe hinter den nie endenden bizarren Einfällen absteckt, desto glaubwürdiger, echter wird die Hauptfigur. Dies führt dazu, dass die spaßige Oberfläche von The Voices weit von unserem Alltag entfernt scheint, während der emotionale Weg Jerrys nahegeht. Ryan Reynolds zeichnet mit traurig-verängstigt-schüchternem Blick, erschreckendem Comedy-Timing und zielstrebigem Gestus einen faszinierend-komplexen Charakter, der ungewöhnlich genug ist, um inmitten Satrapis exzentrischer Inszenierung zu bestehen, der gleichzeitig aber so lebensnahe Gefühle hat, dass einem immer wieder das Lachen im Hals stecken bleibt. Zuweilen schwingt sich Jerry dank Reynolds' instinktiver Leistung gar zu einer astreinen Identifikationsfigur auf - bloß um wenige Sätze später effektiv an Slasher-Schurken zu erinnern.


Das breiteste Gefühlsspektrum deckt The Voices jedoch ab, sobald der Protagonist engere Bande mit einer weiteren Kollegin knüpft: Nachdem es mit der von Arterton ebenso selbstbewusst-arrogant wie witzig gespielten Fiona übel endete, geht Jerry auf die schüchterne, durch frühere Beziehungen verletzte Lisa zu. Diese wird von Anna Kendrick auf gewohnt zuckersüß-sympathische Weise gespielt, kitzelt aber glaubwürdig zuvor ungeahnte Seiten wach, die Jerry innewohnen. Aufgrund dessen unterbrechen Satrapi und Michael R. Perry die Schilderung des zuvor so schlichten Date-Abends durch einen Rückblick auf Jerrys Kindheit. Durch die Sound- und Schnittarbeit ist dieser wie aus einem Horrorfilm entliehen, aufgrund der Verletzlichkeit darlegenden Dialoge traurig und dank des Kontexts hochdramatisch - all dies, ohne die Gelegenheit für kleine grotesk-komische Elemente verstreichen zu lassen.

The Voices verdient, zumindest von jenen, die sich auf seine den Inhalt stützende atmosphärische Heterogenität einlassen können, schon allein aufgrund der Orchestrierung der Tonfallwechsel großen Respekt. Hinzu kommt, dass die Filmemacher ihre ausführlichen Recherchearbeiten zum Thema Geisteskrankheiten ebenso unaufdringlich, wie effektvoll ins fertige Werk einfließen lassen. Diese rabenschwarze Tragikomödie erhebt nie den Anspruch, ein Lehrbeispiel abzubilden, gleichwohl greifen sämtliche Aspekte von Jerrys Umfeld und Persönlichkeit so plausibel ineinander, dass spätestens in den finalen 15 Minuten die grausam simple Wahrheit auf das Publikum einbricht: Es ist einfach, für Unglücke einen Schuldigen ausfindig zu machen, allerdings machen wir es uns den Umgang mit diesen Schuldigen all zu einfach. Sei es rückblickend oder zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch hätten eingreifen können.

So beeindruckend The Voices seine thematischen Elemente auch darbietet, sei es erzählerisch oder durch die farbenkräftige Produktionsgestaltung, rundum makellos ist natürlich selbst dieser Film nicht. Zu den Stolpersteinen zählt etwa die Animation, die ermöglicht, dass Mr. Whiskers seinen Mund bewegt, aber nur in Profileinstellungen rundum überzeugen kann. Und so engagiert Gemma Arterton auch spielen mag, ist ihre Figur längst nicht mit den besten Dialogzeilen des Films gesegnet.

Jedoch wäre da noch der vor Originalität platzende, zunächst so befremdliche Abspann. Sitzenbleiben macht sich hier außerordentlich bezahlt, denn wenn Reynolds ein letztes Mal gen Kamera schaut, dringt dieser Blick fast schon ins Innere des Zuschauers vor. Und dieser darf daraufhin entscheiden, ob er kopfschüttelnd versucht, The Voices als haarstäubend abzutun. Oder ob er sich Jerrys Blick stellt - und allem, was in ihm mitschwingt. Gänsehaut nicht ausgeschlossen!

Montag, 27. April 2015

Nightcrawler



Obwohl Jake Gyllenhaal mit Donnie Darko einen großen Kultfilm in seiner Vita hat, für Brokeback Mountain bereits eine Oscar-Nominierung einheimste und er zudem dank des Big-Budget-Abenteuers Prince of Persia: Der Sand der Zeit als LEGO-Figur verewigt wurde, gilt der 1980 geborene Schauspieler noch immer nicht als ganz große Marke in Hollywood. Weshalb, ist schier unerklärlich. Denn der begnadete Bruder der ebenfalls sehr talentierten Maggie Gyllenhaal (Crazy Heart) liefert seit mehreren Jahren regelmäßig beachtliche Darbietungen ab. Nach dem rauen Found-Footage-Actiondrama End of Watch und dem hochspannenden Sebstjustizdrama Prisioners begeisterte Gyllenhaal zuletzt im surreal angehauchten PsychothrillerEnemy, den er mit einer filigran gezeichneten Doppelrolle aufwertete.

Diesen beeindruckenden Lauf toppt der Studienabbrecher jedoch mit der besten Schauspielleistung seiner bisherigen Karriere: Im Zentrum des medien- und gesellschaftssatirischen Kriminalthrillers Nightcrawler zeichnet er das einnehmende Psychogramm eines psychosozial gestörten Einzelgängers, der sich im Haifischbecken der US-Nachrichtenbranche nach oben arbeitet. Und in eben dieser Rolle weiß Gyllenhaal nicht nur darstellerisch zu verblüffen und auf düstere Weise zu unterhalten, sondern auch zu verstören.

„Stell dir eine schreiende Frau vor, die eine Straße entlang rennt – mit durchschnittener Kehle.“
Getrieben vom Kampf um die Quote sowie vom immer härter werdenden Wettstreit mit den neuen Medien werden die US-Lokalfernsehnachrichten immer skrupelloser. Die Folge dessen: Obwohl die Kriminalstatistiken einen beruhigenden Abwärtstrend belegen, steigt in der Bevölkerung die Angst vor Gewaltverbrechen. Denn durch die reißerische, pausenlose Berichterstattung der TV-News entsteht ein Gefühl der permanenten Bedrohung. Zu verdanken haben die Nachrichtenmacher ihr Bildmaterial unter anderem sogenannten Nightcrawlern, freischaffenden Reportern, die nachts Jagd auf spektakuläre Aufnahmen machen. Sie hören den Polizeifunk ab und ziehen in Großstädten ohne Unterlass ihre Kreise, um bei einem Unfall oder Verbrechen idealerweise noch vor der Polizei und den Sanitätern vor Ort zu sein. In dieser kompetitiven Subkultur journalistischen Schaffens werden Schnelligkeit und Dreistigkeit belohnt, ebenso wie ein Mangel an ethischen Bedenken.

In diesem desensibilisierten Markt entstehen Newsmagazine wie das der erfahrenen Nachrichtenchefin Nina (effizient: Rene Russo), die auf Anfrage ihre Sendung ohne mit der Wimper zu zucken als Horrorszenario beschreibt: „Stell dir eine schreiende Frau vor, die eine Straße entlang rennt – mit durchschnittener Kehle.“ Autor und Regiedebütant Dan Gilroy (Das Bourne Vermächtnis) befasst sich in Nightcrawler damit, was passiert, wenn sich dieser amoralischen, zügellosen Branche ein von der Welt entfremdeter Einzelkämpfer wie Lou Bloom (Jake Gyllenhaal) anschließt.

Lou ist zu Beginn des Films ganz unten angekommen: Ohne feste Anstellung und ohne Bestimmung hangelt er sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Notgedrungen vertickt der überaus eloquente, gleichwohl unterkühlte, im zwischenmenschlichen Kontakt peinlich berührte Tagelöhner Metallreste, die er auf der Straße findet oder gelegentlich auch mal stiehlt. Als der Nachtschwärmer aber mitansieht, wie der Kameramann Joe Loder (Bill Paxton) die dramatische Rettung einer Frau aus ihrem Autowrack filmt, glaubt Lou, seine Berufung entdeckt zu haben. Mittels Internetkursen erlernt er eilig das Handwerk des TV-Journalismus und macht sich bald darauf mit einem günstig erworbenen Camcorder ans Werk. Technisch besteht bei ihm zunächst viel Luft nach oben, aber Lous Anpassungsfähigkeit verhilft ihm dennoch zu einem Engagement für Ninas auf wackligen Beinen stehendes Nachrichtenformat.

Daran, dass diese unheilige Ehe nicht gut gehen kann, lässt Gilroy keinerlei Zweifel entstehen. Dies bedeutet aber nicht, dass Nightcrawler ohne Suspense auskommt. Viel mehr gewinnt die Story ihre Spannung aus dem unwohlen Gefühl, das sich ab dem ersten Aufeinandertreffen zwischen Nina und Lou einstellt. Denn obwohl klar ist, dass Schlimmes geschehen wird, so ist lange Zeit nicht abzusehen, in welche Richtung sich Ninas und Lous Zusammenarbeit entwickelt – wer ist der Wolf und wer ist das Lamm?

"Lou verkörpert am Anfang der Geschichte die entfremdete, junge Generation mit düsteren Zukunftsaussichten. Statt Karriere und Vollzeitarbeit haben Sie nur noch Praktika und Mindestlohn zu erwarten. Ich will die schreckliche Wahrheit aufzeigen, dass nicht Lou das eigentliche Grauen ist, sondern die Welt, die ihn geschaffen hat und für sein Handeln belohnt." - Regisseur und Autor Dan Gilroy

Ein grausames Produkt seiner Welt
Mehr noch als die Anspannung, die durch das verschlagene Skript entsteht, fesselt in Nightcrawler jedoch die preisverdächtige schauspielerische Leistung Jake Gyllenhaals, der sich völlig in seiner Rolle verliert. Er kreiert mit Lou einen der packendsten Anti-Helden der vergangenen Kinojahre, ohne sich dabei auf die üblichen Manierismen solcher Figuren zu verlassen. Mit mechanisch vorgetragenen Monologen, weit hervorstehenden, neugierigen Augen und kontrollierter Mimik und Gestik ist Lou nicht nur faszinierend befremdlich, sondern lässt auch unausgesprochen eine Erklärung für sein Verhalten zu. Lou trampelt nicht auf den Gefühlen seines Umfelds herum, weil er raffgierig ist. Und er misst der Perfektion seiner Kameraaufnahmen nicht etwa einen höheren Wert als der Pietät zu, weil er seinen Anstand runter schluckt. Lou hat ganz klar eine psychosoziale Störung, befindet sich irgendwo auf dem breiten Spektrum an Asperger-Erkrankungen – er kann keine Gefühle deuten, er ist ohne neuen Input unfassbar gelangweilt und dafür umso engagierter, wenn er Informationen verarbeiten oder möglichst akkurat wiederholen kann.

Dies entschuldet Lou nicht für seine im Namen des TV-Journalismus getätigten Verletzungen ethischer Regeln, allerdings macht ihn dies viel interessanter, als es schiere Habgier würde. Zumal sein kindliches Strahlen, wann immer er einen perfekten Kamerawinkel gefunden hat, ihm lange all seinen Taten zum Trotz ein Minimum an Sympathie sichert. Er ist einfach zu froh, endlich etwas gefunden zu haben, das er wirklich beherrscht und für das er entlohnt wird, als dass er von vornherein dafür verurteilt werden könnte. Dass er moralische Grenzen übertritt, welche er ja eh nicht begreift, ist schlussendlich auch Schuld seiner Auftraggeber – immerhin verlangen sie immer derberes Material. Trotzdem macht Gyllenhaal seinen Soziopathen nie zu einem verkannten Helden – dank kleiner Gesten unterstreicht er unentwegt, dass Lou jemand ist, der in seinem Streben nach Effizienz keinen Makel erkennt und dem man sich daher besser nicht anvertrauen sollte.

Obwohl Gyllenhaals Performance allein reichen würde, um Nightcrawler zu einem Pflichfilm für jeden zu machen, der sich für Journalismus und/oder Antiheden interessiert, trumpft Gilroys Medienthriller auch mit starker Bildästhetik auf. Kameramann Robert Elswit (There Will Be Blood) kreiert großartige Nachtaufnahmen, mit glänzenden Farben und tiefem, sattem Schwarz, die aus dem nächtlichen Los Angeles einen gleichermaßen visuell ansprechenden wie atmosphärisch einschüchternden Ort machen. Komponist James Newton Howard derweil unterstützt tatkräftig die zweischneidige Stimmung des Films, indem er grausige Szenen mit coolen E-Gitarren-Riffs untermalt, während harmlosere Momente durch ruhigere, schaurigere Musik beklemmend werden.

So lassen sich auch ohne Weiteres die einzelnen, kleinen Schwächen von Nightcrawler verschmerzen. Zum Beispiel ist Lous Assistent Rick (Riz Ahmed) vergleichsweise blass geschrieben, weshalb seine Szenen den immensen Drive dieses Films leicht ausbremsen. Ganz verzichtbar ist diese Figur indes nicht, ist Rick doch wichtiges Element mehrerer Szenen, die Nightcrawler um ein nachhallendes Element bereichern. Denn Gilroys satirische Seitenhiebe enden nicht allein bei blutgeifernden Lokalnachrichten. Nightcrawler attackiert den Stand des Journalismus an sich sowie die Zahlungs- und Ausbildungsmoral, die sich generell in vielen Branchen ausbreitet. Diese Mentalität ist schlussendlich der wahre Schurke in diesem Ausnahmefilm. In einem Arbeitsmarkt, der einer ganzen Generation von Jobsuchenden keine langfristigen Aussichten ermöglicht und der eine Ellenbogenmentalität befürwortet, sind wir bedrohlich nah daran, Tausende Lou Blooms heranzuzüchten. Und kaum jemand hat genügend Anstand, etwas dagegen zu unternehmen …


Fazit: Nightcrawler ist spannend, unheilvoll sowie bitterböse. Und Jake Gyllenhaal gibt die beste Leistung seines bisherigen Lebens!

Sonntag, 26. April 2015

Mommy


Der kanadische Filmemacher Xavier Dolan ist ein wahres Wunderkind. Mit seinen 25 Jahren müsste er eigentlich als Newcomer gelten. Tatsächlich gehört er allerdings, wenn man so will, zu den erfahrenen Meistern seines Fachs: Seit 2009 veröffentlichte der arbeitswütige Regisseur, Autor, Schauspieler und Cutter fünf Langfilme, die allesamt auf Filmfestivals für großes Aufsehen sorgten und nahezu einstimmige Lobeshymnen von Kritikern und Cineasten erhalten haben. Mit Mommy gelang ihm endgültig der Aufstieg in die obere Regiegarde: Auf den Filmfestspielen von Cannes 2014 gewann das Drama den Preis der Jury, womit Dolan altehrwürdige Konkurrenz wie Ken Loach, Jean-Luc Godard oder Mike Leigh ausstach.

Und dies völlig verdient. Denn mit Mommy gelang dem Kanadier ein intellektuell-kunstvoll ausgearbeitetes, hochemotionales Familiendrama, das sich mit authentischem Blick zwischenmenschlichen Problemen nähert. Dieses ist in einer nahen, hypothetischen Zukunft angesiedelt, in der ein Gesetz es Eltern gestattet, die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder einem speziellen Krankenhaus zu übertragen, sollten sie sich körperlich oder geistig bedroht fühlen. Abseits dieses in einer einleitenden Texttafel erläuterten Aspekts wirkt Mommy dagegen so, als hätten sich die Protagonisten aus nostalgischen Überbleibseln der späten 90er-Jahre und der ersten Jahre nach der Jahrtausendwende einen emotionalen Schutzwall gebaut.

So scheinen der Modesinn und weite Teile der sozialen Gepflogenheiten der alleinerziehenden Diane Després (Anne Dorval) in ihren Jugendjahren stehengeblieben zu sein. Die riesige Ohrringe tragende, auf den Rufnamen „Die“ hörende Witwe benutzt so viel Schminke wie eine rebellische 14-Jährige, die glaubt, mit ihrem knalligen, pseudo-aufreizenden Outfit als 17 durchzugehen. „Die“ hat einen hyperaktiven pubertierenden Sohn namens Steve (Antoine-Olivier Pilon), der sich aufgrund seiner Gewaltexzesse mehrmals Ärger mit dem Gesetz einbrachte. Als Steve in einer besonderen Schuleinrichtung für psychisch kranke Heranwachsende einen seiner Mitschüler schwer verletzt, wird er der Institution verwiesen und in die alleinige Obhut seiner Mutter übergeben. Diese befindet sich fast unentwegt auf Jobsuche, was ihre Geldreserven nahezu komplett aufgebraucht hat. Schon allein daher kann sie sich den Stress und den Zeitaufwand, Steve von Zuhause aus zu unterrichten, nicht leisten.

Dass Steve dank seiner hochkochenden Hormone nun ungehaltener ist denn je, macht alles nur noch schlimmer. Zum Glück lernt „Die“ aber Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) kennen, eine langfristig beurlaubte Lehrerin, die aufgrund eines grausamen Vorfalls traumatisiert ist und seither stottert. Die gutmütige, ebenso schüchterne wie geduldige Kyla greift „Die“ so gut sie nur kann unter die Arme und freundet sich auch mit Steve an. Die Balance, die Kyla in das Leben des verdrießlichen Mutter-Sohn-Gespanns bringt, ist aber sehr fragil …

Xavier Dolan unternimmt mit Mommy einen waghalsigen Drahtseilakt, denn er erlaubt Steve und „Die“, sich wie reale Menschen aus der oberen Unterschicht zu verhalten. Er verzichtet ebenso auf das Filmvergnügen erleichternde, klischeebeladene Kunstgriffe, wie auf eine beschönigende Charakterzeichnung oder auch eine klare Trennung zwischen „gut“ und „böse“. Mommy ist kein simples Drama über einen missverstandenen Raufbold, der seiner Mutter beweist, dass sie nur lernen muss, das Gute in ihm zu sehen. Genauso wenig ist es strikt als inspirierende Charakterstudie über eine eifrige Mutter aufzufassen, die ihren aggressiven Sohn zähmt. Stattdessen sind der unter ADHS leidende Bube und seine nie so ganz aus der Pubertät entwachsene Mutter in ihrem Verhalten überaus real – und damit erschreckend unvorhersehbar. Beide können unfassbar vulgär, störrisch und laut sein, nur um wenige Filmminuten später einfühlsam und selbstlos zu agieren, wodurch sie ihre Liebe zueinander zum Ausdruck bringen.

Mommy ist als filmisches Konstrukt daher ähnlich fragil wie der Haussegen der Familie Després. All zu leicht könnte aus dem authentischen Wankelmut einer ausgebrannten Mutter und eines hitzköpfigen Sohnes eine narrative Willkür werden. Ohne Weiteres könnten das ständige Gezeter und die impulsiven Handgreiflichkeiten den Zuschauer unwiderruflich von den Després' abbringen, so dass die herzliche Seite des Films jegliche Wirkung verliert. Im Gegensatz zu den glückseligen Momenten, die bei Steve, „Die“ und Kyla sehr rar gesät sind, hält Dolans Glanzstück aber sämtlichen Widrigkeiten stand. Und dies, obwohl eine zu strenge Geste, ein melodramatischer Dialog oder eine forcierte Kameraeinstellung alles zerstören könnte, was Dolan hier mühevoll aufgebaut hat. Dass dies nicht passiert, zeugt von der Präzision, mit der das cineastische Nachwuchsgenie das Geschehen in Szene setzt, sowie von der fesselnden darstellerischen Kraft der drei zentralen Schauspieler.

Der bestechendste Kniff Dolans ist es, Mommy im außergewöhnlichen Bildformat 1:1 zu filmen. Das quadratische Format ist nicht bloß beklemmend, und lässt das Publikum somit intensiver am einengenden Gefühlsdilemma der Figuren teilhaben, sondern zwingt den Betrachter zugleich, sämtliche Aufmerksamkeit auf die gefühlsgeladenen Darbietungen zu lenken. Alles andere verschwindet, egal, wie wichtig es vielleicht ist. Der Cast ist den damit einhergehenden Anforderungen mehr als bloß gewachsen: Die atemberaubende Anne Dorval vereint jede nur erdenkliche Facette einer alleinerziehenden Mutter, macht ihre Wut und Verzweiflung ebenso glaubwürdig und greifbar wie ihre Hoffnungen, Wünsche und eben jene unbeschwerten Augenblicke, die sich ihr im Laufe der am Zuschauer vorbeirauschenden 134 Minuten so selten erbieten.

Antoine-Olivier Pilon steht seiner Leinwandmutter in nichts nach. Obschon er Steves Aggressionsschübe mit solch einer Wucht vermittelt, dass es einem angst und bange werden kann, lässt er stets auch einen verletzlichen, überlasteten Kern durchschimmern. Er macht aus diesem Rüpel – und Steve ist unmissverständlich ein kleines Ekelpaket – einen Fall, den man nicht aufgeben will. Zu deutlich ist es, dass seine Pubertät, seine schwierige Vergangenheit und seine psychische Erkrankung unglücklich zusammentreffen und Steve eigentlich ein lieber Kerl sein will – was sich zum Beispiel zeigt, wenn er zu einem optimistischen Céline-Dion-Klassiker tanzt oder seiner Mutter beim Karaoke einen Andrea-Bocelli-Schlager widmen möchte.

Suzanne Cléments Rolle der Kyla ist zwar längst nicht so komplex, trotzdem besticht auch sie mit intensiven Sequenzen. Besonders lange bleibt ihr Zusammenspiel mit Pilon alias Steve hängen, dem sie mehrmals die Stirn bieten muss. In ihrer heftigsten Auseinandersetzung macht Dolan meisterhaft Gebrauch vom 1:1-Format, zoomt direkt auf das Profil der sich ankeifenden Figuren – und macht so jede einzelne nervöse Zuckung, aber auch die Entschlossenheit Kylas ersichtlich. Aber nicht nur die Darbietungen und die versierte Kameraführung lassen Dolans Drahtseilakt gelingen. Die mal bezaubernd-naive, mal tragisch-doppelbödige Untermalung dieses Familiendramas mit eingängigen Popsongs verleiht diesem Akt den letzten Schliff, macht ihn noch eindringlicher. Und so vollbringt Dolan es, dass man sich als Zuschauer nicht mehr von diesen Charakteren lösen möchte, denen er im wahren Leben wohl den Rücken kehren würde. Denn sie sind uns oftmals näher, als wir wohl jemals zugeben würden.


Fazit: Erstklassige Schauspieler, Figuren, die den Zuschauer herausfordern, und ebenso magische wie bedrückende Momente, wie aus dem Leben gegriffen: Mommy ist schroff, hoch emotional, brillant.

Die Pinguine aus Madagascar


Die Madagascar-Trilogie gehört zu den ganz großen Rennern in der Welt des Animationsfilms. Weltweit spülte das Franchise aus dem Hause DreamWorks Animation über 1,88 Milliarden Dollar in die Kinokassen und allein in Deutschland verkaufte das tierische Quartett Marty, Alex, Melman und Gloria mehr als 16,75 Millionen Eintrittskarten. Mit ihrem immensen Publikumserfolg geben die launischen Zootiere so manchem Trickfilmliebhaber jedoch auch Rätsel auf. So auch mir. Denn die chaotischen Komödien rund um die aus dem New Yorker Zoo ausgebüxten Cartoonhelden haben weder die Spitzfindigkeit der ersten Shrek-Teile, noch haben die Hauptfiguren solch eine gewinnende Persönlichkeit wie die zentralen Helden in Drachenzähmen leicht gemacht.

Dass die Madagascar-Streifen dennoch zu überragenden Selbstläufern wurden, ist wohl zu nicht unerheblichem Teil vier schwarz-weißen Nebenfiguren zu verdanken: Den unberechenbaren, leicht durchgeknallten Pinguinen. Schon in Teil eins wurden sie zu wahren Publikumslieblingen, in Part zwei überflügelte ihr spritziger Subplot mühelos die eigentliche Story und auch in Teil drei sorgten sie für herzliche Lacher. Kein Wunder, dass das eingespielte Team bestehend aus Skipper, Rico, Kowalski und Private bereits seit 2008 in seiner eigenen Fernsehserie zu sehen ist. Da das quirlige, mit ungeheuerlich hohem Tempo vorgehende Format Die Pinguine aus Madagascar bewies, dass die watschelnden Vögel auf eigenen Füßen stehen können, fiel 2011 der Startschuss für die Produktion eines Pinguin-Kinofilms. Dieser orientiert sich trotz mancher Anspielungen auf die Madagascar-Filme näher am Tonfall der Nickelodeon-Fernsehserie, was einige Pluspunkte mit sich bringt – aber auch den einen oder anderen Wermutstropfen.

Bevor die eigentliche, während Madagascar 3: Flucht durch Europa spielende, Handlung einsetzt, blicken die Regisseure Simon J. Smith (Bee Movie) und Eric Darnell (Madagascar 1 – 3) einige Jahre zurück und erzählen vom ersten Abenteuer der Seevögel: Die drei Pinguin-Kinder Rico, Skipper und Kowalski hinterfragen als einzige in ihrem Umfeld das eintönige Dasein, das ihre Artgenossen in der Antarktis führen. Als ein Ei dem nahezu sicheren Verderben entgegen kullert, bricht das starrköpfige Trio aus der Monotonie aus und setzt alles dran, dieses Ei zu retten. Nach allerlei turbulentem Slapstick und bissigen Begegnungen mit einem sensationsgierigem Dokumentarfilm-Team ist es in Sicherheit: Rico schlüpft und komplettiert als süßer Knirps das dem Kinogänger bereits bestens bekannte Pinguin-Team.

Zehn Jahre später machen Truppenführer Skipper (Stimme: Tom McGrath/Michi Beck), das vermeintliche Genie Kowalski (Chris Miller/Thomas D) und der wortkarge, verfressene Rico (Conrad Vernon/And.Ypsilon) ihrem Freund Private (Stimme: Christopher Knights/Smudo) ein ungewöhnliches Geburtstagsgeschenk: Einen (mit perfekt sitzenden Filmreferenzen gespickten) Einbruch in das US-Goldlager Fort Knox. Währenddessen kommt es jedoch zu Komplikationen, die Private wiederum vor Augen führen, dass er von seinen Weggefährten nicht als gleichwertiges, unverzichtbares Mitglied dieser Teilzeit-Geheimagenteneinheit betrachtet wird.

Eine Gelegenheit, seine Sorgen anzusprechen, hat Private nicht, denn in Fort Knox gerät das Quartett in die Fänge des manischen Oktopus Dave (John Malkovich/Ilja Richter). Dieser hat über Jahre hinweg einen Hass auf Pinguine entwickelt, weil diese mit ihrem knuffigen Auftreten weniger süßen Tieren jegliche Aufmerksamkeit stehlen. Nun aber hat er eine Geheimwaffe entwickelt, die es ihm ermöglicht, liebliche Tierchen in abscheuliche Kreaturen zu verwandeln. Aufgrund dieser Erfindung ist der Geheimdienst Nordwind hinter dem wahnsinnigen Schurken her. Und so kommt es zwischen den Pinguinen und Nordwind zum stetigen Zank um die Zuständigkeit in diesem Fall …

Der Die Pinguine aus Madagascar-Kinofilm hat paradoxerweise sowohl sehr viel Plot als auch sehr wenig Handlung: Zwar werden sehr viele Geschichten angeschnitten, die allesamt Auslöser für ihre ganz eigenen Gags sind, doch keiner dieser Plots wird sonderlich tief ausgelotet. Am ehesten schröpfen die Autoren John Aboud, Michael Colton und Brandon Sawyer Privates Wunsch nach Anerkennung, aber selbst dieser Handlungsfaden wird durch bewusst dick aufgetragene Zeilen von ihnen gelegentlich auf den Arm genommen.

Was der storytechnisch keine Überraschungen wagenden 132-Millionen-Dollar-Produktion an emotionaler Tiefe mangelt, macht sie durch ihr rasantes, an klassische Looney Tunes-Verrücktheiten erinnerndes Gagfeuerwerk wett. Ob origineller Wortwitz, denkwürdig alberne Dialoge (etwa die wiederholten Diskussionen der Pinguine über die Aussprache oder Bedeutung diverser Begriffe), gekonnte Popkulturreferenzen oder herrlicher Cartoon-Slapstick: In den rund 90 Filmminuten bleibt kaum ein Auge trocken, da nahezu jede Humorfarbe bedient wird.

Durch die zahlreichen, nicht sonderlich ausgeloteten Handlungsfäden will zwar nur selten echtes Kinofeeling aufkommen, wenn das von den Pinguinen ausgelöste Chaos aber leinwandfüllende Ausmaße annimmt, dann so richtig. Ob eine halsbrecherische, urkomische Verfolgungsjagd durch Venedig, der bereits in Teilen im Trailer gezeigte Sprung der Pinguine aus einem Flugzeug oder das ungezügelte Finale: Die Pinguine aus Madagascar will gar nicht erst am technischen Kräftemessen zwischen Disney/Pixar und DreamWorks Animation teilhaben, sondern mit seiner Farbenfreudigkeit, Energie und Lockerheit bestechen. Was nicht heißen soll, dass die Animation in dieser Produktion völlig ambitionslos ist: Der glitschige, wendige und andauernd theatralische Posen einnehmende Superschurke Dave sollte für jeden Animationsliebhaber eine wahre Freude sein. Dass er obendrein dank einer fantastischen Sprechperformance (egal ob im Original durch einen amüsierten John Malkovich oder im Deutschen durch den begnadeten Synchronsprecher Ilja Richter) die wohl lustigste Figur im Film ist, ist bei der vitalen Animation fast schon zweitrangig.

Die Geheimorganisation Nordwind derweil bleibt fast durchgehend blass: Der Eisbär Corporal (Peter Stormare/Dennis Schmidt-Foß) und die Robbe Kurze Lunte (Ken Jeong/Michael Pan) sind eher Ballast für das zügig-tumultatige Abenteuer, auch Schneeeule Eva (Anna Mahendru/Conchita Wurst) bleibt kaum in Erinnerung. Allein der Nordwind anführende Wolf (Benedict Cumberbatch/Heino Ferch) verleiht dem Film mit seiner Selbstverliebtheit und Technikbesessenheit zusätzlichen Witz und eine gewisse Würze. Somit gilt bei Die Pinguine aus Madagascar dennoch das Gegenteil zu dem, was bei der Madagascar-Trilogie festzuhalten war: Hier sorgt der Großteil der Figuren ununterbrochen für Lacher, während nur einzelne Randcharaktere den Spaß ausbremsen.

Bleibt die Frage, weshalb diese Trickkomödie im Kino weit unter den Erwartungen abschnitt: In den USA wurden rund 50 Millionen Dollar weniger eingespielt als die vorsichtigsten professionellen Prognosen besagten, auch im Rest der Welt erhofften sich viele Branchenbeobachter mehr. Vielleicht haben einige ältere Kinogänger ihn aufgrund der Konnotation mit der Nickelodeon-Familienserie unfairerweise als 'Kinderkram' abgetan? Oder lag es daran, dass doch mehr Filmfreunde die Madagascar-Hauptfiguren vermisst haben, als es Leute wie gedacht hätten? Für mich steh jedoch fest: Verdient ist dieser Misserfolg nicht!

Fazit: Mit seiner Unverblümtheit und hohen Gagfrequenz hat es Die Pinguine aus Madagascar ganz versiert auf die Lachmuskeln seiner Zuschauer abgesehen. Alles andere, etwa Plot, Logik und Charakterentwicklung, ist nur Geheimsache, äh, Nebensache.

Mittwoch, 22. April 2015

Avengers: Age of Ultron


Es könnte so einfach sein, zu erläutern, was die Marvel Studios und Joss Whedon mit Avengers: Age of Ultron bewerkstelligt haben. Eine kurze und knappe Gegenüberstellung genügt: Age of Ultron verhält sich zu Marvel's The Avengers wie Pirates of the Caribbean: Am Ende der Welt zu Fluch der Karibik. Damit habe ich alles gesagt. Viel Spaß im Kino! Adieu!

Na gut. Ganz so leicht ist es wohl leider nicht. Schließlich ist Am Ende der Welt hinsichtlich seiner Rezeptionsgeschichte ein ziemlich schwieriger Film. Einerseits steht er mit einem Einspielergebnis von 963,4 Millionen Dollar deutlich stärker da als Käpt'n Jack Sparrows 658,3 Millionen Dollar schweres erstes Leinwandabenteuer. Andererseits ist der dritte Teil der Piratensaga mit einem IMDb-Durchschnittswert von 7,1 Punkten ein gutes Stück unpopulärer als das mit 8,1 Punkten bewertete Original. Und die professionellen Rezensionen erst: Während Teil eins nahezu einhellig umjubelt wurde, spaltete der dritte Teil die Gemüter: Harsche Kritik, vollkommene Gleichgültigkeit und verhaltener Positivismus hielten sich nach Kinostart nahezu die Waage. Dann wiederum gibt es jene eloquente Minderheit, die Am Ende der Welt energisch über den grünen Klee lobt. Wie etwa Filmkritiker Mark Sinker, der Gore Verbinskis bislang kostspieligste Regiearbeit in die renommierte Sight & Sound-Rangliste gehievt hat, oder Filmprofessor Henry Jenkins. Dieser sieht die über den Rand der Welt hinausführende Reise als Höhepunkt der ursprünglichen Trilogie an und feiert sie als transmediales Entertainment in Höchstform.

Angesichts einer derart schizophrenen Rezeptionsgeschichte muss ich meinen "Age of Ultron ist wie Am Ende der Welt"-Vergleich wohl genauer erläutern ... Zunächst ist mein Vergleich keineswegs als qualitative Einschätzung beabsichtigt, laut der beide Werke gleich gut sind. Er ist eher als persönlich gefärbte Zeugenaussage gemeint. Denn zwischen den beiden Filmen bestehen gewaltige Parallelen. Sie sind eng verwandt hinsichtlich ihrer Art des Geschichtenerzählens und ihres Tonfalls. Und sie gleichen sich dahingehend, wie sie sich vom Erstling (hier gemeint: Fluch der Karibik und Marvel's The Avengers) entfernen und sogar in ihrer Optik haben sie vergleichbare Ansätze. 


Um das Pferd (den Roboter? den Windjammer?) von hinten aufzuzäumen: Am Ende der Welt und Age of Ultron teilen sich keine Schauplätze. Allerdings teilen sie die Mentalität, im Gegensatz zum jeweiligen Original Orte zu besuchen, die in ihrem Genre weniger naheliegend sind. Fluch der Karibik ist ein Piratenfilm, der in der Karibik spielt, inklusive Schatzhöhle, weißem Sandstrand und einer historisch weitestgehend akkuraten Hafenstadt. Der Endkampf in Avengers derweil spielt, wie es sich für einen Superheldenfilm wohl gehört, in Manhattan, und auch der militaristische Helicarrier ist ebenso wie das S.H.I.E.L.D.-Quartier kein Schauplatz mit völlig ungewohnter Ausstrahlung. Am Ende der Welt unterdessen führt unsere Karibik-Piraten unter anderem in einen versifften Hafen in Singapur, quer durchs ewige Eis, ins Reich der Toten und in eine Stadt, die aus zerstörten Segelschiffen erbaut wurde. Thematisch und atmosphärisch alles angebracht für ein Fantasy-Piratenepos, trotzdem ist es weit, weit davon entfernt, generisch zu sein. Age of Ultron geht nicht ganz derart verschrobene Wege wie das von Ted Elliott und Terry Rossio erdachte, rumgetränkte Abenteuer. Dessen ungeachtet erhält das neue Superhelden-Aufeinandertreffen sehr viel seines Flairs dadurch, dass Joss Whedon nicht stets die für ein US-Superheldenspektakel offensichtlichsten Orte besucht.

Verstärkend kommt hinzu, dass Whedon und Guardians of the Galaxy-Kameramann Ben Davis selbst filmisch bereits ausgeloteten Schauplätzen wie Johannesburg etwas Frisches, Ungewöhnliches abringen: Sie filmen die südafrikanische Metropole nicht wie District 9-Macher Neill Blomkamp in allem Detailreichtum ab, sondern fangen Johannesburg (und sämtliche weiteren Kampfplätze) expressionistisch ein. Mit kräftigen, teils anaturalistischen Farben und starker Linienbetonung distanzieren sie die Hintergründe von Avengers: Age of Ultron zumindest ein Stück weit unserer Realität. Sie werden abstrahiert, um ein komplexes Spiel mit der Handlung und dem Gemüt der Figuren einzugehen, ohne aber die Avengers je völlig unserer Welt zu entreißen und zu einer kosmischen Comicheft-Chaostruppe wie die Guardians of the Galaxy zu formen. Die Marvel Studios erheben dank Whedons Inszenierung, Davis' Lichtsetzung und der subtil-außergewöhnlichen Produktionsgestaltung von Charles Wood, Ray Chan und Domenico Sica die Avengers-Geschichte stattdessen nach langem Warten zu einer Mythologie. Genauer gesagt zu einer nerdig-verqueren Mythologie, die ihre (mehr und mehr ins Verborgene kehrenden) Wurzeln in unserem Alltag hat.

Womit sich die nächsten entscheidenden Parallelen zwischen Am Ende der Welt und Age of Ultron aufdrängen. Denn beide Filme bieten an der äußersten Oberfläche eskapistische Unterhaltung im Stile des jeweiligen Originalfilms – bloß um ein Vielfaches pompöser (sowohl im Hinblick auf die Laufzeit als auch hinsichtlich des Tumults in den Actionszenen) und dramatischer: Es steht mehr auf dem Spiel und es geht mehr zu Bruch! Sobald man sich als Betrachter aber nicht einfach nur von den überwältigenden Bildern berieseln lässt, eröffnet sich eine Narrative, die gänzlich neue Horizonte eröffnet als die ursprünglichen Produktionen. Fluch der Karibik ist hauptsächlich daran interessiert, ein Swashbuckler mit launigem, übernatürlichem Element zu sein. Und Marvel's The Avengers verlässt sich (zu äußerst vergnüglich-mitreißenden Ergebnissen) auf den "Wow, viele coole Superhelden müssen an einem Strang ziehen!"-Faktor.

Joss Whedons zweite Marvel-Mission hingegen schert sich, genauso wie Verbinskis 300-Millionen-Dollar-Mammutproduktion, kaum mehr um Einsteigerfreundlichkeit und lässt zudem viele der im Popcornkino üblichen Stützen fallen. Beide Filme setzen darauf, dass sich Kinogänger entweder gänzlich ohne Widerrede auf eine wilde Reise mitnehmen lassen oder dass sie genau der Erzählung folgen. Klassisch-offensichtliche Plot-Exposition und die ausführliche, unmissverständliche Erläuterung sämtlicher Spielregeln der jeweiligen Filmuniversen werden dagegen ausgelassen. Gelegenheitsnörgler und Zuschauer, die zwar gewisse Ansprüche an den Plot stellen, aber angesichts der immensen Materialschlachten nicht jedes minutiöses Detail aufsaugen wollen, lassen Am Ende der Welt und Age of Ultron also mit einer selbstbewussten Attitüde außen vor. Entweder betrachtet man die Filme als cineastisches Feuerwerk oder als ausgefeilte Mythen mit opernhafter Tragweite und komplexen Mechaniken, die im Hintergrund ablaufen und so dem simplen Grundplot zusätzliche Dimensionen verleihen. Ein halbherziges "Ein bisschen Story, ein wenig Krawall!" ist da als Betrachtungsweise nicht vorgesehen.


In weiser Voraussicht gestaltet Joss Whedon den zentralen, stets vorantreibenden Plot von Avengers: Age of Ultron simpel genug, damit er in seiner rudimentärsten Ausführung ganz leicht verfolgt werden kann: Die problemfreie Zeit der Avengers nimmt ein jähes Ende, als Tony Stark eine Künstliche Intelligenz namens Ultron erschafft, die den Begriff 'Weltfrieden' sehr radikal interpretiert und daher dringend gestoppt werden muss. Aber ganz oberflächlich betrachtet handelt Am Ende der Welt ja auch nur davon, dass der Ära der Piraterie ein brutales Ende droht, weshalb die berüchtigsten aller Piraten vereint werden müssen, ehe sie sich ihren extrem fähigen Widersachern stellen. Und trotzdem finden sich zahllose professionelle Kritiken, laut denen das Epos "schwer verständlich", "verwirrend", "überreizend und kompliziert" oder schlicht undurchschaubar "kopflastig" sei. Was auch daran liegt, dass jede der Figuren ihre eigene geheime Agenda hat und eine eigene Hintergrundgeschichte mitbringt, deren Verständnis für den groben Gesamtüberblick kaum von Bedeutung ist, dafür umso mehr Relevanz hat, möchte man begreifen, wie die zahllosen Zahnräder dieses verflochtenen Handlungskonstrukts ineinander greifen.

Avengers: Age of Ultron ist da kaum anders. Wer bei diesem mit überragenden Effekten bespickten filmischen Ritt durch eine faszinierende Comic-Mythologie nicht nur die spektakuläre, abwechslungsreiche Action bestaunen und über die raffinierte Dialog- und Situationskomik lachen will, bekommt ein minutiös ausgearbeitetes Geflecht aus Charaktermotivationen und innerhalb des Filmkosmos geltenden Legenden geboten. Bei dieser Bandbreite an Figuren, Orten, Artefakten und Ereignissen den Überblick über sämtliche Zusammenhänge zu bewahren ist im Anbetracht der umwerfenden Schauwerte, des zügigen Erzähltempos und der niedrigen Anzahl an "Erklärpausen" nicht das Einfachste in der jüngeren Popcorn-Kinogeschichte. Unnötig verschachtelt ist Age of Ultron dank des zielsicheren Storytellings aber auch nicht. Dieses Crossover ist bloß reich an Elementen, die das Erlebnis bereichern. Umso faszinierender, dass der Film bei komplett zurückgelehnter Zuschauerhaltung problemlos funktioniert. Noch erstaunlicher, und reizvoller, ist aber das Seherlebnis, wenn man sich in Gänze auf diesen durchgeknallten Mythos mit einem unvergleichlichen Helden-Quartett, einer beängstigend-charismatischen Killer-Intelligenz mit Charakterschwächen sowie einem übernatürlichen Zwillings-Duo einlässt. Denn diese energische, selbstbewusste Maschine von einem Film läuft wie geschmiert! Sämtliche Elemente beeinflussen andere Aspekte des Films, selbst das Kostüm- und Requisitendesign dient dazu, Lücken innerhalb des 'Marvel Cinematic Universe' zu schließen. Und wirklich jeder Avenger steht mit seinen Teammitgliedern auf einer Augenhöhe, was die charakterlichen Feinheiten angeht. Ebenso ist die Detailliebe, mit der Whedon und das Ensemble den Kampfstil, das Humorverständnis und das Verhalten der Figuren in dramatischen Momenten voneinander abgrenzen.

Hinzu kommen die beneidenswerte Selbstverständlichkeit, mit der Avengers: Age of Ultron sein nerdiges Anderssein innerhalb der Blockbuster-Welt nach außen kehrt, und die Art wie grundehrlich Whedon den dramatischeren Tonfall in die Erzählung einwebt, ohne je den Spaßfaktor zu gefährden. Und nicht zuletzt daher lässt sich der elfte 'Marvel Cinematic Universe'-Film als das bislang seltsamste Biest innerhalb seines Rasters bezeichnen. Es ist zugleich das imposanteste und facettenreichste. Und ich gönne ihm in jeglicher Hinsicht einen massiven Erfolg. Den Schneid, in diesem Genre und bei exorbitanten Produktionskosten darauf zu verzichten, jedes einzelne Publikumsmitglied so fest anzuschnallen, dass es auf keinen Fall verloren geht, muss man erst einmal haben. Erst recht, wenn sowohl ein atmosphärisch dichtes, weit verzweigtes Filmuniversum gestaltet wird und dann obendrein die Geschichte ebenso elegant wie tolldreist eine ganze Tonleiter an Stimmungen durchläuft.

Nicht zu vergessen: Dank virtuoser Regieführung, einem grandiosen Ensemble, spaßig-abwechslungsreicher Action die ausnahmslos von Relevanz ist und feschen Sprüchen bleibt Avengers: Age of Ultron darüber hinaus verdammt unterhaltsam. Aber, wow, mit seiner Mischung aus opernhafter Seele und exzentrischen Verwicklungen ist dieser Film auch äußerst verschroben. Glücklicherweise hat Marvel sein Publikum fest in der Hand. Vielleicht erhält Age of Ultron daher nun all die Anerkennung, die ich schon Am Ende der Welt gegönnt habe?

Sonntag, 12. April 2015

Fast & Furious 7: Gustav Gans hat ein Auto ...


Mit Fast & Furious 7, respektive Furious 7 (wie er in Nordamerika betitelt ist), findet Universals benzingeladenes Erfolgsfranchise seinen kommerziellen Höhepunkt. Doch nicht nur die Einspielergebnisse können sich sehen lassen, sondern auch die Kritiken dieses autovernarrten Actionabenteuers. Ich möchte erklären, weshalb ich diese Reaktion zwar dulden kann, aber nicht in diesen Reigen der Begeisterung mit einstimme. Dazu muss ich etwas weiter ausholen und über Donald Ducks gelockten Vetter referieren. Keine Sorge, es wird am Ende alles Sinn ergeben ...

Ich liebe es, Gustav Gans zu hassen! Daher möchte ich mir ein Entenhausen ohne den größten Glückspilz der Comicgeschichte gar nicht mehr vorstellen. Vor allem gibt er einen wundervollen Antagonisten ab, denn während Donald ein Erpel ist wie du und ich, steht Gustav stellvertretend für all jene, die scheinbar nichts tun müssen, und dennoch unentwegt von Fortuna geküsst werden. Aber selbst als Verbündeter Donalds ist Gustav, in den Händen der richtigen Disney-Autoren, eine reizvolle Figur. Er kann mit seiner Eitelkeit und seinem unredlich erarbeiteten Selbstbewusstsein als Kontrast zum normaleren Donald dienen, oder mit seinem abartigen Glück als Comic Relief nützlich sein - sofern die Autoren es pointiert nutzen. Anders darf es nicht sein! Man stelle sich bloß vor, es gäbe eine Disney-Heldentruppe, zu der auch Gustav gehört. Es wäre unerträglich, würde er sich einfach strikt auf sein Glück verlassen, wenn ihn die Autoren wie jede andere Figur behandeln würden und sich darauf verließen, dass wir Leser schon noch mitfiebern werden.

Aber erfreulicherweise müssen wir es uns gar nicht vorstellen, wie ein Disney-Heldenteam mit Gustav als Mitglied aussieht. Diese Vereinigung gibt es nämlich bereits: Es sind die Ultraheroes und deren Epos wurde im LTB Premium Nr.1 veröffentlicht. Eben dieser geniale Comic wusste, Gustav dramaturgisch effizient einzusetzen: Partiell wird Gustavs unverschämtes Glück zu komischem Effekt genutzt, teilweise soll Gustav gar bewusst als Unsympath wirken und so für Dramatik sorgen, obwohl seine 'Fähigkeit' ja bei einer geradlinigen, ungebrochenen Verwendung jegliche Spannung verhindern würde.

Was aber wäre, wenn es ein Heldenteam gäbe, das nicht aus diversen Figuren inklusive Gustav Gans besteht, sondern ausschließlich aus Kopien von Gustav Gans: Aus einem IT-Techniker-Gustav, einem Cop-Gustav, einem Muskelprotz-Gustav, und so weiter. Die Geschichten dieser Truppe müssten vor Selbstironie triefen und zielsicher Tropoi des Actiongenres auf den Kopf stellen, um vollauf zu funktionieren. Wenn sie keine gepfefferte Persiflage darstellen, wie sollten sie denn unterhalten? Egal, was Gustav versucht, es gelingt. Und weil er sich dessen bewusst ist, bemüht er sich gar nicht erst, bemerkenswerte Pläne zu schmieden. Eine sich als Eskapismus ernstnehmende, also gerade heraus erzählte, auf Kurzweil abzielende Story mit dem Gustav-Team drohe von den ersten Augenblicken an, keinerlei Dramaturgie oder Spannung zu entwickeln. Und wäre somit den Ultraheroes meilenweit unterlegen.

Es ist erneut gar nicht erst notwendig, sich solch eine Story auszumalen. Denn eben dieses Gustav-Gans-Prinzip ist eines meiner Probleme mit der Fast & Furious-Saga. Und obwohl der siebte Teil so manche Qualitäten aufzuweisen hat, wird er überaus deutlich von diesem Makel in Mitleidenschaft gezogen.


Ich störe mich überhaupt nicht daran, wenn Figuren in Actionfilmen Situationen nahezu unbeschadet überstehen, die im echten Leben mindestens schwere Blessuren mit sich bringen würden. Und bei solch überdrehten Filmen wie Fast & Furious 7 ist es erst recht unsinnig, sich darüber zu beklagen, was die Figuren so alles überleben. Würden sich solche Filme an den Gesetzen der Physik orientieren, wären sie spätestens nach zehn Minuten zu Ende. Ich gehe ja überhaupt erst in Actionfilme, um überwältigende Dinge zu sehen. Wenn also Vin Diesels muskelbepackte Rolle Dominic Toretto volles Rohr eine Klippe hinunter fährt und dies überlebt, habe ich kein Problem damit. Zumindest nicht damit, dass Toretto seinen waghalsigen Stunt übersteht. Dennoch komme ich mir als Zuschauer vor, als wollten Regisseur James Wan und Autor Chris Morgan mich für dumm verkaufen. Nicht, weil sie denken, ich kaufe Diesel seine übermenschliche Widerstandskraft ab. Sondern weil sie denken, ich bin davon beeindruckt, dass sich eine Figur von einem hohen Punkt hinunterstürzt. Immer und immer wieder.

Also: Fein! Die Actionsequenzen in Fast & Furious 7 sind unrealistisch. Nun, das darf ruhig so sein. Was aber nicht sein sollte, ist dass sie nahezu alle auf genau einen Trick hinauslaufen: Die Helden stürzen sich aus großer Höhe und hoffen, dass sie das mit viel Glück überleben. Dieser Trick wird etwas variiert, mal springt Paul Walkers Paraderolle Brian O'Conner mit Vertrauen in seine Fortuna gen Rettung. Mal springt Dwayne Johnson aus einem Hochhaus. Doch besonders oft gibt es in Fast & Furious 7 folgendes zu sehen: Mindestens einer der Helden steckt auf einem hohen Punkt in der Klemme, daraufhin gibt er mit seinem Auto Vollgas und stürzt sich hinunter. Das Glück wird den Wagen mitsamt Insassen schon auffangen!

Prinzipiell sehr eintönig, und umso erfreulicher ist, dass James Wan und Chris Morgan dieses Grundkonzept, wie beschrieben, an der Oberfläche genügend abwandeln, um einer Übersättigung an "Ich und hoffe auf das Beste"-Aktionen vorzubeugen. Gleichwohl verlassen sie sich dermaßen auf diesen Kniff, dass ich mich als Zuschauer einerseits frage, ob den Filmemachern denn nichts anderes einfällt, und dass ich zweitens unfähig bin, mit den Figuren mitzufiebern.

Denn das Aufregende an einem Actionfilm ist ja zu einem bedeutenden Teil das Wesen der Figuren. Ihr Mut, ihr Einfallsreichtum, ihre Findigkeit oder ihre besonderen Talente im Kampf. Wenn Jason Statham als Öl beschmierter, halbnackter Transporter dank seines kämpferischen Könnens einen Haufen Leute fertig macht, bin ich gebannt. Wenn Jack Sparrow in den Palast des Königs verschleppt wird und spontan einen halsbrecherischen Fluchtplan schmiedet, der von ihm verlangt, seine Umgebung zu seinem Vorteil zu nutzen, bin ich wie gefesselt. Auch wenn Indiana Jones einen Flugzeugabsturz erlebt und sich rettet, indem er ein Gummiboot missbraucht, um den Sprung aus dem trudelnden Flieger abzufedern, staune ich, weil eine smarte Figur eine Idee hat – eine Idee, die zwar nur in einer Filmrealität ansatzweise clever ist, trotzdem bleibe ich als Zuschauer am Ball. Genauso, wie ich voller Begeisterung die Avengers in ihrem ersten gemeinsamen Kinofilm bewundere, weil sie ihre ganz eigenen Fähigkeiten im Teamwork einsetzen, um die Chitauri zu bezwingen.

Wie aber soll ich voller Engagement die Taten der Fast & Furious 7-Protagonisten verfolgen, wenn sie praktisch durchwegs nach dem "Ach, wird schon!"-Gedanken handeln. Und, ach, es wird tatsächlich immer! Da kann ich schlicht nicht im Kinosaal sitzen und innerlich jubeln "Wow, dieser Dominic Toretto ist echt ein genialer Actionheld, wow, was der so alles drauf hat!" So beeindruckend die Ideen der Fast & Furious 7-Macher sein mögen, wenn sie Autos aus einem Flugzeug schmeißen oder eines zwischen Hochhäuser springen lassen, so faul empfinde ich deren Methoden, diese Konzepte zu einem Gesamtwerk zu verbinden. Es fehlt das Bindemittel namens Charakterzüge. Die Figuren sind nicht intelligent, schlagfertig, verbissen, brillant im Umgang faszinierender Gimmicks oder Meister im Improvisieren. Da die Figuren zudem das Wort 'Angst' als Fremdsprachenvokabel erachten, kann ich nicht einmal vor ihrem Mut den Hut ziehen. Allein im Trailer zum fünften Mission: Impossible-Teil lässt sich Tom Cruises' Überagent Ethan Hunt im Angesicht einer gefährlichen Aktion mehr Panik ansehen, als sämtliche Fast & Furious 7-Protagonisten über die gesamte Filmlaufzeit zusammengerechnet. Sie machen ihre irren Sachen nicht, weil sie einen ausgefeilten Plan haben oder gewaltige Cojones in der Hose, sondern weil sie sich, wenn sie sprichwörtlich mit dem Rücken zur Wand stehen, treudoof auf ihr Glück verlassen.


Dass mir Fast & Furious 7 trotzdem besser gefällt als ein fiktiver Comicband über die Gustav-Gans-Klon-Avengers, ist insbesondere der Verdienst von Kurt Russell, der aus dem ihm gebotenen Material wahrlich etwas Sehenswertes macht. Der alte Haudegen bringt nicht nur eine coole, dennoch bodenständige Ausstrahlung mit sich, sondern legt seine Rolle völlig anders an als das restliche Ensemble. Es ist so, als sei er vom Set eines besseren, nicht von Gustav-Grobianen gestützten Actionfilm gewandert und würde einfach nur aus Freude an der Sache mitwirken. Aus seinem Munde klingen die Dialogzeilen, die bei vielen anderen Darstellern wohl unbedeutend wären, wie kollegial gemeinte Seitenhiebe auf das Toretto-Team beziehungsweise die Fast & Furious-Filme: Er trinkt gerne gutes, belgisches Abteibier, mit einem verschmitzten Grinsen gönnt er Toretto aber auch sein wässriges Proleten-Massenprodukt Corona. Wenn sich Russell als ominöser Leiter einer Geheimorganisation darüber auslässt, dass Toretto, O'Conner und Co. eine sehr eigene (soll hier heißen: sehr stupide) Weise haben, Probleme anzupacken, kichert er süffisant und gratuliert ihnen. Als wolle er mit allem, was er sagt und tut, Vin Diesels Rolle mitteilen wollen: "Du stehst auf solche Dummheiten? Na gut, ich will dir nichts einreden, entscheidend ist, dass du Spaß hast, ich halt mich raus. Selbst wenn ich schon Kultivierteres mitgemacht habe ..."

Während Russell hervorragend eingesetzt wird, kommen zwei weitere Pluspunkte dieses Films zu kurz: Sowohl Jason Statham als auch Dwayne Johnson haben recht wenig zu tun, doch wenn sie genutzt werden, lassen sie mich mit schroffem Charisma und ihrem Können in Mann-gegen-Mann-Kämpfen kurzzeitig aus dem 'Berieselungsmodus' zurückkehren und den Film als geneigten Zuschauer verfolgen. Dass Wan und sein Kamera- sowie Schnitt-Team diese Faustkämpfe nicht etwas ruhiger inszenieren, ist zwar schade, dennoch nimmt die Kamera ausreichend Distanz vom Geschehen, um beim zügigen, nicht überhasteten Schnitt Fast & Furious nicht zu einem völlig konfusen Action-Kuddelmuddel abgleiten zu lassen. Die Faustkämpfe sind zudem in ihrer Gesamtheit überzeugender gehalten als viele der Auto-Stunts. Obschon diese laut diverser Hintergrundmaterialien weitestgehend in echt gedreht wurden, sehen sie in meinen Augen nur selten danach aus. Zu oft sorgen die Farbfilter und die computergenerierten Hintergründe für den Eindruck, dass die Szenen komplett digital kreiert wurden. Vor allem eine durchgedrehte Fallschirm-Sequenz und der nicht minder irre Hochhausstunt in Abu Dhabi werden dadurch in ihrer Wirkung gedrosselt, während die im bewaldeten Gebirge Aserbaidschans spielende Verfolgungsjagd dank großem Fokus auf 'gewöhnlicher' Stunt-Fahrerei und übersichtlicher Kameraeinstellugen viel mehr Flair aufweist.

Dank seiner wenigen, aber entscheidenden Pluspunkte hat mich Fast & Furious 7 weder gelangweilt noch genervt, womit er für mich an der franchiseinternen Konkurrenz vorbeidüst. Zwischendurch fand ich ihn sogar ohne die Hilfe von Russell, Johnson und Statham leidlich amüsant. Etwa, wenn Nathalie Emmanuel als aufgeweckte Hackerin die Dynamik der Heldengruppe 'scannt' und mal eben das ganze Figurenensemble als sehr durchschaubar offenbart.

Der raren Ironie zum Trotz bleibt dieses Gustav-Gans-Problem bestehen. Und ich möchte hiermit gar nicht sagen, dass die Fans dieses Films doof sind und sich schämen sollten, weil sie sich durch das Gänseelement nicht gestört fühlen. Aber vielleicht hilft diese Review begeisterten Fast & Furious 7-Zuschauern, zu verstehen, weshalb nicht alle so denken wie sie. Es ist nicht verboten, Gustav zu seinem Glück zu gratulieren. Doch ich schaue lieber Donald zu, wie er sich abmüht.

Samstag, 11. April 2015

Real oder nicht real, das ist weiterhin die Frage



Credit: Annie Leibovitz for Disney Parks

Und weiter geht es: Anlässlich Disneys aktuellen Wahn, eine Zeichentrickklassiker-Neuadaption nach der nächsten anzukündigen, durchforste ich den Meisterwerke-Kanon und beantworte die Frage, welche der Filme meiner Ansicht nach als Realfilm funktionieren würden und bei welchen das Original in Ruhe gelassen werden sollte. Kürzlich ging ich die Walt-Disney-Ära durch, nunmehr gehe ich die Filme durch, die nach Walts Ableben in Angriff genommen wurden ...
  • Aristocats: Wie bei Dumbo und Bambi sowie Das Dschungelbuch sage ich auch bei diesem Film mit sprechenden Tieren: Als Realfilm mit schwerem Einsatz von Computeranimationen will ich mir das nicht vorstellen. Wenn es ein Aristocats-Remake braucht, dann höchstens wie bei 101 Dalmatiner mit trainierten Tieren. Das wäre erträglich, aber all zu sehenswert klingt es noch immer nicht ...
  • Robin Hood: Disney hat zwar schon einen - natürlich menschlichen - Realfilm über Robin Hood. Aber ein neuer wäre sicherlich sehr amüsant zu sehen. Passenderweise ist auch einer in Arbeit. Dieser soll den augenzwinkernd-flott-pompösen Stil von Fluch der Karibik kopieren, was ich als zeitgemäß und Disney-tauglich erachte. Zu kindgerecht gehalten würde er heutzutage nur floppen, und wenn er zu düster daher käme, würde die Launigkeit des Materials verloren gehen ... Hoffen wir auf eine gute Zusammenstellung von Cast und Crew!
  • Die vielen Abenteuer von Winnie Puuh: In Arbeit. Schwierige Sache, hat aber enormes Potential!
  • Bernard und Bianca - Die Mäusepolizei: Bloß nicht!
  • Cap und Capper: Bloß nicht!
  • Taran und der Zauberkessel: Bitte! Ja! Für Filme wie diesen existiert die Idee, Remakes zu drehen. Der Zeichentrickfilm ist ein ambitioniertes Projekt, das über seine eigenen Füße und die Feigheit der Studioleitung stolpert. Mit großem Budget, mutigem und durchsetzungsfähigem Regisseur sowie durchdachtem Drehbuch könnte man ein richtig starkes Fantasy-Franchise aus Lloyd Alexanders Büchern formen. Ich lasse mal Gore Verbinski außen vor, denn den nenne ich eh immer. Aber wie wäre es mit Sam Mendes, Alfonso Cuarón, David Yates, Francis Lawrence oder Matt Reeves?
  • Basil, der große Mäusedetektiv: Nope. Eine Fortsetzung wäre aber cool, aber nur gezeichnet. Mit kinoreifem, auf dem Niveau des Erstlings liegendem Drehbuch und guter Kolorisation dürften sich auch gern die DisneyToon Studios mal dran versuchen. Deren CG-Filme haben ja mittlerweile Kinoklasse, also muss es beim Zeichentrick auch drin sein! Einen Disney-Sherlock braucht es meiner Ansicht nach derweil nicht, der Markt ist übersättigt, zumal Guy Ritchies Filme bereits vormachten, wie ich mir einen Disney-Realfilm-Blockbuster-Holmes vorstelle.
  • Oliver & Co.: Nope, zumindest nicht in der Oliver & Co.-Variante. Einen guten TV-Oliver Twist gab es von Disney bereits, und sofern das Originalsetting bleibt, kann ich mir gerne auch eine neue Version auf der Leinwand ansehen.
  • Arielle, die Meerjungfrau: Im klassischen Disney-Tonfall funktioniert die Geschichte nur animiert, mit melancholischerem Einschlag wird Disney sich das nicht trauen. Und da Sofia Coppola für Universal angeblich eine originalgetreue Variante plant, ist diese Story zudem vorerst abgedeckt. Lassen wir es bleiben!
  • Bernard und Bianca im Känguruland: Nichts da!
  • Die Schöne & das Biest: Bereits in Arbeit und ich freu mich drauf. Das Bühnenmusical hat seinen eigenen Charakter und viele Fans, ist aber nicht so "bühnenhaft" wie Julie Taymors Der König der Löwen und somit leichter für die Leinwand zu adaptieren. Der Film klingt wie eine Adaption einer Ergänzung des Zeichentrickklassikers - also überflüssig, aber reizvoll! Das kann was werden, so lange das Biest gut aussieht.
  • Aladdin: Die Geschichte eignet sich selbstredend für einen Real-Abenteuerfilm, erst recht jetzt, da Computeranimation deutlich bessere Dschinni-Tricks erlaubt als noch in den 90ern. Aber wenn ich es mir wünschen darf, so würde ich als Kinofilm eine 'eigenständige' Verfilmung des Märchens wünschen, die sich vielleicht nur hier und da in Referenzen an den Trickklassiker übt. Erneut denke ich an den Tonfall von Fluch der Karibik oder Prince of Persia - Der Sand der Zeit, aber das Bühnenmusical zeigt, dass man auch den Tonfall des Trickfilms mit Menschen realisieren kann. Anders als beim Vorgängermeisterwerk tendiere ich hier aber allein schon aufgrund der Möglichkeiten, was man sonst machen kann, ein Non-Musical bevorzugen. Erst recht, da Märchenmusicals 'leichter' als Realfilm funktionieren als Abenteuermusicals. Das kann sehr schnell sehr schiefgehen.
  • Der König der Löwen: Auch wenn man dank Das Dschungelbuch nunmehr mit allem rechnen muss: Bitte, bitte, bitte nicht, das kann nicht funktionieren!
  • Pocahontas: Machbar wäre es, und auch hier bevorzugt als Non-Musical, allerdings halte ich es nicht für erstrebenswert.
  • Der Glöckner von Notre Dame: Ja, bitte! Mit dem richtigen Regisseur, weniger Wasserspeiern und einer prachtvollen Ausstattung könnte man ein großartiges, künstlerisch einheitliches 'Best of' des Zeichentrickfilms, des Berliner Disney-Musicals und der jüngst auf US-Bühnen gehobenen Neufassung machen! Her damit!
  • Hercules: Ein Disney-Hercules im Stile des Trickklassikers möchte ich nicht als Realfilm sehen, das wird kaum funktionieren. Eine abenteuerorientierte Realadaption dagegen könnte funktionieren, jedoch ist dieses Thema nach zwei Flops anderer Studios erstmal verbrannte Erde.
  • Mulan: Angekündigt. Alles kann passieren. Mal sehen ...
  • Tarzan: Es gibt schon so viele Realfilmversionen und es sind neue in Arbeit. Da braucht es keine zusätzliche Disney-Fassung. Zumal der Zeichentrickfilm bereits die meiner Ansicht nach perfekte Ehe aus Disney und der Vorlage ist.
  • Fantasia 2000: Nur eine Zeichentrick-Fortsetzung ist erlaubt!
  • Dinosaurier: Ha, Disney! Das hier ist bereits ein Realfilm mit computeranimierten Tieren! Den Film könnt ihr gar nicht als Hybriden neu erfinden!
  • Ein Königreich für ein Lama: Funktioniert nur im Zeichentrickmedium.
  • Atlantis - Das Geheimnis der verlorenen Stadt: Oh, bitte, ja! Ein mit Steampunk-Elementen versehenes Fantasyabenteuer mit Retro-Sci-Fi-Elementen! Das kann, sollte es genügend praktische Effekte geben, eine wahre Augenweide ergeben. Was treibt James Gunn so, wenn er mit Guardians of the Galaxy 2 fertig ist? Gareth Edwards wäre auch cool. Oder wieso versucht sich nicht Guillermo del Toro daran, wenn er endlich Haunted Mansion gedreht hat?
  • Lilo & Stitch: Die Story ist wie geschaffen für ihren Wasserfarben-Look und sollte daher nicht ihr Medium verlassen!
  • Der Schatzplanet: Ein Remake in Der Schatzplanet-Form müsste abartig teuer sein, um sich mit dem Zeichentrickfilm aus visueller Ebene zu messen, und steht daher wohl außer Frage. Und noch eine Disney Realfilm-Schatzinsel braucht es wohl nicht. Unwahrscheinlich ist es jedoch nicht, und je nachdem, wer das Remake umsetzt, wäre ich sogar recht neugierig.
  • Bärenbrüder: Könnte vielleicht funktionieren, wenn jemand wie Matt Reeves es macht. Ist aber auf der Prioritätenliste dennoch weit unten
  • Die Kühe sind los!: Auf gar keinen Fall!
  • Himmel und Huhn: Niemals!
  • Triff die Robinsons: Schnarch ...
  • Bolt - Ein Hund für alle Fälle: Wäre eine alberne Idee für einen Realfilm
  • Küss den Frosch: Ich kann es mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, würde aber bei einer Ankündigung nicht aufstöhnen - abgesehen vom "Disney, produzier doch auch mal was anderes als Remakes"-Faktor, natürlich ...
  • Rapunzel: Könnte funktionieren, bevorzugt als Non-Musical und mit einem dunkleren Tonfall. Jedoch nicht im "finstere Neuinterpretation"-Sinne, sondern schlicht im Sinne von "mehr Dramatik, weniger Gags". Großartige Landschafts- und Innenaufnahmen wären das oberste Gebot. Nennt mir jemanden wie Roger Deakins als Kameramann, und ich werde hellhörig!
  • Winnie Puuh: Siehe Die vielen Abenteuer von Winnie Puuh
  • Ralph reicht's: Funktioniert nur in animierter Form.
  • Die Eiskönigin - Völlig unverfroren: Ich wette, dass man bei Disney bereits hinter vorgehaltener Hand darüber spricht und es nach der etwaigen Fortsetzung Realität werden könnte, so lange das Sequel gutes Geld macht. Und ich bin extrem unschlüssig, was ich davon halten sollte. Einerseits sind Remakes ja, erst recht wenn sie beim selben Studio bleiben, hervorragende zweite Chancen. Und angesichts dessen, dass ich mit der Erzählweise des Milliardenhits sehr unglücklich bin, könnte ein Remake die Geschichte von Elsa geraderücken. Vielleicht mit Liedern, vielleicht auch ohne. Da bin ich offen, so lange Olafs Showstopper und die Trolle rausfliegen. Oh, Olaf muss generell weg oder zumindest komplett neukonzipiert werden. Was mich aber ausbremst: In Realfilmen sehen Schneelandschaften in den meisten Fällen entweder langweilig, bedrohlich oder beklemmend aus. Doch sehr, sehr selten haben sie die magische Ausstrahlung, die der CG-Schnee aus Die Eiskönigin hat. Ich will aber keine computeranimierten Eislandschaften in einem Realfilm-Remake. Mit dem richtigen Regisseur und Kameramann wäre ich mit an Bord ...
  • Baymax - Riesiges Robowabohu: Stelle ich mir als Realfilm nur halb so magisch vor.
Das war es also! Das war mein Überblick über die Disney-Meisterwerke und ihre "Realmake"-Tauglichkeit. Was denkt ihr? Welche Meisterwerke möchtet ihr neu interpretiert sehen und welche sollten unangetastet bleiben?

Freitag, 10. April 2015

Real oder nicht real, das ist hier die Frage

Credit: Annie Leibovitz for Disney Parks

Tim Burtons inkonsistentes Fantasyspektakel Alice im Wunderland, Robert Strombergs künstlerischer Totallausfall Maleficent - Die dunkle Fee und Kenneth Branaghs prachtvolles Realfilmmärchen Cinderella haben ihren Dienst getan: Mit ihren ansehnlichen bis hervorragenden Kinoeinnahmen haben sie dem Disney-Konzern einen Floh ins Ohr gesetzt, woraus das nächste Disney-Erfolgsfranchise besteht. Neben dem Klassiker schlechthin (dem Disney-Meisterwerke-Kanon), Pixar, Marvel und Star Wars dient vorerst das Konzept der Real-Neuverfilmungen bereits in Trickform adaptierter Geschichten als weitere Konzernstütze.

Dass Disney diese Idee generell besser nicht überstrapazieren sollte, habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben. Doch wenn wir nun all unseren Glauben an die Vernunft in den Köpfen der Disney-Geschäftsführung zusammennehmen und darauf vertrauen, dass das Traditionsstudio nicht zu einer reinen Recyclingstation verkommt, stellt sich trotzdem eine Frage: Sofern Disney seinen Meisterwerke-Kanon weiter als Inspirationsquelle für neue Realfilme nutzt - welche der Animationsklassiker bieten sich an und welche sollten in Ruhe gelassen werden?

Natürlich kann ich keine allgemeingültige Antwort geben, aber ich kann wenigstens meine eigene Meinung auf die Welt loslassen - und gespannt Fragen, wie ihr dazu steht. Welche "Realmakes" könnt ihr euch vorstellen, auf welche wollt ihr mit aller Macht verzichten?

Eignet sich dieses Disney-Meisterwerk für ein Realfilm-Remake?
  • Schneewittchen und die sieben Zwerge: Ein schwieriger Fall. Die einfache Antwort lautet: Nein! Die ausführliche Antwort: Das Märchen von Schneewittchen als Realfilm umgesetzt zu sehen, hat seinen Reiz - jedoch wurde dies bereits zu häufig versucht, erst recht in jüngster Vergangenheit. Zudem wäre eine Neuadaption im echten Disney-Stil ein kleines Sakrileg, schließlich handelt es sich hierbei um das erste Meisterwerk. Wenn, dann würde ich eine sehr lose Neuinterpretation des Märchens bevorzugen, nur mit subtilen Referenzen auf den 1937er Film. Anders gesagt: Das aufgegebene Projekt Order of the Seven fand ich ansprechend. Eine Disney-Version von Snow White and the Huntsman oder Spieglein Spieglein dagegen braucht es wirklich nicht.
  • Pinocchio: Bereits angekündigt. Ich stehe dieser Idee erstmal neutral gegenüber, bis mehr über Cast und Crew bekannt ist. Generell bietet sich Pinocchio sowohl für eine finstere, wie eine magisch-heitere Neuinterpretation an. Entscheidend ist das Design der Titelfigur und das Talent der involvierten Persönlichkeiten. Alles kann, nichts muss.
  • Fantasia: Eine Zeichentrick-Fortsetzung? Ja, bitte. Ein Realfilm-/CG-Sequel? Nein, auf keinen Fall! Ein Realfilm-/CG-Remake? Skandal!
  • Dumbo: Bereits angekündigt und eine der dämlichsten Ideen der jüngeren Disney-Historie. Die Geschichte eines Außenseiter-Elefanten ist wie geschaffen für das Zeichentrick-Medium und wurde zudem schon perfekt umgesetzt. Remakes haben den größten Reiz, wenn sie dem Original etwas neues abgewinnen können oder sie ein gescheitertes Projekt perfektionieren können. Dumbo kann man nur verschlimmbessern, und wenn dann noch das Medium wechselt,  ist jede Hoffnung verloren.
  • Bambi: Abgesehen davon, dass kein Remake angekündigt wurde: Siehe oben.
  • Saludos Amigos: Wird nicht passieren, darf nicht passieren.
  • Drei Caballeros: Eine im Geiste dieses Films gehaltene Zeichentrick-Fortsetzung? Extrem unwahrscheinlich, aber willkommen. Ein Remake? Vergebene Liebesmüh.
  • Make Mine Music: Siehe oben. Ausnahme: Ein "echtes" Peter und der Wolf aus dem Hause Disney wäre durchaus interessant, solange es auf eine aufgesetzte "Dark and gritty"-Attitüde verzichtet.
  • Fröhlich, frei, Spaß dabei: Ein Remake des Bongo-Parts: Unnütz, es gibt nicht genug her. Es sei denn, ein Auteur hat einen Narren an der Story gefressen und will sie unbedingt neu anpacken. Die Bohnenranke-Story? Im effektlastigen Realfilmsektor vorerst wohl verbrannte Erde, aber ich bin neugierig, was Nathan Greno im Animationsbereich daraus gemacht hätte, wäre Giants noch immer im Rennen ...
  • Musik, Tanz und Rhythmus: Einen Pecos Bill-Realfilm gibt es schon, aber den kann man mühelos verbessern. Einen Johnny Appleseed-Film stelle ich mir derweil langweilig vor. Und der Rest dieses Packagefilms will wohl niemand als CG-lastigen Realfilm sehen ...
  • Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte: Einen Realfilm zu Der Wind in den Weiden braucht es eh schon nicht, und noch weniger braucht es einen zweiten, der Teil der erweiterten Disney-Familie ist. Terry Jones' Film taugt nur was als Kuriosum für Monty-Python-Fans was. Einen ausgewachsenen Disney-Realfilm zu Sleepy Hollow wiederum halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Aber ich würde ihn gern sehen, vorausgesetzt, er wird nicht von einem bloßen Disney-Ja-Sager verwirklicht, sondern von einem Regisseur, der freies Geleit hat und das Gruselelement ausreizen darf. Ja, natürlich denke ich an dieser Stelle an Gore Verbinski, aber auch Joseph Kosinski traue ich das zu, Sam Raimi natürlich auch. Rob Marshall derweil würde ich nicht hinter dem Projekt sehen wollen, obwohl er bereits einen PG-13-Disney drehte ...
  • Cinderella: Haben wir schon hinter uns.
  • Alice im Wunderland: Been there, done that.
  • Peter Pan: Wäre eigentlich sehr interessant, aber nach dem Universal/Sony-Realfilm von 2003 und dem demnächst startenden Joe-Wright-Film dürfte es vorerst genügend reale Peter Pans geben. Disney, gedulde dich noch was!
  • Susi und Strolch: Wie schon bei Dumbo und Bambi gilt auch hier: Das funktioniert als Zeichentrickfilm am besten, wir brauchen es nicht nochmal in einem anderen Medium.
  • Dornröschen: Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung aller Beteiligten
  • 101 Dalmatiner: Gab es schon und war auch ganz akzeptabel. Und dennoch arbeitet(e) Disney an einem Cruella-Realfilm. Die Sache ist schon abgegrast, könnte aber funktionieren ...
  • Die Hexe und der Zauberer: Ein direktes Remake wäre vollkommen unsinnig. Denn wer den inhaltlichen Ansatz dieses Films mag (also die Idee, die Kinderjahre von König Artus zu erzählen und diese Story dann noch von Merlin und seiner Feindin Mim einnehmen zu lassen), wird wohl auch seinen visuellen Stil mögen. Einen Disney-Realfilm rund um die Artus-Saga aber fände ich durchaus spannend - nachdem ja Jerry Bruckheimers Touchstone-Epos in der Filmwelt keinen bleibenden Eindruck hinterließ. Das Problem daran ist, dass Guy Ritchie bereits bei Warner an einem "King Arthur Cinematic Universe" arbeitet, und Disney da als Trittbrettfahrer zu sehen, würde mir sehr missfallen. Erst recht, da dank der mittelalterlichen Epen rund um die einzelnen Ritter der Tafelrunde hier der "Cinematic Universe"-Ansatz tatsächlich Potential hat. Disney hätte sich dieses Projekt krallen sollen. Ritchies Sherlock Holmes-Filme hätten meiner Meinung nach schon unter dem Disney-Label funktioniert, und seine Ritterfilme werden sicher ebenfalls ähnlich ticken. Und in dem Fall wären sie sicher spannende Erweiterungen des Disney-Filmkosmos. Naja, dann eben nicht ...
  • Das Dschungelbuch: In Produktion und eine saudämliche Idee für einen Realfilm-/CG-Hybriden! Es braucht ein Wunder, damit das ansehnlich wird. Angesichts dessen, wie mies Favreaus Cowboys & Aliens ist und wie mager Iron Man 2 daherkam, stimmt mich zudem die Wahl des Regisseurs missmutig. Seit Iron Man hat er nichts wirklich gutes mehr gerissen ...
Die Disney-Meisterwerke der Post-Walt-Ära hake ich demnächst ab ...

Plötzlich Gigolo


Als feste Größe des intellektuellen US-Kinos ist Woody Allen nicht bloß ein viel besprochener Filmemacher, sondern selbstredend auch ein einflussreiches Mitglied seiner Zunft. Gewiss: Mangels weltumspannender Blockbuster in seiner Vita schlägt das Schaffen des New Yorkers im Massenkino eher überschaubare Wellen – im Gegensatz etwa zu den Arbeiten eines Steven Spielberg oder Christopher Nolan, die unentwegt zitiert und imitiert werden. Dessen ungeachtet ist die Auswirkung Woody Allens auf Filmschaffende wie Noah Baumbach oder Louis C. K. unübersehbar. Während Spielberg- oder Nolan-Trittbrettfahrer mitunter großen Erfolg genießen, sind Verneigungen vor dem Stadtneurotiker jedoch von variablem Erfolg gekrönt. Während etwa Seitensprünge in New York sein Publikum fand, ging die dialoglastige Komödie Ein ganz normaler Hochzeitstag Anfang der Neunziger unter – und wurde seither auch nicht reevaluiert.

Aus der Feder des Coen-Brüder-Lieblings John Turturro (Barton Fink) kommt mit Plötzlich Gigolo ein neues cineastisches Lustspiel auf den Markt, das mit den üblichen Woody-Allen-Manierismen kokettiert. Und genauso wie Paul Mazurskys höllischer Shopping-Mall-Besuch holt Plötzlich Gigolo den Meister selbst in einer seiner raren, nicht selbstinszenierten Darbietungen vor die Kamera. So, als wolle Turturro, der selber die Hauptrolle spielt und auf dem Regiestuhl Platz nahm, seinem Film damit das Gütesiegel für offiziell geprüfte Woody-Allen-Qualität verleihen. Schade aber, dass ein solches Prädikat nicht existiert – geschweige denn, dass es durch Allens bloße Anwesenheit sogleich für den gesamten Film wirkt. Und so kommt es, wie es wohl kommen musste: Während in den vergangenen Jahren Produktionen wie Midnight in Paris und Blue Jasmine unter Beweis stellten, dass Allens Regiearbeiten auch wunderbar ohne ihn funktionieren, unterstreicht Plötzlich Gigolo nun: Selbst mit tatkräftiger Unterstützung des 78-Jährigen kann ein Unterfangen wie dieses scheitern.

Eingangs ist Plötzlich Gigolo wohlgemerkt noch recht amüsant: Der melancholische New Yorker Florist Fioravante (Turturro) befindet sich ebenso wie sein bester Freund und Mentor Murray (Allen) in arger Geldnot. Im Laufe eines lockeren Gesprächs zwischen den leicht verschrobenen, sentimentalen Freunden kommt aber eine pikante Idee Murrays zu Tage: Seine Hautärztin Dr. Parker (Sharon Stone) ist derzeit auf der Suche nach einem Mann, der mit ihr und ihrer heißblütigen Freundin Selima (Sofía Vergara) einen Dreier vollzieht. Murrays Vorschlag: Er würde Fioravante gern an die experimentierfreudigen Freundinnen vermieten. Zunächst lehnt der schüchterne Frauenkenner ab – ihm würde wohl niemand die Rolle eines Gigolos abnehmen. Doch Murray überzeugt ihn: Zwar hat Fioravante kein Modelaussehen, dafür hat er Charakter, Einfühlungsvermögen und allerhand sexuelle Erfahrung …

So lange sich Plötzlich Gigolo auf das schelmische Geplänkel zwischen Turturro und Allen konzentriert, ist diese Nischenproduktion ein wahres Fest für Woody-Allen-Fans. Auch die Passagen, in denen sich das Duo mit den Anfangsschwierigkeiten seines riskanten Business befasst, wissen zu unterhalten. Dann aber versucht Murray, seinen Weggefährten an die Witwe Avigal (Vanessa Paradis) zu vermitteln, die Teil einer chassidischen Gemeinde ist und daher strengen soziokulturellen Regeln folgt. Von diesem Punkt an verzettelt sich diese Komödie: Das Skript versucht, satirisch auf die orthodoxe Gemeinde einzugehen, und verhebt sich an diesem Subplot, unterdessen krankt die allmählich aufkeimende Liebelei zwischen Avigal und Fioravante an schleppend geskripteten Sequenzen sowie einer gelangweilt agierenden Paradis.

Bloß wenn Woody Allen auftaucht, erhält Plötzlich Gigolo den anfänglichen Charme zurück. Ganz gleich, ob er die Szene mit dem Protagonisten teilt oder mit den liebevoll gemeinten, aber letztlich nicht in diesen Streifen passenden Karikaturen orthodoxer Juden. Da hilft auch die findige, schwer vergessliche Musikuntermalung nicht weiter: Turturro erschuf mit seiner Woody-Allen-Hommage kein in sich rundes Werk, sondern zwei halbe, mühevoll zusammengehaltene Filme. Einer davon ist gut, der andere unfassbar dröge.

Dienstag, 7. April 2015

Interstellar


Christopher Nolan steht, wohl mehr als jeder andere derzeit aktive Filmemacher, synonym für ambitioniertes Unterhaltungskino, dem Intellekt innewohnt. Der Regisseur, Produzent und Autor führte sein Publikum unter anderem in eine grimme Vision der Comic-Metropole Gotham, in der Batman alias The Dark Knight vorführt, welche Konsequenzen Vigilantismus nach sich zieht. Außerdem erzählte er mit Prestige eine verschachtelt-mysteriöse Geschichte über viktorianische Illusionisten, die nicht nur künstlerische Passion sowie Opferungsbereitschaft hinterfragt, sondern obendrein auch dem Betrachter auf den Zahn fühlt: Wie gewillt ist er, wegzuschauen, um sich verzaubern zu lassen? Mit dem 2010 gestarteten Blockbuster Inception wiederum unternahm Nolan eine introspektive Reise „in die Architektur des Verstandes“. Der mehrfach prämierte Big-Budget-Streifen macht Trauer, Verzweiflung und Zielstrebigkeit durch opulente Bilder, kraftvolle Musik und energetische Actionszenen spürbar und lässt den Zuschauer dank seiner trickreichen Narrative zudem grübelnd zurück.

Der 165 Millionen Dollar schwere Science-Fiction-Film Interstellar eröffnet dem Briten einen neuen, umfangreichen Schauplatz: Die überwältigenden Weiten des Weltraums. Mit diesem Setting geht in der von Christopher Nolan und seinem Bruder Jonathan geschriebenen Geschichte über menschlichen Pioniersgeist und Überlebenswillen ein gigantischer Ehrgeiz einher. Keine Regiearbeit des Memento-Schöpfers sah spektakulärer aus und setzte sich eine höhere Bandbreite an thematischen Ziele. Gestützt wird der Wetteifer, der dieser Zukunftserzählung zugrunde liegt, durch die wissenschaftlichen Theorien des angesehenen Astrophysikers Kip Thorne. Der enge Freund Stephen Hawkings und frühere Professor am ehrwürdigen California Institute of Technology diente mit seinen Abhandlungen über Wurmlöcher, schwarze Löcher und die Relativität der Zeit nicht nur als Ideengeber dieses Projekts, sondern wirkte zudem als wissenschaftlicher Berater und ausführender Produzent mit.

Entstanden ist dabei ein beachtenswertes Unterfangen von einem Film: Interstellar ist sowohl ein cineastisches Essay als auch ein audiovisuelles Spektakel, ein Epos, das sich gleichermaßen emotionell wie kopflastig gestaltet.

Tatendrang
In der nahen Zukunft sorgen veränderte klimatische Bedingungen und ein immens erhöhtes Aufkommen an Pflanzenkrankheiten für eine weltumspannende Lebensmittelknappheit – und dies, obwohl bereits die Mehrheit der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeitet. Die Konsumgesellschaft befindet sich dagegen ebenso auf dem Rückzug wie die Wissenschaft: Da nahezu jeder Cent in die Ernährung der allmählich dahinsterbenden Menschheit gesteckt wird, bleiben kaum Ressourcen für Forschung und Fortschrittsdenken übrig. Daher verschließt der Staat auch den gesellschaftlichen Weg nach oben, sehr zum Frust des Witwers und zweifachen Vaters Cooper (Matthew McConaughey), der einst NASA-Pilot war und sich für seinen Sohn eine Zukunft als Ingenieur ersehnt. Als Coopers aufgeweckte Tochter Murph von rätselhaften Vorfällen berichtet, macht sich das stoische Raubein, dessen Weltsicht zwischen Idealismus und Pragmatismus pendelt, auf die Suche nach dem Ursprung dieser Geschehnisse. Dabei stolpert er über ein ganz anderes Geheimnis: Die NASA existiert weiterhin und arbeitet an einer streng geheimen Mission, um die menschliche Art davor zu retten, gemeinsam mit ihrem Heimatplaneten unterzugehen …

Der Tatendrang des von McConaughey mit ruppiger Einfachheit verkörperten Protagonisten spiegelt sich auf der Produktionsseite wider. Hoyte van Hoytemas prachtvolle Landschaftsaufnahmen – zu großen Teilen im IMAX-Format gedreht und entgegen des gewohnten Nolan-Stils weitestgehend lichtdurchflutet – und die immensen Kulissen erschaffen hier einen real wirkenden Ausblick auf eine mögliche Zukunft. So real, dass Interstellar phasenweise auf optischer Ebene auch als äußerst kostspielige Dokumentation durch ginge. Wären da nicht die fernen Welten, die mit ihrer eindrücklichen Gestaltung und dank makelloser Verquickung praktischer und digitaler Effekte sowie Trickfotografie zu erstaunen und verwundern wissen. In diese mühevoll erschaffenen Filmwelt fügen sich sogar die vielleicht unterhaltsamsten Roboter nahtlos ein, die es im ernsten Sci-Fi-Kino je zu sehen gab: Die minimalistischen, schwarzen Quader, die Cooper auf seiner Reise begleiten, verleihen Interstellar nicht nur eine gute Dosis Humor, ohne die Stimmung des Films zu unterwandern, sondern dienen zudem als Element der steten Weltenerschaffung.


Zukunftsgedanken
Die 169-minütige Laufzeit dieser aufwändigen Produktion liegt zwar zum Teil darin begründet, dass Nolan viel Spannung aus behutsamer Beobachtung und detailliert ausgebreiteten Szenen generiert. Jedoch spielt diesbezüglich die Fülle an angerissenen Themen eine genauso große Rolle: So schneiden die Nolan-Brüder in ihrem Drehbuch eine Debatte über den Wert der Weltraumforschung an – und das mit einer Versiertheit, die das übersteigt, was in einer solchen Geschichte nötig wäre. Dies ist wohl kaum ein Zufall, bedenkt man, dass sich Christopher Nolan vor allem für das 2006 noch als Steven-Spielberg-Regiearbeit gedachte Projekt interessierte, weil es ihm die Möglichkeit gab, ein Plädoyer für die bemannte Raumfahrt zu halten.

Zu diesem Zweck vermengen die Autoren wissenschaftliche Fakten, plausible Spekulationen und künstlerisch-dramaturgische Freiheiten. Manche Details könnten es Interstellar also schwer machen, frei von ergänzenden Kommentaren in einer Astrophysik-Vorlesung vorgeführt zu werden – als durchdachtes, geistreiches Science-Fiction-Kino erschafft Nolans bislang längster Film dennoch ein in sich kohärentes sowie konstantes Regelwerk. Dessen wichtigste Stütze, Kip Thornes Abhandlung darüber, welche astrophysischen Phänomene Reisen in andere Galaxien ermöglichen könnten, führt zudem nicht nur weitere Gedankenansätze ein, sondern den zentralen Spannungskniff dieser Story: Die Relativität der Zeit. Während für die Astronauten nur Tage vergehen, verstreichen auf der Erde Jahrzehnte, in denen sich die Verfassung des Planeten kontinuierlich verschlechtert. Daher gilt es für die Weltraumreisenden nicht nur über das zentrale Ziel ihrer Mission zu streiten – und dies, typisch für Nolan, in Monologen und Dialogen die weniger von schnöder Alltagssprache haben, sondern von geschliffenen, einprägsamen Ansprachen. Insbesondere gilt es für sie, jeden einzelnen Schritt abzuwägen, um keine Zeit zu vergeuden, denn diese Ressource rennt zwar nicht ihnen davon, sehr wohl aber jenen auf der Erde.

Durch die von Anne Hathaway gespielte Amelia Brand findet außerdem ein weiterer Gedankenanstoß Eingang in den Film: In der aufreibendsten Szene der in Interstellar sonst eher weniger auffälligen Aktrice debattiert ihre Figur über den sozialen und wissenschaftlichen Wert der Liebe. Ob Gefühle eine höhere Auswirkung auf das menschliche Schicksal und Handeln haben, als die Wissenschaft es derzeit in Worte fassen kann, ist schlussendlich gar eines der zentralen Motive dieser Handlung. Selbst wenn sich dies größtenteils in Form von achtsam vorbereiteten Handlungswenden und narrativen Klammern äußert. Hathaways Monolog trennt letztlich beim Publikum die zynische Spreu vom wie Nolan tickenden Weizen: Egal wie verkopft seine Figuren oft sein mögen, egal wie finster die Situationen, in die sie geraten – beim Regisseur herrscht unterm Strich trotzdem eine romantisierte Weltsicht vor. Wer auf dieser Wellenlänge liegt, dürfte von Amelia Brands Gefühlsaufbruch noch enger an die Interstellar-Handlung gebunden werden – anderweitig droht durch die unverblühmte Emotionalität der Figur eine entnervte Abwendung von ihr sowie der von ihr angesprochenen Sub-Thematik.

Weitreichende Emotionen
Man sieht: Obwohl Interstellar gedankenschwer ist, ist diese Geschichte mehr an menschlichen Emotionen interessiert als bisherige Nolan-Werke. Selbst wenn die Figuren für sich genommen nur so viel Profil aufweisen wie nötig, und so den zahlreichen wissenschaftlichen und moralischen Inhalten Raum geben, legt der Regisseur großes Augenmerk auf die Dynamik zwischen den handelnden Personen. So sehr, dass ihre Gefühle zueinander das Grundgerüst dieses Films darstellen. Dies wird etwa deutlich, wann immer die auf der Erde gebliebenen Wissenschaftler (darunter ein routinierter Michael Caine) rapide alternd Botschaften an die mit der Rettung der Menschheit beauftragten Astronauten senden. Wenn sich McConaughey alias Cooper die Videonachrichten seiner Familie anschaut, bleibt dank der präzise geschriebenen Dialoge, des effektiven Schnitts und der minutiösen Darbietungen der Atem des Zuschauers stocken. Und während Murph in jungen Jahren von Mackenzie Foy eine Spur zu ungeduldig und quengelig angelegt ist, erweist sie sich später durch Jessica Chastains Leistung als stets zwischen Rationalität und Bauchgefühl kämpfende, ebenbürtige Hauptfigur direkt neben McConaugheys Cooper. Ein später Subplot, getragen von einem in jeglichen PR-Materialien geheim gehaltenen Hollywoodstar, mischt wiederum alle zuvor aufgebauten Konstellationen auf und dreht dabei etwas überdeutlich an der Spannungsschraube. Allerdings führt er darüber hinaus griffig vor, wie Überlebenswillen und Wut menschliches Handeln steuern.

Die Emotionalität dieses dramatischen Science-Fiction-Abenteuers äußert sich allerdings am gewaltigsten in der Gänsehaut erzeugenden Originalmusik. Hans Zimmer lässt die tiefen Bässe, die rasanten Streicher-Ostinati und wuchtigen Percussion-Einsätze seiner vergangenen Nolan-Zusammenarbeiten hinter sich, um in Interstellar völlig andere Wege zu beschreiten. Und diese führen den Oscar-Preisträger zu esoterisch angehauchten Orgelstücken, lang nachhallenden Noten und einer insgesamt sehr komplexen, hellen Klangästhetik. Die Melodien in Interstellar sind hochemotional, vermitteln Gefühle wie Einsamkeit, Sehnsucht nach Familie und Heimat oder auch schieres Erstaunen. Gleichwohl sind diese potentiell fragilen, zarten Kompositionen mit einer derartigen Kraft arrangiert, dass sie sich zu einem den Film energisch dominierenden Kraftakt formen.

Und diese Klangkraft hat Methode: Die Toningenieure Gregg Landaker und Gary Rizzo geben Zimmers Musik streckenweise eine höhere Priorität als den Dialogen und der restlichen Klangpalette. Nicht zuletzt durch diese akustische Opulenz positioniert sich Nolans Weltallepos trotz seiner thematischen Schwerpunkte vornehmlich als bildliches und klangliches Erlebnis – und weniger als wissenschaftliche Abhandlung im fiktionalen Kleid. Dies lässt Interstellar auch abseits seiner gelegentlichen, prägnanten Referenzen in die Nähe von 2001: Odyssee im Weltraum rücken. Der hohe Stellenwert, den das Skript der Cooper-Familiengeschichte einräumt, der niedrige Grad an Stilisierung der irdischen Filmsequenzen und die emotionale Aufladung der Filmmusik Zimmers hingegen distanzieren diesen Trip von Stanley Kubricks Meilenstein. Paradox, aber es geht auf: Ist Kubricks Klassiker primär als allegorisch-vieldeutig angelegt, legt Nolans Raumfahrtmär größere Akzente auf den Affekt und charaktergetragene Dramatik.

Fazit: Überwältigend! Christopher Nolan gelang mit diesem aufwändigen wie komplexen Science-Fiction-Abenteuer ein weiterer Geniestreich.

Diese Kritik basiert auf meiner Quotenmeter.de-Kinobesprechung