Montag, 25. Dezember 2023

Die schlechtesten Filme 2023

Die Kritik an "Die schlechtesten..."-Listen nimmt konstant zu. Und per se bin ich sehr froh darum, dass sich wenigstens in manchen Winkeln des digitalen Kultur-, Entertainment- und Medienaustauschs die Freude an Häme allmählich in Zaum hält.

Dessen ungeachtet halte ich weiter an dieser Tradition fest, wie ich bereits 2022 erläuterte. Denn mir geht es mit diesen Listen weniger darum, weiter auf wen einzudreschen, der bereits am Boden liegt. Es geht mir um die Bereicherung, die eine Schlusslichtliste leistet. Dieser Beitrag hier gibt mir die Gelegenheit, über Filme zu schreiben, über die ich noch nicht geschrieben habe, oder weitere Gedanken zu Filmen festzuhalten, über die ich mich bereits geäußert habe.

Es ist die Möglichkeit, auf negative Texte von mir zu verlinken sowie neue zu schreiben, und euch so ein runderes Bild meines Filmgeschmacks zu präsentieren. Schließlich veröffentliche ich angesichts dessen, dass ich etwa Streaming- und Heimkino-Empfehlungen bei Filmstarts schreibe, deutlich mehr lobende als mahnende Texte. Nicht, weil ich kaum etwas schlecht finde, sondern weil ich in meiner Profession gehäuft Aufgaben übernehme, bei denen ich mich gehäuft Werken widme, die ich mag.

Als Ausgleich ist es da hilfreich, euch auch meine negativen Reaktionen zu präsentieren. Auch, weil man die Perspektive einer Person besser kennenlernt und einordnen kann, wenn man ihre Antipathien erfährt. Meine Lieblingskollegin Antje etwa weiß ich nicht nur zu schätzen, weil ich ihre positiven Meinungen meistens nachvollziehen kann, sondern auch, weil ich ihre Abneigungen kenne wie meine eigene Jackentasche (die Westen, die ich besitze, haben keine Taschen, also verzeiht das versaubeutelte Sprichwort).

Und, ja, vielleicht finden manche von euch in der nachfolgenden Liste sogar Anregungen, einzelne Filme nachzuholen, so, wie ich nahezu Jahr für Jahr bei den Flops des YouTube-Musikkritikers Todd in the Shadows mindestens einen Popsong finde, bei dem ich denke: "Moment, Moment, den finde ich eigentlich ganz in Ordnung!" Oder ihr findet Erleichterung, weil ihr euch weniger einsam findet, wenn auch ihr mal einen positiven Konsens partout nicht versteht. Oder, oder, oder... Kurz gesagt: Eine Negativliste kann so viel Mehrwert haben, ich fände es schade, auf sie gänzlich zu verzichten.

Langer Vorrede, kurzer Sinn: Finden wir heraus, ob ich meinen eigenen Ansprüchen gerecht werde oder doch nur stumpf rumpöble! Und wie immer gilt: "Schlecht" ist hier nicht zwingend ausschließlich technisch, erzählerisch und darstellerisch katastrophal. Es kann auch ein kompetenter Film sein, der mich extrem gelangweilt hat oder aufgrund bestimmter Makel mehr geärgert hat, als es viele amateurhafte Projekte tun könnten, die ihr schöpferisches Herz aber am rechten Fleck haben. Das hier ist eine "Mein Filmherz schmerzt"-Flopliste, keine "Das Lehrbuch des Kinos geht durch die Existenz dieser Filme in Flammen auf"-Flopliste!

In diesem Sinne: Das sind sie, die Filme, für die ich 2023 die größte Antipathie empfunden habe!

Platz 10: Talk to Me (Regie: Danny und Michael Philippou)

Mehr Fragezeichen hat 2023 kein anderer Film bei mir hinterlassen. Nicht, weil ich Talk to Me auf thematischer Ebene, geschweige denn auf Plotebene nicht verstanden hätte. Ich denke, dass ich da gut mitgekommen bin: Eine einbalsamierte Hand ermöglicht Séancen und sogar das gewollte, gezielte Von-einem-Geist-in-Besitz-genommen-werden, was in der erweiterten Clique unserer Protagonistin (Sophie Wild)e zum neusten Party-Trend wird. Gruppendruck, morbide Neugier, Mutproben-Dynamiken und Lust daran, eigene Grenzen auszutesten, sei es gedankt.

Doch für die im Filmmittelpunkt stehende Halbwaise wird aus riskantem Grenzerfahrungsspaß alsbald eine Sucht, in die sie sich mit voller Wucht hineinstürzt. So lenkt sie sich von der Trauer um ihre Mutter ab. Das Element der Trauerbewältigung wird im (sehr deutlichen) Subtext durch Drogenmissbrauch ergänzt: Die Séancen in Talk to Me ähneln via Smartphone festgehaltenen und geteilten gemeinsamen Drogenexperimenten (und ähnlichem den Verstand attackierenden Schabernack, wie dem 2023er Trend zum Lachgasmissbrauch). So weit, so sinnig: Drogen gehören für viele zur Jugend dazu und sind sowieso gefährlich, auch wenn manche besser an den Nebenwirkungen vorbeisausen als andere. Doch sobald eine emotional angeknackste Person damit anfängt, das sprichwörtliche Steuer aus der Hand zu legen, und dem als sinnlos empfundenen Leben eine Richtung zu geben, nun... Der Ärger kündigt sich lautstark und deutlich an.

Was ich derweil nicht verstanden habe: Wieso kam Talk to Me dermaßen gut an? Ich war nach meiner Talk to Me-Begegnung vollkommen ratlos, fühlte mich, als hätte man mir einen anderen Film vorgesetzt als allen anderen.

Ich gebe Talk to Me eine engagiert spielende Sophie Wilde, eine mit Spannung inszenierte und glaubhaft mit untätigen, überforderten und daher falsch handelnden Figuren ausstaffierte Party- Séance sowie solide bis gute Make-up- und Trickeffekte, um Verletzungen und körperliche Folgen des Besessenseins zu illustrieren. Aber dem gegenüber standen eine meiner Auffassung nach ziemlich an didaktische 80er/90er-Jahre-PSAs erinnernde Anti-Drogenmetaphorik, eine leblose Lichtgebung, die generischste Teeniehorror-Farbdramaturgie, die ich seit langem gesehen habe, und klobigstes Foreshadowing. Klobiges Foreshadowing, das bei mir keinen "Oh nein, ein Damoklesschwert schwebt über unseren Figuren"-Spannungseffekt hatte, sondern den Ich seh, Ich seh-Effekt. 

Und ich fand die Dialoge überaus ernüchternd, wenn nicht sogar desillusionierend. Die jugendlichen Figuren klangen sich zu ähnlich, und daher hatten sie für mich wenig Charakter, was der Spannung nicht gerade zugutekam. Als ich nach meiner Sichtung erfuhr, dass die regieführenden Brüder ihren Cast viel improvisieren ließen (nicht storytechnisch, sondern hinsichtlich der Dialoge), schien mir klar, was das Problem sein dürfte: Nur, weil man schauspielern kann, kann man halt nicht automatisch schreiben.

Für jene, bei denen der Film funktioniert hat, ist das Impro-Element dagegen der Grund, weshalb alle so authentisch klingen. Und wo ich nur generische, leblose Regieführung sah, fanden unzählige andere Kreativität, Innovation und unverbrauchte Abwandlungen bekannter Versatzstücke. Das muss so eine "Entweder hast du die Hand berührt und kannst den Geist sehen, oder du bist die piefige Null, die spaßbefreit die Party verlässt"-Sache sein. Ich wünsche euch, dass ihr den Geist seht, den zum Beispiel Antje und Bea gesehen haben, kann mir aber nicht anders als weiter ratlos den Kopf schütteln. Es tut mir leid.

Platz 9: Five Nights at Freddy's (Regie: Emma Tammi)

Josh Hutcherson macht seine Sache gut, Elizabeth Lail hat mehr Spaß als ihr das Drehbuch zugesteht und die von Jim Henson's Creature Shop erbauten Animatronic-Kostüme können sich sehen lassen. Und im ersten Drittel greift Regisseurin Emma Tammi auf stimmungsvolles Foreshadowing zurück. Dann wird der Film über lange, lange Strecken langweilig. Übererklärungen, ungeschliffene Szenen, die danach schreien, hier und da noch ein paar Sekunden zu verlieren, und erzählerische Sackgassen. Ein paar selbstironische Momente lassen eine campigere Variante des Stoffes erahnen, die wohl mal in den Köpfen der Verantwortlichen herumgeisterte. Und dann geht's gen Fremdschamfinale. Joah. Für mich ein "Wäre gern ein guter erster Horrorfilm", Matt Donato beurteilt, dass er nicht nur als Genre-Einstiegsdroge funktioniert.

Platz 8: Totally Killer (Regie: Nahnatchka Khan)

Die moderne Welle an Slasherkomödien, die bewährte Konventionen dieses Horrorsubgenres mit anderen, altbekannten Plotideen kreuzt und die im Mittelpunkt der Erzählung stehenden demografischen Gruppen durchmischt, sagt mir sehr zu. Entsprechend groß war meine Vorfreude auf Totally Killer, einen Film, dessen Grundidee quasi besagt: "Was, wenn Zurück in die Zukunft ein Slasher wäre?"

Kiernan Shipka hat noch durch Chilling Adventures of Sabrina Sympathien bei mir über, und innerhalb der ersten paar Minuten habe ich mehrfach herzlich über kompromisslose Seitenhiebe gen True-Crime-Wahn gelacht. Kaum ist die Protagonistin in die 80er zurückgereist, um sich dort dann darüber zu wundern, dass einige große Probleme mit diesem Jahrzehnt in der 80er-Nostalgie-Popkultur so überhaupt nicht abgebildet wurden, hatte ich auch Spaß daran. 

Aber dann hat mich Totally Killer zügig verloren: Die Dialoge sind klobig, der Cast schien damit zu hadern, die Balance zwischen den zwischenmenschlich-dramatischen Momenten, der Genre-Selbstironie und der Slasher-Anspannung zu finden. Und der Film sieht in Ermangelung eines mir erkennbaren visuellen Konzepts einfach hässlich aus. Schon nach der ersten Hälfte wollte ich einfach nur, dass es vorbei ist. Schade. Aber nehmt mich nicht sofort beim Wort: Für eine gut geschriebene Pro-Meinung zu Totally Killer empfehle ich Christy Lemires Review bei Roger Ebert.

Platz 7: Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes (Regie: Francis Lawrence)

Von allen Filmen in dieser Liste, ist das Die Tribute von Panem-Prequel der Film, dem ich die meisten Pluspunkte zusprechen würde:. Hunter Schafer hat zwar nicht viel zu tun, macht ihre Sache aber gut und erfüllt ihre Figur (die sich und ihrer Familie ein würdevolles Auftreten verschaffende Cousine eines zukünftigen Despoten) mit Empathie und Tatkraft. Rachel Zegler kann noch immer gut singen. Jason Schwartzman ist als eiskalter, spießig-albern auftretender Moderator ein großes Vergnügen und eine gute Fortführung (beziehungsweise: ein guter Vorbote) von Stanley Tuccis Gastgeber-Rolle in den anderen Panem-Filmen.

Viola Davis ist genüsslich-abscheulich als durchgeknallte Erfinderin. Und die Kostüme sowie Locations geben einmal mehr einen intensiven Eindruck davon, wie Panem so tickt. Auch die Idee, den in den vorherigen Filme etablierten Look nun mit Verweisen auf die (westeuropäische) Nachkriegszeit zu ergänzen, inklusive des 50er-Jahre-Designs bei der Übertragung der zehnten Hungerspiele, ist clever. Sie ergänzt sich stimmig mit der gesellschaftskritischen Komponente der Reihe.

Aber. Das große, große Aber. Das gigantische Aber: Die Faktoren, die mich am Panem-Prequel verärgerten, sind dermaßen drastisch und schwerwiegend, dass der Film halt trotzdem auf diesem Platz gelandet ist. Nicht nur, dass ich das Skript holprig fand, mit einem von vorhersehbaren Klischees übersäten ersten Akt und einem dritten Akt, in dem sich die Charakterzeichnung panisch überschlägt, um irgendwann halt dort auszukommen, wo der Film auskommen muss, damit er als Prequel zur bekannten Reihe funktioniert.

Erschwerend kam hinzu, dass ich nie den Eindruck gewonnen habe, irgendwer hätte gewusst, was man mit den beiden Hauptfiguren (District-12-Tribut Lucy Gray und ihr Mentor, der künftige Präsident Snow) anstellen soll: Weder Lawrence, noch die Drehbuchautoren Michael Lesslie & Michael Arndt, noch Rachel Zegler und Tom Blyth vor der Kamera.

Unentwegt ändert sich der Ansatz, wie die Figur zu verstehen ist, mal durch Mimik, Gestik und die Art, wie gesprochen wird, mal durch die Wortwahl im Dialog, andere Male durch Lawrences Regieführung. Aber nie, nicht einmal, änderte sie sich so, dass ich das als Charakterwandel verstanden habe, oder als Versuch einer nuancierten Figurenskizze. Für mich wirkte es stets unentschlossen. 

Das hinderte mich daran, mit ihnen / auf emotionaler Ebene gegen sie zu fiebern. Ihre Schicksale waren mir wahlweise egal oder ich war szenenweise einfach von ihnen genervt. Aber selbst das ist nicht das größte Verbrechen des Films. Der Hauptgrund, weshalb das Panem-Prequel in meiner Flopliste landete, ist der meiner Ansicht nach konfuse ethische Kompass dieser Erzählung.

Der Film beginnt mit einem etwas unter Ressourcenmangel leidendem, jedoch privilegiertem Snow, der mit den faschistischen Methoden in Panem fein ist und gerne aufsteigen würde, um mehr Vorteile dieses Systems auszukosten. Dann setzt eine Mitleidsparade in Gang, dass dieser arme, bedauernswerte Fascho-Bube ja leider, leider durch seine Umstände dazu gezwungen wurde, ein mörderischer Extremist zu werden, und eigentlich hätte er ja nur eine tröstende, liebende Umarmung mehr von Lucy benötigt, um gut zu werden. Snow ist ein Opfer, Leute! Er musste einfach gegen seinen Willen vom Faschismus-Begünstigten zum Über-Fascho werden, seufz!

Das jedenfalls war die Botschaft, die ich daraus gezogen habe, wie hier die Geschichte aufgezogen wurde. Es war garantiert nicht die intendierte Botschaft, und es ist auch nicht die, die beispielsweise Christoph Petersen in der Filmstarts-Kritik herausgezogen hat, also bin ich willens, den Fehler bei mir zu suchen. Und ich empfehle allen, die den Film noch nicht gesehen haben, Christophs Kritik zu lesen, statt hier nur auf mein Gemecker zu hören. Trotzdem weiß ich noch, wie nahe ich der Weißglut war, als der allerletzte Satz im Panem-Prequel fiel. Bis ich vielleicht eines Tages weiser werde, bleibt der Film in dieser Negativliste.

Platz 6: Indiana Jones und das Rad des Schicksals (Regie: James Mangold)

Ich kenne mehrere Leute, deren Filmgeschmack ich sehr respektiere, die diesen Film unterhaltsam oder sogar klasse fanden. Und es gibt viele, viele digitale Brandstifter, die liebend gerne beschließen dürfen, ihren Job niederzuschmeißen und fortan irgendetwas wertvolles für die Gesellschaft zu tun (etwa Brot backen für die Armen), die mir bei der Aufnahme von Indiana Jones und das Rad des Schicksals in meine Flopliste gratulieren würden. 

Anders gesagt: Hiermit baue ich mir ungewollt eine starke argumentative Rampe dafür, dass Floplisten eben doch mies sind. Aber es wäre halt gelogen, zu behaupten, dass mich James Mangolds Indiana Jones-Sequel nicht mit dem Gefühl zurückgelassen hat, als hätte mir wer während des Kinobesuchs die Lebensgeister aus dem Körper gesogen.

Die Dramaturgie wirkte auf mich bleiern, die Lichtsetzung und Bildkomposition war in meinen Augen derart ideenlos, dass mir dieser immergleiche butterig-braun-sonnengegerbte Look bereits auf die Nerven ging, bevor der dritte Akt losging, der dann auch nichts daran änderte. Und vor allem fehlte es mir bei diesem Wiederauflebenlassen der alteingesessenen Abenteuerreihe einfach an Esprit, Inspiration, Identität. Und sei es noch so wenig.

Die Indy-Reihe wird ja gerne als "Abenteuerfilm-Blaupause" bezeichnet, was angesichts ihrer großen Vorbildwirkung auch nicht völlig daneben ist. Aber für Blaupausen sind die ersten vier Teile der Reihe eigentlich zu charakterstark, alle von ihnen (selbst der eine, den ich nie mochte) haben eine tonale Persönlichkeit, eine klare Gangart. Indiana Jones 5 ist, von ganz wenigen Augenblicken, in denen der Gedanke aufblitzt, man könnte sich etwas kritischer und komplexer mit der Titelfigur auseinandersetzen, hingegen vollkommen generisch und frei von jeglichem Funken, der den Film beseelen würde. 

Während andere wirtschaftliche Big-Budget-Enttäuschungen des Jahres wie Shazam 2 und Ant-Man and the Wasp: Quantumania gemeinhin härtere, prominentere Verrisse abbekommen haben, nahm ich aus ihnen mehr mit als aus Indiana Jones 5: Shazam 2 ist ein filmgewordener Samstagmorgen-Abenteuercartoon mit Mythologie-Begeisterung, einfach ein munter-quirliger Comedy-Streifzug durch eine Antike-Ausstellung. Quantumania ist Peyton Reeds Sommerschlussverkauf an Hommagen auf B-Movies seiner Kindheit und Jugend, ein bewusstes Edelschundfilm-Allerlei, das als limitierte Blu-ray in VHS-förmiger Verpackung plötzlich nach Kult schreien würde, aber leider den Ballast tragen musste, Phase 5 im MCU zu eröffnen und daher an ganz anderen Maßstäben gemessen wurde. Es sind Ansätze, ich hatte Spaß mit ihnen, verstehe aber, wenn sie bei anderen nicht funktionieren.

Doch Indiana Jones 5? Der füllte mich bloß mit Leere. Kein Revisionismus, keine Dekonstruktion, keine Rekonstruktion, nicht einmal ein engagiertes "Ein letzter Ritt!" Der Film wirkte auf mich nach dem Schließen einer Programmlücke im Kinostartkalender, nicht nach der Ausführung einer Idee. Ich beneide alle, die auf der Wellenlänge liegen, auf der der Film irgendetwas gesendet hat. Bei mir kam nur weißes Rauschen mit bräunlich-weichgezeichneten Bildern an. Etwas deutlich Würdevolleres kam derweil bei Patrick Wellinski von Deutschlandfunk Kultur an, solltet ihr noch ein Gegengewicht zu meinem Sermon benötigen.

Platz 5: Ruby taucht ab (Regie: Kirk DeMicco)

Ich kann es nicht abwarten, bis eines Tages ein ausführlicher Artikel über die Produktionsgeschichte von Ruby taucht ab erscheint. Denn diese DreamWorks-Animation-Komödie über eine am Land lebende Teenie-Krake, die einer mit Meerjungfrauen verfeindeten, mächtigen Familie entstammt, wirkt wie das erschöpft und schulterzuckend ins Kino geschleuderte Endergebnis einer tumultartigen Produktionsgeschichte.

Vielleicht irre ich, und die Entstehung des Films lief glatt. Aber würde dieses Wissen es wirklich besser machen? Charakterzüge drehen sich unprovoziert um 180 Grad (und zurück, und wieder zurück), Subplots werden fallen gelassen, und die zu Filmbeginn mit hübsch-leichtfüßiger Selbstverständlichkeit ausgelebte Toleranzbotschaft wird durch den Hauptkonflikt attackiert, bis sich die Balken biegen. Schwergängige Expositionsdialoge und eine mit weiterem Filmverlauf immer niedrigere Gag-Trefferquote kommen erschwerend dazu. Tracy Brown von der LA Times erklärt euch, wie man mehr Spaß mit Ruby haben kann.

Platz 4: Heart of Stone (Regie: Tom Harper)

Die geschmacksarme Discountvariante von Mission: Impossible - Dead Reckoning: Eine besonders geheime Geheimorganisation, die regierungsunabhängig agiert, doppeltes und dreifaches Spiel, und eine künstliche Superintelligenz als alles berechnendes Ass im Ärmel. Nur, dass der Netflix-Actioner weitaus unkritischer mit KI und Algorithmen ins Gericht geht, die Superstunts und schmissig inszenierten Verfolgungsjagden fehlen und Gal Gadot halt kein Tom Cruise ist.

Der Fairness halber: Gadot war schonmal ein stärkerer Kritikpunkt an einem Film als hier. Vor allem, wie sie körpersprachlich zwischen den verschiedenen behaupteten Identitäten ihrer Figur switcht, ist echt passabel. Dennoch wird sie von ihrem restlichen Cast ausgestochen, etwa von einer quirligen Alia Bhatt, einem amüsant-schmierigen Jamie Dornan und einem sehr spaßigen Matthias "Fazzoletti" Schweighöfer als eine Art Q. Das tröstet nicht über die dröge Story, die bemühten Twists und den aggressiv-uninteressanten Look hinweg. Aber vielleicht bin ich auch nur garstig: John Anderson vom Wall Street Journal beweist euch, dass man doch Spaß am Film haben kann.

Platz 3: Trauzeugen (Regie: Finn Christoph Stroeks und Lena May Graf)

Ein Scheidungsanwalt und eine Paartherapeutin müssen für ein befreundetes Ehepaar die letzten Hochzeitsplanungen übernehmen. Zuerst hassen sie sich, sowohl aus berufsbedingten Prinzipien als auch aufgrund gegensätzlicher Gemüter: Sie stürzt sich begeistert und impulsartig ins kleinste Detail der Last-Minute-Planungen, er würde sich lieber weiter seiner Arbeit widmen und bevorzugt ein methodischeres Vorgehen.

Er ist der trocken-charismatische Edin Hasanović, sie die energiegeladene Almila Bagriacik. Beides Schauspieltalente, die ich sehr gerne sehe, und die auch in Trauzeugen eher punkten als danebenhauen. Sie trifft keine Schuld. Mit einem wortlos Wut, körperliches Begehren, Neid und Frust ausdrückenden Tanz sorgen die Zwei dank ihrer Körpersprache sogar für ein kleines Highlight im Film.

Aber das Drehbuch ist völlig zerschossen, ständig werden Logikkapriolen geschlagen und charakterliche Gemüter komplett uminterpretiert, um die Story am Laufen zu halten. Und die Inszenierung ist so profilarm, dass eine gewaltige Anti-Chemie zwischen den Hauptfiguren entsteht. Inniglich habe ich dagegen gefiebert, dass zwischen ihnen etwas entsteht. Ein drastischeres Urteil ist in einer RomCom kaum vorstellbar. Begeisterte Stimmen habe ich keine gefunden, aber Bianka Piringer von kino-zeit führt vor, dass man den Film sehr wohl zumindest solide finden kann. 


Platz 2: The Flash (Regie: Andy Muschietti)

Talk to Me hat bei mir zwar die meisten Fragezeichen hinterlassen, The Flash allerdings das größte: Das soll laut zahlreichen talentierten, fähigen Filmschaffenden, darunter laut James Gunn, einer der besten Superheldenfilme aller Zeiten sein? Das hier?! Diese kühl berechnete, seelenlose und grottenhässliche Nostalgieköderfalle, die in feinster Ready Player One-Manier oftmals nicht einmal versteht, was die künstlerische Essenz der meisten von ihr ausgebeuteten Werke ist, und sich einzig darauf verlässt, dass es durch den "Ja! Das kenne ich!"-Faktor funktionieren wird? Wirklich?

The Flash ist in einer Filmära, in der der Kritikpunkt "Es ist kein Film, sondern ein Produkt" inflationär durch die Gegend geschleudert wird, weil er der Filmpresse (und, viel intensiver: Film-YouTube) frisch unter den Nägeln brennt, die Produktion, wo ich dieses Buzzword wirklich zücken würde. Der Film wirkt wie etwas, das Don Cheadles schurkischer Algorithmus aus Space Jam: A New Legacy in Auftrag geben würde, nicht wie ein popcornaffines Kunstwerk, in dem ein Herz schlägt.

Das liegt unter anderem an Muschiettis unfokussierter Regieführung (oder an den vielen Faktoren, die den Produktionsprozess derart plagten, dass sie im fertigen Produkt so wirkt): Die Makel, die bereits Es: Kapitel 2 plagten, werden hier mehrfach potenziert, allen voran ein aggressiv-cartoonesker Humor, der sich mit dem Mindset der Figuren und der zuvor etablierten, inneren Logik der Filmwelten mischt wie Wasser mit Öl. 

Dass Muschietti irgendwann eine Vision hatte, zeigt ein turbulent-chaotisch eskalierender Einsatz der Flash-Superkräfte: Nachdem ein paar Looney Tunes-Bilder gezeigt wurden, zieht Flash eine ungewollte Schneise der Zerstörung nach sich, wie in einem Tex-Avery-Cartoon. Muschiettis Gedanke war gewiss: Inspirationsquelle zeigen, Hommage durchführen. Doch weder gefiel mir Muschiettis Hommage (zu verkrampft), noch hat es dem Erzählfluss geholfen, vor ihr erst einmal ausgiebig und unsubtil auf sie vorzubereiten.

Solche Dinge wiederholen sich im Film immer und immer wieder, was schon ätzend genug wäre, würde Ezra Miller nicht auch noch eine vollkommen weltfremd-kindsköpfige Flash-Interpretation spielen (die noch dazu, Zeitreise sei dank, eine noch kindsköpfigere Flash-Variante unterrichten muss). Ich fand Miller in Justice League (sowohl in Joss Whedons Version als auch in Zack Snyders Fassung) amüsant, neurotisch-sympathisch. Aber deren Darbietung in The Flash ist eine inkonsistente Ansammlung an nervlichen Macken, kein Gesamtbild einer immer noch an einem Verlust nagenden Person. Und den übermäßigen Slapstick scheint Miller eher erschöpft zu erdulden, statt pointiert auszuspielen.

Ein Autopilot-Michael-Keaton, dem sekündlich die Lebensfreude aus den Augen entfleucht und eine ihre eigene Emotionalität wiederholt betrügende Narrative kommen noch dazu, die Action im MMORPG-Kampfarena-Look schmerzt in den Augen und ich hoffe so sehr, dass die peppig-saucoole Sasha Calle noch viele, echt knallende Actionrollen bekommt, um diesen Fehlgriff vergessen zu machen. In der Zwischenzeit verrät Jannek Suhr bei epd film, was ich offenbar übersehen habe.


Platz 1: Ghosted (Regie: Dexter Fletcher)

Chris Evans und Ana de Armas hatten in Knives Out einen tollen Rapport mit- und gegeneinander, Dexter Fletcher hat dank Eddie the Eagle und Rocketman einen gewaltigen Stein bei mir im Brett, und das Konzept "Romantik- trifft Actionkomödie, weil ein Kerl nicht schnallt, dass seine Traumfrau Topagentin ist" hat 80er-Touchstone-Pictures-Komödien-Vibes, womit ich mich als Zielgruppe für Ghosted verstehe. Gute, wenn nicht sogar sehr gute Voraussetzungen.

Und um kurz beim wenigen (sehr, sehr wenigen) Positiven zu bleiben: Fletcher lässt vor allem im Auftakt gewiefte ironische Ansätze durchschimmern, wenn er den Film wie eine extra dumme RomCom inszeniert und schneidet. Und das Finale in einem durchdrehenden Dreh-Restaurant hat ein paar gute Einfälle zu bieten. Und da hören die Stärken auch schon auf.

Die Chemie zwischen de Armas und Evans kann den Film nicht tragen, die Action ist zumeist total lahm, es gibt den Film ausbremsende, förmlich verzweifelt wirkende Cameos, die Schnittarbeit ist konfus, der Plot lustlos und die Dialoge haben kaum Witz. Und wenn sie mal Witz haben, ist es zumeist Humor, der im Rohr krepiert. Dass Fletcher durchblicken ließ, dass Apple im Schnitt so manche Sonderwünsche hatte, lässt natürlich die Frage aufkommen, ob hier eine solide Komödie kaputtverbessert wurde. Den fertigen Film finde ich aber hauptsächlich öde und bedauernswert.

Felicitas Kleiner vom Filmdienst lag dagegen auf derselben Wellenlänge wie Ghosted, ich empfehle also für ein besseres Gefühl so spät im Jahr ihre Kritik.

Freitag, 8. September 2023

Freitag der Karibik #75

Das Warten auf Pirates of the Caribbean 6 nimmt und nimmt kein Ende. Margot Robbie umgarnt die Disney-Studios seit Jahren, ihre eigene kleine Insel im verfluchten Karibikuniversum besiedeln zu dürfen. Disney hat Robbies Begehren nicht in die Tonne gekloppt, vorangekommen ist man aber partout nicht. Weshalb selbst Robbie dachte, Disney sei einfach desinteressert, woraufhin Produzent Jerry Bruckheimer öffentlich deklarieren musste, dass die Margot-Karibik nicht aufgegeben wurde. Es benötige nur etwas Zeit, bis man sie bereist. Dumm von Disney, so lange zu warten. In einem alternativen Universum wäre der Film bereits im Kasten und wartet darauf, als erstes Margot-Robbie-Projekt nach dem globalen Kinophänomen Barbie auf der weltweiten Welle der Begeisterung für die talentierte Australierin zu reiten.

So ernüchtert Robbie zuletzt klang, als sie sich über Pirates of the Caribbean äußerte, so positiv überrascht meldete sich kürzlich Craig Mazin zu Wort: Der Hangover 2 & 3-Autor und Chernobyl-Serienschöpfer steht seit nunmehr vier Jahren (!) gemeinsam mit PotC-Veteran Ted Elliott hinter einem Pirates of the Caribbean-Projekt, das parallel (und angeblich nicht in Konkurrenz) zu Robbies Film entwickelt wird. Jetzt endlich wurde uns ein winziger Einblick gestattet, was uns mit Mazins und Elliotts Film erwarten könnte - und wie es um ihn bestellt ist.

Gegenüber Variety erklärte Mazin, dass er und Elliot eine im etablierten Kanon spielende Grundidee vorgeschlagen haben, und vollauf davon überzeugt waren, dass Disney sie ablehnen wird. "Zu seltsam", sei sie. Und dann... hat Disney zugeschlagen. Das Skript ist laut Mazin fertig und nun warte man das Ende der Streiks ab, die die US-amerikanischen Schauspiel- und Drehbuch-Gewerkschaften anberaumt haben, weil sich die Studios immer größere Teile des sprichwörtlichen Kuchens in die Tasche stecken und noch dazu Kunstschaffenden damit drohen, sie durch KI zu ersetzen. Hisst die Flaggen!

Mal ganz davon abgesehen, dass seit Salazars Rache mehrere Projekte semi-offiziell angekündigt und von der Gerüchteküche heraufbeschworen wurden, ohne dass irgendwas passiert ist, und ich daher nicht zu früh jubilierend in die Luft springen möchte: Mazins "zu seltsam"-Kommentar und die Behauptung, dass es direkt nach den Streiks losgehen könnte, sind für mich Anlass genug, zu fabulieren:

Welche Talente könnten Bruckheimer und Disney auf dem Regiestuhl platzieren, um meine Vorfreude in die Höhe schnellen zu lassen und mir Mut zu machen, dass sich "zu seltsam" nicht als leere Phrase herausstellen wird? (Stets vorausgesetzt, dass sie auch wirklich Lust haben. "Naja, irgendwie muss ich ja meine Hypothek abbezahlen"-Motivation für den Regiejob brauche ich nicht in meiner Lieblingsfilmreihe.)

David Prior

Womöglich mein heimlicher Lieblingskandidat für den Pirates of the Caribbean-Regieposten. Mit The Empty Man schuf er den goreverbinskihaftesten Film, den jemals eine Person gedreht hat, die nicht Gore Verbinski ist. Und was wäre angebrachter bei einem PotC-Teil als genau diese Energie, noch dazu bei einem Skript, das angeblich disney-untypisch seltsam sein soll?

David Fincher

Ja, eine absolut unrealistische Wahl. Fincher steckt die Alien 3-Erfahrung noch immer zu tief in den Knochen, als dass er bereitwillig in eine bestehende Filmreihe springen würde, und seine gescheiterten Anläufe, bei Disney eine 20.000 Meilen unter dem Meer-Neuinterpretation vom Stapel laufen zu lassen, dürften ihn auch nicht von der Idee schwärmen lassen, für's Maushaus nun die Segel gen Karibik zu setzen. Aber: Allein, dass in Fincher ein abenteuerversessener Knabe steckt, der für Disney einen Effektfilm drehen möchte (wäre das Studio halt was zuvorkommender), macht ihn zu einem guten PotC-Kandidaten. Zumal man disneyfilmhistorisch eine direkte Linie von Käpt'n Nemo zu den verfluchten Piraten ziehen kann.

Noch dazu ist David Fincher bekennender Gore-Verbinski-Fan. Nicht, dass der Regisseur hinter Sieben, Zodiac, Panic Room, Fight Club, Gone Girl und Mank es nötig hätte, noch weiter in meiner Sympathie zu steigen. Aber eine Wertschätzung für Verbinskis Schaffen ist zweifelsohne ein großer Bonus, will man in meiner Fantasie den Pirates of the Caribbean-Regieposten ergattern.

Julia Ducournau

"Zu seltsam", Herr Mazin? Hm? Dann lasst uns das Skript doch der Regisseurin von Raw und Titane überreichen, es ihrem Geschmack anpassen und sie dann mit einem großen Budget in die Karibik verschwinden, wo sie fernab der sich einmischenden Disney-Studiobosse ihr Piratending zuzieht. Das würde mich vorfreudig zappeln lassen. Pirates of the Caribbean war eh schon das hormonell aufgeladenste Franchise unter der Disney-Flagge, mal gucken, was die schräge Bodyhorror-Indie-Französin mit einem Hang für sexuelle Unter-, Zwischen- und Übertöne draus macht!

Und Filmtwitter wieder einmal brennen sehen, weil sich irgendwer an ein Franchise "verkauft" hat, ist auch ein Spaß. (Zumal in einer idealen Welt Hollywood durch Barbie nicht die Lektion lernt "mehr Mattel braucht das Kino", sondern "lasst kreative Frauen mal mit massig Geld haushalten, wird schon".) 

Guillermo del Toro

Komm schon, Disney. Lass den Mann wenigstens eine Bahn verfilmen!

Aritz Moreno

Schräger Humor, ein Sinn für große Bilder und das Jonglieren vieler Figuren, gepaart mit einem Auge für's Sonderbare: Von Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden hinein in Disneys Fluch-Karibik. Also, ich fänd's spannend.

Joseph Kosinski

Hat eine etablierte Arbeitsbeziehung mit Disney (Tron: Legacy) und Jerry Bruckheimer (Top Gun: Maverick), kann hervorragende Bilder und die Soundtracks seiner Filme sind im Normalfall absolut klasse. So gesehen trifft er einige der Grundvoraussetzungen für einen Pirates of the Caribbean-Film, auch wenn er aus dieser Liste der am wenigsten "sonderbare" Kandidat wäre. Aber selbst wenn ihm der "Was? Er?!"-Faktor fehlt: Er hat einst Tron: Legacy durchgerungen, was auch nicht gerade der archetypische Disney-Big-Budget-Film ist. Und da wir hier gerade eh träumen: Direkt nach PotC 6 kann er ja auch endlich Tron 3 drehen. (Sorry, Joachim Rønning. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen einem Tron-Film von dir und von Kosinski, dann nehme ich Kosinski.)

Alfonso Cuarón

Damit er auch mal in einem Franchise herumwerkelt, für das ich mich erwärmen kann. Und weil ich gespannt wäre, über wie viele Schiffsdecks er einen Longtake gehen lassen würde.

Coralie Fargeat

Die Revenge-Filmemacherin zählt David Cronenberg, David Lynch und Michael Haneke zu ihren Vorbildern, was nun nicht gerade nach einem Abstecher in Disneys Karibik klingt (auch wenn Cronenberg immerhin mit Keira Knightley zusammengearbeitet hat, will man hier Six Degrees of Disney Pirates spielen). Doch nicht nur, dass sie mit ihrer Regiearbeit an der Netflix-Serie The Sandman bewiesen hat, sich nicht vor etablierten Popkulturmarken zu scheuen:

Sie erklärte auch, sich zum absurd-opernhaften Kino zugezogen zu fühlen, und je nach Regisseur war die PotC-Saga auch durchaus eine sehr absurde Rockoper. Noch dazu nennt sie als weiteres Vorbild John Carpenter, und da Pirates of the Caribbean 6 laut Mazin "zu seltsam" wird, hätte Fargeat ja hiermit die Gelegenheit, ihrer Filmografie ein Projekt zuzufügen, das bei ihr ähnlich hervorsticht wie Big Trouble in Little China aus Carpenters.

Gina Prince-Bythewood

The Woman King vereint prunkvolle Action, Entertainment vor historischer Kulisse mit grandiosen Kostümen und nuancierte Charakterköpfe von Figuren, die locker von dramatisch zu schnippisch wechseln können. Der Film ist eigentlich ein starkes Bewerbungsvideo, von Hollywood eine Wagenladung voll Geld und den Auftrag "Hier, mach was Aufwändiges draus" zu erhalten, und mir kann niemand erzählen, dass Pirates of the Caribbean nach The Woman King ein Stilbruch für Prince-Bythewood wäre. Aber für Disney wäre sie eine interessantere Wahl als etwa einem Shawn Levy, Alan Taylor oder (sorry) Kenneth Branagh (der sich doch lieber seinen biografisch motivierten Passionsprojekten, Shakespeare und Agatha Christe widmen sollte, als dem Popcorn-Effektkino) die Zukunft der verfluchten Karibik zu überlassen.

Wen würdet ihr euch für Pirates of the Caribbean 6 wünschen? Und werden wir es jemals schaffen, wieder einen PotC-Film und einen neuen Gore-Verbinski-Film im selben Jahr spendiert zu bekommen? Beantwortet erste Frage gerne in den Kommentaren und drückt für ein "Ja" bezüglich der zweiten Frage die Daumen, me hearties, yo-ho!

Mittwoch, 26. Juli 2023

Geistervilla

Was wir hatten

Die Fangemeinde der Disney-Themenparks ist so bunt durcheinander gewürfelt, dass es wohl keine steile These ist, dass jede Disney-Attraktion für irgendwen die Lieblingsattraktion darstellt. Zugleich ist es ebenso risikofrei, zu behaupten, dass sich zwei Attraktionen einen besonderen Platz in den Herzen der Disney-Fans erkämpft haben: Pirates of the Caribbean und Haunted Mansion gelten ungebrochen als Paradebeispiele dafür, wie Themenparkfahrten ein immersives, atmosphärisches Erlebnis mit Witz, Persönlichkeit und fragmentiertem, in sich schlüssigem Storytelling bieten können. Und all das, ohne sich als Adaption bestehender Filme zu präsentieren.

Es war bloß eine Frage der Zeit, bis die Disney-Studios zu ihrem Themenpark-Geschwisterchen rüber blicken und an diesen ikonischen Attraktionen bedienen. 2003 erfolgte der Doppelschlag: Gore Verbinski brachte mittels Rückendeckung durch Produzent Jerry Bruckheimer die abenteuerlichen Piraten auf die große Leinwand und machte Fluch der Karibik zu einem Sensationserfolg, der ein eigenes Kino-Franchise begründete und den Disney-Konzern nachhaltig veränderte.

Der König der Löwen-Co-Regisseur Rob Minkoff unterdessen verwirklichte mit Disney-Trickfilm-Produzent Don Hahn sowie Freaky Friday-Produzent Andrew Gunn im Rücken die hierzulande Die Geistervilla betitelte Haunted Mansion-Adaption. Die hinterließ kaum Eindruck in der Popkultur, nicht einmal in der Disney-Fangemeinde. Und wenn sich wer an sie erinnert, so wird sie vornehmlich als verschenkte Chance geschunden, einer legendären Bahn gerecht zu werden.

Vor allem der piefige, überzogene Humor rund um Eddie Murphy und seine Film-Familie wird kritisiert, während das Produktionsdesign und die praktischen Effekte durchaus hier und da Lob erhalten. (Der Fairness halber: In den USA entwickelte sich der Film nicht zuletzt dank regelmäßiger TV-Wiederholung zu einem kleinen Nostalgie-Favoriten innerhalb der Jahrgänge, die 2003 noch zur jungen Kernzielgruppe gehörten. Dass er eines Tages zu einem Kult wie Hocus Pocus heranwächst, wage ich noch zu bezweifeln, und einen Meinungswandel innerhalb der Themenpark-Fangemeinde habe ich auch nicht beobachtet.)

Schon früh stand fest: Darauf kann man es nicht beruhen lassen. Die Geistervilla muss einen erneuten Anlauf erhalten!

Was uns verwehrt blieb

Der womöglich weltgrößte Haunted Mansion-Fan ist zufälligerweise auch einer der prestigeträchtigsten Regisseure unserer Zeit: Guillermo del Toro, seines Zeichens Disney-Fan und Liebhaber des Grotesken, hat ganze Räume seines Hauses seiner Haunted Mansion-Passion gewidmet. Kein Wunder, dass er sich ins Gespräch für eine erneute Adaption gebracht hat. Jahrelang trat das Projekt auf der Stelle, bis ein berühmter Schauspieler für die Hauptrolle anvisiert wurde. Noch dazu einer, der bekennender, glühender Disney-Park-Fan ist, seine Karriere im Mickey Mouse Club begann und die Haunted Mansion liebt (aber das Nightmare before Christmas-Overlay hasst): Ryan Gosling!

Dieser Film ist aus nicht genauer bekannten Gründen geplatzt. Setzt hier einfach "kreative Differenzen" ein, rollt die Augen, wie feige Disney wohl war, und seid euch gewiss, dass del Toro stattdessen Referenzen auf die Haunted Mansion in einigen seiner Filme versteckte. Insbesondere Crimson Peak ist ein einziger "Ich mache dann halt meine total disneyunkompatible Version"-Traum von der Haunted Mansion.

Was wir stattdessen bekommen haben

Die alleinerziehende Mutter Gabbie (Rosario Dawson) zieht mit ihrem Sohn Travis (Chase W. Dillon) in ein großes, staubiges Anwesen in New Orleans. Kaum haben sie das Haus betreten, erleben sie sonderbare Dinge und fliehen. Doch sie konnten das Unheil nicht abschütteln: Ein Geist hat sich ihnen angeschlossen und nervt sie, egal wo sie sind. Also kehren sie in die verfluchte Villa zurück und versuchen, den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Dazu heuern sie den ehemaligen Physiker Ben (LaKeith Stanfield) an, der sich nun als Tourguide verdingt. Auch der exzentrische Priester Kent (Owen Wilson), das Medium Harriet (Tiffany Haddish) und der ans Übernatürliche glaubende Geschichtsprofessor Bruce (Danny DeVito) schließen sich der Truppe an...

Ob Regisseur Justin Simien genauso von der Haunted Mansion besessen ist wie del Toro, darf bezweifelt werden. Aber auch er hat eine Passion für die Attraktion und war vor seiner Karriere als Filmemacher sogar Cast Member im kalifornischen Disneyland sowie zeitweise Teil eines Walt-Disney-World-Chors. Seine Disney-Vergangenheit macht sich in Geistervilla (ja, Disney macht den umgekehrten DC-Move, wo auf Suicide Squad ja The Suicide Squad folgte) auch zweifelsohne bemerkbar:

Geistervilla ist rappelvoll mit narrativen, akustischen und visuellen Rückgriffen auf die legendäre Bahn. Von der einprägsamen Tapete über Kerzenhalter und kunstvoll verzierte Absperrungen bis hin zu Dreh- und Angelpunkten der Attraktion wie dem "Stretching Room" oder Madame Leota (hier gespielt von Jamie Lee Curtis): Wer die Vorlage zum Film kennt, wird immer wieder Dinge erkennen. Selbstredend adaptiert Komponist Kris Bowers (Bridgerton) den aus der Attraktion bekannten Ohrwurm Grim Grinning Ghosts und mit narrativen Elementen wie "Es befinden sich 999 Geister im Haus" oder dem "Dir folgt ein Geist nach Hause"-Aspekt wird die potentiell generische Geisterhaus-Geschichte an die Disney-Vorlage angepasst.

Auch beiläufige inhaltliche Referenzen, wie die Anmerkung, dass es viele sich widersprechende Hintergrundgeschichten gibt, runden den Fanservice-Charakter des Films ab. Dabei reißen diese Querverweise nicht per se aus der eigentlichen Geschichte heraus: Wenn etwas kurioses geschieht, inszeniert Simien es so, dass Disney-Fans sich im "Aha, das kenne ich doch!"-Genuss suhlen können, während für Ahnungslose halt einfach das titelgebende Geistergeschehen geliefert wird. Trotzdem scheitern die Verantwortlichen dabei, ein wirklich makelloses Gleichgewicht aus Fanservice und "Es darf nicht ablenken" zu erzielen:

Hier und da verweilt die Kamera dann doch zu lang auf einem Easter Egg oder lassen Simien und Filmeditor Phillip J. Bartell (Eating Out 2: Sloppy Seconds) nach einem verbalen Querverweis eine zu lange "Hier wird nun in Anaheim, Orlando oder Tokio sicher heftig applaudiert"-Dialogpause. Das stört den erzählerischen Fluss, könnte manchen Teilen des Publikums ein zu klares "Ich denke, ich habe da was nicht verstanden"-Gefühl geben und ist in einer 123 Minuten langen Familien-Geisterkomödie einfach nicht nötig.

Was mich derweil positiv überrascht hat: Simien, der zuvor auch Dear White People und Bad Hair gemacht hat, bekommt in Geistervilla den Raum, seine authentische Perspektive auf die Erfahrungen von BPoC zu präsentieren. Geistervilla ist zwar trotzdem mit Abstand sein am wenigsten über die Lebenswirklichkeit schwarzer Menschen in den USA erzählender Film. Aber während die Eddie-Murphy-Variante genauso von einer weißen Familie hätte handeln können, lebt und atmet dieser Film wenigstens eine Spur der Black Community in New Orleans. Und im Falle von Stanfields Figur unterstreicht tatsächlich das Hairstyling seiner Figur ein Stück weit die Charakterzeichnung.

Drehbuchautorin Katie Dippold derweil ließ mich schon bei Ghostbusters: Answer the Call mehrmals an Haunted Mansion denken, und ihr Gespür für familientaugliche Kalauer mit optionalem, makabrem Touch lebt sie auch dieses Mal aus. Vor allem Haddishs Harriet, die stets Fehlurteile darüber fällt, wie deutlich sie sich in Anwesenheit von Kindern über garstige Dinge äußern darf, liefert dahingehend ab. Wilson und DeVito wiederum agieren ungefähr genau so, wie man es in solch einem Film von ihnen erwarten würde - und das kommt in Dippolds erzählerischem Kontext und unter Simiens Inszenierung solide-kurzweilig rüber.

Als Einsteiger-Gruselkomödie, geschweige denn "normale" Gruselkomödie funktioniert Geistervilla derweil überhaupt nicht. Das ist, abhängig von der persönlichen Meinung diesbezüglich, wie gruselig denn die als Inspiration dienende Bahn denn nun ist, entweder vollkommen egal oder ein Problem. Ich zumindest sehe die Haunted Mansion als wundervoll-amüsante Annäherung ans Geisterthema an und nehme daher keinen Anstoß an einer Verfilmung ohne Gruselfaktor - was natürlich nicht heißt, dass ich del Toros schaurigere Variante abgelehnt hätte. (Und wenn jemals die Phantom Manor aus dem Disneyland Paris adaptiert wird, werde ich sowieso andere Maßstäbe ansetzen!)

Statt einen schaurigen Spaß zu kreieren, schufen Dippold und Simien daher einen rar gewordenen Rücksturz zu den Disney-Realfilmkomödien der 1950er bis 1970er: Wir sehen einer verschrobenen Figurengruppe dabei zu, wie sie durch eine Abfolge von kuriosen Ereignissen ihren Charakter formt - mit vielen Schmunzlern, etwas Slapstick und einem andersweltlichen Gimmick. Ich fühlte mich ganz konkret in Filme wie Der unheimliche Zotti, Charley und der Engel oder Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme versetzt, was ich charmant fand, euch allen da draußen aber auch klar mitteilen sollte, dass Geistervilla im Jahr 2023 eine extrem spitze Zielgruppe hat.

Zumal Simien das Geplänkel seiner Charakterköpfe immer wieder für Phasen pausiert, in denen Stanfields Ben an den frühen Tod seiner großen Liebe erinnert wird und ihn endlich zu verarbeiten versucht. Stanfield gelingt es hervorragend, diese Wechsel hin von Disney-Retrokomödie hin zu familientauglicher Trauerverarbeitungs-Dramödie darstellerisch zu tragen, und seine Figur durchweg stimmig zu halten, ganz gleich, wie zerrissen der Film ist.

Aber Simien und Dippold straucheln gelegentlich dabei, diese zwei Ansätze zu vereinen. Für jede beseelte Szene, in der etwa ein berührendes Gespräch zwischen Ben und Travis durch einen aus dem Leben gegriffenen "Kinder im Grundschulalter rennen mitten in einem profunden Gespräch davon und wollen jetzt einfach spielen"-Gag unterbrochen wird, woraufhin eine albern-herzliche Montage folgt, oder Ben seine verstorbene Partnerin liebevoll anhand von Dingen beschreibt, die ihn einst nervten, gibt es eine bemühte Passage, in denen man im Kinosaal förmlich spürt, wie Simien und Dippold gerade so die Nähte ihres Flickenteppichs zusammenhalten.

Wäre Geistervilla optisch etwas wertiger und zudem flüssiger erzählt, ließe sich das leichter verzeihen. Aber da der Film ein paar Längen hat, und das gute Produktionsdesign mit einem etwas matschigen Color Grading und einem Übermaß an unbeseelten Effekten konkurriert (insbesondere im Finale), fehlt einfach dieser gewisse Funken an kunsthandwerklicher Passion, der über so etwas hinwegtäuschen könnte.

Dafür ist es erstaunlich, wie sehr Geistervilla im Dialog-Duktus an Magic in the Moonlight erinnert. Da Simien den Regisseur hinter besagter Schmunzelattacken-Séancendramödie zu seinen künstlerischen Einflüssen zählt, lag es womöglich auf der Hand, dass Simien den Cast seiner geisterhaften Komödie in einem ähnlichen Takt und einer vergleichbaren Sprechfarbe agieren lässt. Nicht, dass er direkt bei dem Film abgeguckt hätte, aber es ist offensichtlich, dass er sich einem ähnlichen Thema auf vergleichbare Weise nähert...

Dessen ungeachtet, seid mal ehrlich: Wer hatte auf seiner 2023-Bingokarte "Ein und derselbe Film wird sich bei Woody Allen und Disney-Realfilmkomödien der 1950er bis 1970er bedienen, und zudem sein Storytelling non-verbal durch die authentische Darstellung von BPoC-Frisuren stützen"?

Ein Fazit, das den Stretching Room nimmt: Wenn ein Film, über den riesig groß "Disney hat sich nichts getraut und daher del Toro ein Projekt weggenommen, um es stattdessen einem deutlich kleineren Namen zu geben"-Signale schweben, es trotzdem vermeidet, wie ein von Studiokomitees am Reißbrett entwickelter Film zu wirken, ist das erst einmal begrüßenswert. Dass Simien und Dippold eine eklektische Ansammlung an Einsätzen und Einflüssen zusammengeworfen haben, sorgt für tonale Farbe in einer Disney-Realfilmära, in der so etwas selten geworden ist.

Aber der Verzicht auf große Lacher und packende Geister-Setpieces sorgt im Zusammenspiel mit der eher ernüchternden Bildsprache des Films und zu viel narrativem Leerlauf für leichte Ernüchterung: Geistervilla ist auf dem Weg dorthin, denkwürdig und markant zu sein. Doch dem Film geht die dafür nötige Puste aus. Stattdessen ist es ein Film geworden, der für eine sehr spitze Zielgruppe charmante Unterhaltung bietet. Es ist ein Film für Leute mit meinem verschrobenen Geschmack, die sich an dem einen oder anderen Sonntagnachmittag aufs Sofa legen, in eine Decke murmeln und von dezent modernisiertem Disney-Retroflair umarmt fühlen wollen.

Ich kann Geistervilla nicht voller Überzeugung verreißen, aber auch nur sehr, sehr wenigen Menschen guten Gewissens empfehlen. Für Normalos ist es ein "Egal"-Film mit einem gefälligen Cast, ein paar Durststrecken und einigen Momenten, wo Humor oder Gefühligkeit genau ins Ziel treffen. Für mich ist er ein "Ich mag ihn mehr, als ich ihn respektiere"-Titel. Ich vergebe hier im Blog eigentlich keine Sterne-Bewertungen, aber um dieser langen Rede endlich einen kurzen Sinn zu verleihen: Das hier wäre so ein "2,5 von 5 Sternen - mit einem Herz"-Ding. Hurry back! 

Geistervilla ist ab dem 27. Juli 2023 in einigen deutschen Kinos zu sehen.

Donnerstag, 20. Juli 2023

Oppenheimer


Ich weiß nicht, was in den Köpfen jener vorgeht, die deutsche Lehrpläne entwerfen. Aber im gesamten Verlauf meiner Schullaufbahn war das atomare Wettrüsten kein einziges Mal Thema. In den naturwissenschaftlichen Fächern wurde mal kurz erklärt, wie Atomenergie funktioniert, doch die gesamte polithistorische Dimension, weshalb man darin geforscht hat, die Atombombe erfand und einsetzte? Kein Thema. Sämtliches Wissen über die jahrzehntelang die Welt im Atem haltende Atomangst und die Anlässe, die Welt überhaupt erst an diesen Abgrund zu führen? All das musste ich von älteren Verwandten erfahren sowie aus öffentlich-rechtlichen Dokumentationen und der Popkultur ziehen.

Das genügte für ein Verständnis des groben Zeitstrangs. Einen überaus vagen Eindruck dessen, wie es sich angefühlt haben muss, während des nuklearen Wettrüstens morgens im Gedanken aufzuwachen, abends nicht mehr zu leben, bloß weil irgendwer in der einen Hemisphäre irgendwas gesagt hat, das irgendwem auf der anderen Hemisphäre den Hut hat hochgehen lassen. Und für die unbegreiflich im Raum stehende Behauptung: "Naja, die Amis wollten halt die Bombe bauen, bevor die Nazis das tun." 

Wenn ich an Oppenheimer denke, denke ich nicht zuallererst an die einmal mehr wuchtige Klangwelt, mit der Nolan seine Bilder aufwerten lässt. Oder an die visuelle Macht, mit der sich Nolan dem oft so uninspiriert abgewickelten Genre des Biopics nähert. Nicht einmal an Cillian Murphys so ruhig-brodelnd angelegte, so emotional aufzehrend wirkende Darbietung. Oder an Emily Blunt, die lange wie in einer undankbaren Nebenrolle gefangen wirkt und sich dann als weitere das Geschehen reflektierende, Persönlichkeit beweisende Partei enthüllt. Sondern daran, dass mir Oppenheimer endlich die Antwort auf die Frage "Warum zum Henker haben sich Menschen hingesetzt, um so etwas zu entwickeln?" begreiflich gemacht hat.

Innerhalb von drei Kinostunden entwirft Regisseur/Autor Christopher Nolan ein Szenario, in dem Hybris, Überforderung, widersprüchliche Informationen sowie überbordende, wissenschaftliche Neugier im Gleichschritt mit atemloser Angst vor der Bedrohung durch die Nazis zum Bau eines Weltenzerstörers führten. Eine Waffe, die daraufhin jenen entglitten ist, die ihre Implikationen verstehen, und aus reinem, patriotischen Machtgehabe auf Kosten mehrerer Tausend japanischer Leben der Weltbühne vorgeführt wurde. Nolans Oppenheimer dient nicht als Rechtfertigung, nicht einmal zwingend als schulische Erklärung. Sondern als ernüchternde Begreiflichmachung der sehr speziellen Umstände und Persönlichkeiten, die zu einer die Welt verändernden, unaufhaltsamen Kettenreaktion führten.

Und das hat mich mit staunender Überwältigung zurückgelassen. Das werde ich so schnell nicht vergessen und dem Film für immer zugute halten.

Die düstere Sinfonie der physikalischen Formeln, die Kakophonie des politischen Ellenbogenreibens

Wie es bei Nolan zunehmend üblich wird, ist auch Oppenheimer eine von seinen Klängen getragene Filmerfahrung: Das Drama eröffnet, wie viele Klassikkonzerte beginnen: Das Orchester wärmt sich auf, die Streichinstrumente werden ein letztes Mal gestimmt. Dann sehen wir Regen auf eine Wasserfläche prasseln, von Nope-Kameramann Hoyte van Hoytema so gefilmt, dass es glatt so aussieht, als wären die aufprallenden Tropfen Noten auf einer Partitur.

Von nun an oszilliert die Filmmusik des The Mandalorian-Komponisten Ludwig Göransson zwischen voluminös erklingenden, sinfonischen Stücken und wuchtigem, chaotischem Elektrosound. Ein klassisch aufgebautes Orchester spielt Musik, die im Einklang mit den Bildern den Eindruck vom Vorantreiben von Forschungsprozessen, sprunghafter Passion in privaten wie beruflichen Dingen und flirrenden Gedanken erzählen. Eine Verschmelzung aus klassischem Orchester, Synthesizern und ungewöhnlichen Instrumenten wabert, dröhnt und schlägt entfesselte, bedrohliche Klangwellen. In diesen Passagen klingt Göranssons Musik so sehr nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten, wie noch nie jemand außer Hans Zimmer nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten klang.

Auf der Oppenheimer-Tonspur wird ein unablässiger Kampf ausgetragen, zwischen Konvention und Modernität, Untermalung und Übertönung, einem mitfühlenden und gegen das Bild rebellierenden Ansatz. Nolan, dessen Filme mitunter als verkopft, über-intellektualisiert und kompliziert kritisiert werden, machte schon in Tenet keinen Hehl daraus, dass er doch nur will, dass wir seine Arbeit fühlen, nicht verstehen. Er legte Clémence Poésy sogar eine Tenet-Gebrauchsanweisung in den Mund. In Oppenheimer belässt er es nicht mehr auf eine Dialogzeile. Er lässt es Göransson musikalisch in die Welt hinausbrüllen und trennt visuell seine einmal mehr ineinander verwobenen Erzählebenen in vibrierende, gefühlsüberbetonte Farben und nüchternes, Nuancen auslöschendes Schwarzweiß, um es uns begreiflich zu machen: Nolan will uns die Geschichte mit jeder Pore unseres filmschauenden Körpers erleben lassen. Das Trockene ist trocken, laugt aus. Das Chaos ist laut und desorientierend. 

Wer in der realen Historie an welchem Tag jetzt was warum gesagt hat, ist weniger von Belang als das, was daraus folgt, was es mit der Welt macht, mit Oppenheimers Seelenleben anstellt, mit uns im Saal macht. Oppenheimer ist kein derartiges Wunder an Struktur, Schnitt und Musik wie Dunkirk, setzt dessen Grundgedanken, wichtige Geschichtsereignisse zu destillieren und in uns hineinzujagen, aber deutlich erfolgreicher um.

Einen Clémence-Poésy-Augenblick nimmt sich Nolan dennoch heraus: Oppenheimer, den wir im Film wiederholt rätselnd ins Leere starren, mit seinen Augen Löcher in die Luft bohren und fragend vom Regen bombardierte Wasserflächen anblicken sehen, bekommt von einem Kollegen gesagt, er sei als an der Mathematik desinteressierter Physiker wie ein Musiker, der keine Noten lesen kann. Was in seinem Fall nicht weiter von Belang wäre, da er die Musik in ihrer Gesamtheit versteht. Womit Nolan noch im ersten Drittel (erstmals, aber nicht zum letzten Mal) den Bogen zurück zum Filmbeginn spannt. Dieser Film wird musikalisch erfahrbar gemacht, schert sich um dornige, widersprüchliche Gesamteindrücke, ignoriert trotz drei Stunden Laufzeit irgendwelche Detailfragen, die allein das Fachpublikum einordnen köönte. Das mag spalten, setzt aber große Energie frei.

Während die sich um Oppenheimers Lebensperspektive und den physikalischen Forschungsprozess drehenden Sequenzen zwar mit ehrlichem, überzeugtem Pathos, aber auch geordnet ablaufen, ist die dominierende Energie in anderen Sequenzen destruktiv: Immer wieder sehen wir Anhörungen. Aus Oppenheimer wird phasenweise eine Art Justizthriller, mit allem, was zum Genre dazugehört: Uninformierte Fehlurteile, hasserfüllte Anschuldigungen, unsaubere Argumentationen, die mit voller Überzeugung in den Raum gebrüllt werden. Es sind Szenen, die uns aus Oppenheimers Schuhen rausholen und dazu drängen, Urteile über ihn zu bilden. Wohlwissend, wie schwer dies ist. 

Und es sind Szenen, die eiskalt mit dem US-Politzirkus abrechnen. Da ist ein Mann, der sich so sehr auf die Gelegenheit stürzte, die ultimative Waffe zu bilden, dass er davon geblendet einer angriffswütigen Politik in die Hände spielte und somit literweise Blut an seinen Händen kleben hat. Und den will man vor allem deskreditieren, weil er sich einst für die Gründung einer Gewerkschaft aussprach? Die USA, das Land der unbegrenzten "Fairness und Mitspracherecht sind Kommunismus, und somit unser aller Todfeind"-Argumentationsstrudel.

Eine Erfahrung, die komprimierter noch stärker gewesen wäre

Der bis in die kleinste Nebenrolle prominente Cast, Hoyte van Hoytema soghaften Bilder, Jennifer Lames paradoxer Schnitt (assoziativ und zielgenau zugleich) und Göranssons überwältigender Score helfen enorm, um Nolans elliptische Erzählung zu einem Gefühl zu erheben, statt als intellektuelle Fingerübung in narrativen Tricks enttäuschen zu lassen. Die sprunghaften Übergänge zwischen erzählten Zeiten und Perspektiven drängen unweigerlich dazu, dass unsere Köpfe genauso kreisen wie die derjenigen, die einen unglaublichen naturwissenschaftlichen Fortschritt getätigt und damit die Welt auf ewig verdammt haben.

Aber es gibt Passagen, in denen aus Ellipsen Leerlauf wird. So wird im ersten Drittel plötzlich minutenlang von mehreren Figuren in mehreren Erzählebenen darauf rumgeritten, dass es während der geheimen Erforschung der Atombombe zu einem Datenleck gekommen sei. Es folgt das unvermeidliche Fingerzeigen, wer es denn gewesen sein könnte, und wer dafür zuständig ist. Probleme, die im letzten Drittel an Signifikanz gewinnen, im ersten Drittel aber dermaßen überbetont und erneut verbalisiert werden, dass aus der Oppenheimer-Seherfahrung für mich kurzzeitig doch reines Absitzen eines groß aufgezogenen Biopics mit wenig Inhalt wurde.

Und auch, sobald der Endspurt beginnt, hin zum großen Crescendo der Musik, der elliptischen Erzählung und Oppenheimers Versuch, sein Tun zu verarbeiten, verliert sich Nolans Skript kurz in einem Übermaß an Erklärungen. Als hätte er das Vertrauen ins Publikum oder seinen Ansatz verloren. Ohne diese Passagen hätte mich Oppenheimer noch stärker erwischt. Doch auch mit ihnen ist es ein Strudel von einem Biopic mit großen kunsthandwerklichen Ambitionen und einer derart schwierigen Hauptfigur mit noch schwierigerem Erbe im Mittelpunkt, dass der Film diese Ambitionen tragen kann.

Oppenheimer ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Barbie


Meine Lieblingsserie als Kind war Die Dinos. Und es ist immer noch meine Lieblingsserie. Die mit mächtigen Puppen und Animatronicbauten aus dem Hause Jim Henson bevölkerte Sitcom-Satire wägt ihr Publikum mit stolz-tumben Wortspielen, schräg-überspitzten Figuren und allerlei albernen Situationen in Sicherheit. Und dann setzt sie sich mich solchen Themen auseinander wie sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, der Aufweichung der Demokratie durch käufliche Medien sowie machtgierige Großkonzerne, institutionellem Rassismus, die zerstörerische Ausbreitung des Kapitalismus, die verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens, den sich anbahnenden Klimakollaps und schlechtes Fernsehprogramm. 

Die Aussagen, die Die Dinos über all diese Themen trifft, sind fast ausnahmslos direkt und unmissverständlich. Vielleicht, weil Kinder zum anvisierten Zielpublikum gehören, doch zweifelsohne auch, weil die Serienverantwortlichen mit voller Überzeugung hinter ihren Aussagen stehen und keine Abschwächung ihrer Botschaften als nötig erachteten. Allerdings sind geradlinige, deutliche Ansagen nicht gleichbedeutend mit stumpfen, nichtssagenden Inhalten: Die bissige Ausnahmesitcom Die Dinos gelangt über gewitzte Dialoge, gewieft eingefädelte Handlungsbögen und sich gegenseitig in ihrer Bedeutung hochschaukelnden Gesellschaftsbeobachtungen zu ihren Urteilen. Daher hallt sie seit meiner Kindheit in meinem Hinterkopf nach und begeistert mich als Erwachsenen beim x-ten Anschauen immer wieder neu.

Ja, es ist eine Kunst, Leute näher ran an dein Werk zu locken, sodass sie mit der Lupe in der Hand, gebannt nach dem Sinn des Ganzen suchen. Doch es ist ebenso eine Kunst, sie mit aller Deutlichkeit umzuhauen. Genau die Worte oder Bilder zu finden, die sich aufgrund ihrer Schlüssigkeit und Strahlkraft ins Gedächtnis brennen, und sich dann auch noch trotz aller Direktheit beim wiederholten, genaueren Betrachten als zunehmend raffinierter enthüllen.

Greta Gerwigs Barbie weckt in mir nicht dermaßen große Begeisterung wie Die Dinos, allerdings bin ich von beiden Werken aus ähnlichen Gründen sehr angetan und ich würde ihnen eine beachtenswerte Familiengemeinsamkeit unterstellen. Daher finde ich es auch so bedauerlich, dass die US- und UK-Freigaben eine Empfehlung für Teenager aussprechen, aufgrund irgendwelcher sprachlicher Grenzüberschreitungen, die ich mit meinen deutschen Sprachsensibilitäten nicht ausgemacht habe.

Die FSK-Freigabe ab sechs Jahren trifft den Nagel hingegen auf den Kopf. Und ich hoffe sehr, dass sich zahlreiche sechsjährige Kinder finden werden, die Barbie zu ihrem Lieblingsfilm erklären - und ihn nie mehr von diesem Rang verbannen, so wie sich Die Dinos in meinem Serien-Pantheon auf der Spitzenposition festgebissen hat. Ich gönne es ihm. Denn auch er wird es verstehen, junge, noch unwissende Augen zu öffnen, und ältere, welterfahrenere Augen immer wieder auf's Neue durch seine Argumentationsschläue, Schaffensfreude und Beobachtungsschärfe zu begeistern und zum Weiterführen dieser Gedanken anzuspornen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. 

Rosa Feminismus, die Wandelbarkeit von Symbolen und das Streben danach, einen Antrieb zu haben

Barbie (Margot Robbie) führt ein sorgenfreies Leben in Barbieland, einer matriarchalisch geführten Welt in Bonbonfarben (vor allem: Pink). Jeder Tag ist der beste Tag ihres Lebens und endet mit einem feierlichen Mädelsabend, den Barbie unter anderem mit Barbie (Issa Rae), Barbie (Hari Nef), Barbie (Alexandra Shipp), Barbie (Emma Mackey) und Barbie (Ritu Arya) verbringt. Am Strand dagegen hängt sie auch gerne mit Ken (Ryan Gosling), Ken (Kingsley Ben-Adir), Ken (Simu Liu), Ken (Scott Evans), Ken (Ncuti Gatwa) und Allan (Michael Cera) ab. Als Barbie plötzlich komplexe, bedrückende Gedanken fasst, Probleme hat, in ihren High Heels zu laufen, und in der Dusche friert, gibt es nur eine Lösung: Sie muss die seltsame Barbie (Kate McKinnon) um Rat fragen. Sie hat doch schon alles durchgemacht, also wird sie ja wohl auch dafür eine Lösung haben...

Bevor Barbie Sorgen entwickeln kann, muss sie selbstredend erst einmal die Bühne betreten. Und Gerwig führt ihre Titelheldin in einer brillanten 2001: Odyssee im Weltraum-Parodie ein: Die Lady Bird-Regisseurin zeigt eine desolate, wüste Welt, in der junge Mädchen bloß Baby-Püppchen haben. Sie können also nicht anders, als Mutter zu spielen. Doch dann steht vor ihnen plötzlich eine riesige Barbie, die den Mädchen keck zuzwinkert. Die Mädchen zerstören ihre wie Babys geformte Püppchen, Also sprach Zarathustra ertönt immer triumphaler, ein neues Zeitalter hat begonnen.

Oberflächlich betrachtet ist es einfach schön schräg und ulkig, eine überdimensionale Margot Robbie in Sonnenbrille und einem an der Ur-Barbie angelehnten Badeanzug über piefig gekleideten, jungen Mädchen in einer Steinwüste thronen zu sehen. Doch dass sie die Position des Monolithen einnimmt, ist mehr als reine, ins Alberne verzerrte Stanley-Kubrick-Imitation. Es bereitet bei aller Komik die thematische Bandbreite des Films vor:

In einer Welt, in der mit Puppen spielende Mädchen dazu zwangsverdonnert wurden, eine Mutterrolle einzunehmen, war es ein gigantischer Fortschritt, ihnen neue Wahlmöglichkeiten an die Hand zu geben. Die Fashion-Puppe Barbie gestattete völlig neue Spielszenarien: Wer mit ihr spielt, kann sich nun in Erwachsenenszenarien ohne Nachwuchs hineindenken. Sich vorstellen, selber so wie Barbie chic gekleidet den Strand entlangzulaufen. Oder einen von unzähligen Jobs zu bekleiden (und sich in einem passenden Outfit einzukleiden). 

Aber so, wie der Monolith in 2001: Odyssee im Weltraum nicht nur Fortschritt bringt, sondern auch Konflikt und Verderben, ist Barbie keine reine Heilsbringerin. Wie Gerwig und ihr Schreibpartner Noah Baumbach in ihrem herrlich unverblümten Drehbuch mehrfach unterstreichen, kam mit Barbie Stereotypisierung einher: Egal, wie viele Puppen der Hersteller Mattel auf den Markt wirft, große Teile der Gesellschaft werden allein an die schlanke, langbeinige, weiße Blondine denken, für die Mode und Fröhlichkeit alles sind. Womit die Existenz dieses Produkts, ganz gleich wie wenig das beabsichtigt war, zu verzerrten Rollen- und Körperbildern führen kann.

Und wie kommt es, dass eine Spielzeugfigur, die ungefähr so viele Berufe durchlaufen hat wie Homer Simpson und Donald Duck, nicht in derselben Vehemenz genutzt wird, um ebenfalls eine Vielfalt an Gemütern abzubilden? Wenn Kinder alt genug sind, um sich Filme und Serien über fröhliche, traurige, wütende und ratlose Figuren anzuschauen, wieso werden sie von Spielzeugmarken wie Mattel dauerhaft dazu angetrieben, im Spiel eine Friede-Freude-Eierkuchenwelt zu erschaffen, statt ihnen spielerische Mittel an die Hand zu geben, negative Gefühle zu erkunden und Konfliktlösung zu erlernen?

Barbie, das Symbol der Emanzipierung aus dem monolithischen biografischen Weg direkt vom Kind zur Mutter, die spielerische Vorlage, sich in mannigfaltigen Rollen und Karrieren hinein zu projizieren, wurde in den Augen nicht weniger Menschen zum Symbol der Frauenunterdrückung und einer gleichgeschalteten Genderwahrnehmung. 

Im Gegensatz zum Monolithen aus 2001: Odyssee im Weltraum ist Barbie aber nicht nur Entwicklungsbeschleunigerin und Unheilsbringerin in Personalunion, sondern zugleich Protagonistin. Was es Gerwig und Baumbach gestattet, anhand von ihr nicht nur die intellektuelle Debatte zu starten, wie uneindeutig Symbole sein, Botschaften fehlgedeutet und Ideen variiert werden können. Sie haben obendrein die Möglichkeit, anhand und mit Barbie eine emotionale Reise zu erzählen. Über eine Figur, die herausfinden will, was sie denn nun ist, wo sie hingehört und was sie für sich selbst bezwecken möchte. Coming-of-Age, Coming-of-Meaning, Coming-of-Being, alles in Einem!

Und all dies wird durch das Prisma des Feminismus betrachtet: Die Auseinandersetzung mit im guten wie schlechten Sinne verformbaren Ideen und die Erzählung von der Suche nach Sinn, Geborgenheit und Erfüllung lassen sich verallgemeinern und übertragen, so, wie Barbie sie angeht. Doch ganz konkret wird es anhand dessen ausgearbeitet, was Barbie für die Stellung der Frau bedeutet. Und daran, wie deprimierend es ist, dass Frauen und junge Mädchen eine Fantasiewelt aufbauen müssen, in der sie sich entfalten können und ihnen alle Türen offen stehen, während für Männer die echte Welt ein solcher Tummelplatz ist.

Sie alle sind Barbie, doch er ist nur Ken

Dass in Barbieland nahezu alle Frauen Barbie sind, könnte so aufmunternd, inspirierend und anspornend sein: Egal, wie groß du bist, wie viel du auf die Waage bringst, welche Hautfarbe du hast oder welche Interessenschwerpunkte du mitbringst, auch du bist Barbie. So, wie laut den Spider-Verse-Filmen alles und jeder eine Spider-Persönlichkeit kann und laut Ratatouille jeder kochen kann. Aber: Wenn Barbie alles ist, was hält uns in unserer Wirklichkeit davon ab, sie in jede nur erdenkliche Richtung zu interpretieren und somit vom hinter dem Konzept dieser Puppe stehenden Ursprungsgedanken zu entfernen?

Und wenn wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, die von kaputten Körperbildern, Rassismus und Sexismus durchzogen ist, wie können wir da schon verhindern, dass (ob aus ideologischer Überzeugung oder widerwillig internalisierten, negativen Einflüssen) es ausgerechnet die abschätzigsten Interpretationen von Barbie sind, die sich festsetzen? Aus der Perspektive der von Margot Robbie gespielten, stereotypischen Barbie in Barbieland wiederum drängt sich das Dilemma auf: Wenn alle ich sind und ich alle bin, wer bin ich dann überhaupt noch, wozu braucht es mich speziell?

Für einen Film, dessen Kernaussagen sich kompakt als "Sei was du sein möchtest, solange du damit niemandem willentlich schadest :)" und "Feminismus ist gut und wichtig, wie kann man das denn bitte nicht finden, schau doch nur, wie ungerecht die Welt ist, in der wir leben!" zusammenfassen lassen, sind dies gewichtige, komplexe Fragen ohne allgemeingültige, simple Antworten. Fragen, die so offen gestellt werden, und so eng mit der gesamten Struktur des Films verbunden sind, dass sie konsequent an Nachdruck gewinnen. 

Gerwig holt dieses unförmige, engagierende Gedankenfutter aus der verstaubten Leseecke eines Studienzimmers heraus, und spielt mit diesen Überlegungen und Gefühlen stattdessen in einer farbenfrohen Traumwelt. Liebevoll, detailreich und mit tonnenweise Witz kreieren Gerwig und ihr Team Barbie-Spielsets in Menschengröße, kleiden den Cast in schillernden Outfits und bringen die Rädchen im Oberstübchen zum Rattern, während süffisante Doppeldeutigkeiten, teils liebevoll-selbstironische und teils bitter-beißende Seitenhiebe auf das kulturelle Erbe des Mattel-Konsumimperiums verteilt werden, und mehrere Jahrzehnte filmischer Schöpfungsgeschichte die Barbie-Behandlung abbekommen.

Und dann ist da natürlich noch Goslings Ken, in dem dieselbe Unzufriedenheit aufkommt wie in Robbies Barbie. Nur kanalisiert er sie anders, buhlt zähneknirschend um die alleinige Aufmerksamkeit von Robbies Barbie, entwickelt Geltungssucht, anstelle der plötzlichen Introspektive unserer Barbie-Protagonistin, und wird auf urkomische Weise großkotzig. Man könnte ihn glatt als Schurken verstehen, würde Ryan Gosling Kens Fehltritte nicht so überdeutlich als Folgen absoluter Dummheit spielen. Als sich schädlich äußernde Naivität gegenüber negativen Einflüssen. Und als absolutes Unvermögen, mit denselben Gefühlen umzugehen, die Robbies Barbie hat: Er will doch einfach nur einen Sinn für sein Dasein verspüren - bekommt aber (noch) weniger hilfreichen Rat als unsere Protagonistin. Er ist kein Frauenhasser, er braucht nur Orientierung, die ihm niemand anbietet. Würden Kerle, die ihren Mist überzeugter durchziehen als Ken, doch nur aufhören, so erfolgreich den Feminismus zu bekämpfen; Ken wäre genau geholfen wie Barbie.

Das gilt doppelt und dreifach, sobald Barbie und Ken ihre Sinnsuche in der realen Welt fortsetzen, und vor Augen geführt bekommen, wie sehr sich die rosa Fantasieblase namens Barbieland und die diesseitige Gegenwart unterscheiden. Während Barbie eine sie verachtende Teenagerin namens Sasha (Ariana Greenblatt) und ihre verworrenere Gedanken über die Puppe hegende Mutter Gloria (America Ferrera) kennenlernt, und von ihnen inspiriert ihre eigene Bedeutung reflektiert und dadurch neue Hoffnungen für ihr Selbstbild entwickelt, sieht Ken eine Welt, in der Männer kein Accessoire sind, keine Unterstützer. Sondern die selbstsüchtigen Herrscher. Armer Ken, lieber Ken, du bist nicht darauf vorbereitet, mit diesem Einfluss kritisch umzugehen...

Ob es Barbieland ist, unsere Welt, oder das sonderbare Bindeglied zwischen ihnen, die von einer fast endlosen Reihe an Männern in Anzügen geleitete Spielzeugfirma Mattel: Gerwig setzt ihre Schauplätze mit findigem Auge in Szene und nutzt sie gewieft, um ihren Hauptfiguren neue, komische Hindernisse in den Weg hin zur Entdeckung ihres wahren Glücks zu stellen. Daher ist Barbie ein Feuerwerk der Komik, das sich aber niemals gegen dunklere Gefühle wehrt: Allein schon, in einer Szene eine kriselnde Barbie zu sehen, die aber noch immer nicht internalisiert hat, dass sie ihre Angst und Ratlosigkeit mit vollem Körpereinsatz ausdrücken darf, erzeugt geradezu Gänsehaut! Robbies Augen sind verheult, erschöpft und errötet, aber ihr Mund bemüht sich weiter um ein Grinse-Lächeln, ihre Körperhaltung bleibt steif und gerade, als befände sie sich auf dem Laufsteg. 

Generell bekommt Robbie für jeden feist-lustigen Gag, den Gosling mit voller Überzeugung verkauft, ein gefühlvolles Pendant, einen feingliedrigen Moment der Introspektive oder der befreienden Aussprache dessen, was in ihrer Barbie vorgeht. Denn zu Filmbeginn ist Robbies Barbie keinesfalls dumm - aber sie ist hohl. Frei von Selbstreflexion, unangetastet von Fremdreflexion. Zuzusehen, wie sie im Laufe des Films mit Erkenntnis, innerem Antrieb und Zweck erfüllt wird, ist ganz großes Schauspielkino. Sowie raffiniertes Storytelling, da Gerwig diesen potentiell mühselig-didaktischen Prozess so wirken lässt, als würde sie all das locker aus dem Ärmel schütteln, während sie ein Camp-Fest auf die Bühne bringt.

Und so sind es die exakt ins Schwarze treffenden, entlarvenden Witze über klischeehafte Männerfloskeln, die kopfschüttelnden Seitenhiebe auf Barbies fehlgeleitetes kulturelles Erbe, der spritzige Dialogwitz rund um die vielen Kens und Barbies (aber vor allem Goslings Ken) und die mit Verve und Quirligkeit umgesetzten Musikeinlagen, die uns vor wunderhübsch in Szene gesetzter Kulisse ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Oder wenigstens uns allen, die den Film so genießen wie ich. Doch nach einer famos vertanzten Eskalation bleibt nicht etwa das "Ich hatte wohl zu viel Zuckerwatte"-Bauchweh zurück. Denn Barbie trifft direkte, einfache, noch immer brennend-nötige Aussagen über Selbstwert und Genderrollen. Und erzählt komplexere, filigranere Argumentationen über die Flexibilität von Ideen, die zugleich eine berührende, zarte Geschichte über die Suche nach sich selbst und die Akzeptanz durch andere darstellen.

All das ineinandergreifen zu lassen, ist eine beeindruckende Kunst, die über Altersgrenzen und Erkenntnishorizonte hinweg Reiz ausübt. Die Einen müssen lernen, dass sie nicht wie die stereotypische Barbie aussehen müssen, den Anderen müssen die Augen geöffnet werden, dass es eben nicht normal ist, dass ihre Bedürfnisse ignoriert werden. Die Nächsten wissen das alles schon, doch es kann nicht schaden, ihnen vor Augen zu führen, wie schnell sich "MÄNNERRECHTE!"-Forderungen in Köpfe pflanzen lassen. Und die Übernächsten brauchen einfach die wärmende Umarmung eines Films, der ihnen sagt: "Ja, ich weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören und am Rande eines Nervenzusammenbruch zu stehen. Keine Sorge. Wir schaffen es da wieder raus. Ich bin bei dir."

So, wie ich meine geliebten Dinos in verschiedenen Stadien meines Lebens begeistert aufnahm und begeistert aufnehmen werde, kann ich es nicht abwarten, von begeisterten Barbie-Fans zu hören, die erkennen, dass dieser Film immer gleich bleibt. Und trotzdem mit ihnen mitwächst. 

Barbie ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Sonntag, 9. Juli 2023

Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1)

Vier Filme lang war die Mission: Impossible-Reihe ein Vehikel für Regisseure mit einer etablierten (und teils überaus deutlichen) Handschrift, um sich stilistisch und tonal auszutoben, während Tom Cruise als verbissen kämpfender IMF-Agent die Welt rettet. Mit Mission: Impossible - Rogue Nation übernahm bei Teil fünf jemand das Steuer, der zwar kein Regie-Neuling war, aber selbst für große Teile des medienaffinen Publikums ein unbeschriebenes Blatt darstellte: Christopher McQuarrie erarbeitete sich zwar als Drehbuchautor einen achtbaren Rang, seine vorherigen Regiearbeiten The Way of the Gun und Jack Reacher ließen aber noch keine klare Handschrift vermuten.

Da hatten seine direkten Mission: Impossible-Vorgänger schon mehr etabliertes Profil, und dabei inszenierte J. J. Abrams vor Mission: Impossible III nur für's Fernsehen, während Brad Bird mit Teil vier seinen Sprung ins Realfilmfach wagte. Aber was nützt das lange Hinauszögern? McQuarrie erwies sich als hervorragende Wahl und lieferte mit Mission: Impossible - Rogue Nation einen packenden, temporeichen Agenten-Actioner ab, dem ein denkwürdiger Spagat gelang:

Der Film fühlt sich elegant und im besten Sinne altmodisch an (die Opernsequenz könnte auch von Hitchcock sein, Neuzugang Rebecca Ferguson versprüht als Ilsa Faust eine Aura von Katherine Hepburn und Ingrid Bergman, hätte man sie in einen modernen Big-Budget-Film gesteckt), zugleich ist er frisch und fesch. Analoge Spritzigkeit, könnte man das nennen. Zügig wurde beschlossen, dass er der Filmreihe treu bleibt, und mit Mission: Impossible - Fallout schuf er ein zweites filmisches Oxymoron: Teil sechs der Action-Saga ist eine Fortführung des vorhergegangenen Parts und trotzdem ein Biest für sich. Alte Konflikte werden fortgeführt, und dennoch steht der Film auf eigenen Beinen.

Auch McQuarrie erfand sich neu: Fallout sieht anders aus, klingt anders, läuft anders ab. Dunkler, getriebener, rauer, noch schneller. Pandemiebedingt dauerte es daraufhin fünf Jahre, damit sich McQuarries nunmehr dritter Mission: Impossible-Film auf die große Leinwand kämpfen konnte. Schon wieder krempelte er die Bild- und Klangästhetik sowie die Tonalität um. Dass er dies beabsichtigt und fähig ist, dies umzusetzen - damit hatte ich bereits gerechnet. Und trotzdem wurde ich bereits wenige Augenblicke nach Beginn von Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) (was für ein Titel) überrascht.

Mein Fauxpas: Einstieg mit falscher Erwartungshaltung

Ich muss zu meiner Schande gestehen: Ich war sogar so sehr überrascht, dass ich ein paar Minuten benötigte, um meine sprichwörtlichen Antennen auf die Wellenlänge des Films auszurichten. Denn McQuarrie zieht nicht weiter das Tempo an!

Ja, Dead Reckoning ist erneut ein Popcorn-Blockbuster par excellence mit waghalsigen Stunts, ausschweifenden Verfolgungsjagden sowie Kampfeinlagen, und wesentlich mehr Unterhaltungsfaktor als Sinnsuche. Obwohl dies die erste Mission: Impossible-Fortsetzung ist, in der Paranoia eine relevante Rolle spielt (inhaltlich sowie bezüglich dessen, was der Film beim Publikum auslösen möchte), bleibt sie mit beiden Beinen im Agenten-Action-Metier. Statt sich also zu Brian De Palmas Auftakt der Filmreihe zu gesellen, der es sich abseits seiner gelegentlichen Action-Ausbrüche wesentlich bequemer im Gebiet der Spionage-Suspense gemacht hat.

Darum muss ich zugeben, dass ich aufgrund meiner falschen Erwartungshaltung (und eines Überschusses an Adrenalin - vor der Pressevorführung hatte ich mir nämlich erneut mit einer Schüssel selbstgemachtem Popcorn Teil sechs angeschaut) während des Prologs etwas unruhig und ungeduldig geworden bin. Mehr als ihr wohl gerade, die diese Kritik aufgerufen habt und euch bestimmt schon vor ein paar Absätzen gewundert habt, wann ich endlich mit meiner Meinung rausrücke, ob Teil sieben denn nun was taugt. Aber was soll ich sagen:

Nach ein paar selbstironischen, trotzdem die Dramatik des Plots unterstreichenden Dialogzeilen und einem brachialen Vorspann (visuell wie akustisch) hatte ich die Frequenz des Films endlich drin. Zumal uns der Vorspann in seiner Klangdramaturgie keck an der Nase entlangführt. Für sowas bin ich zu haben, und dann konnte Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) auch für mich endlich so wirklich losgehen!

Kein reines Katz-und-Maus-Spiel um den MacGuffin

Um die Story im ganz, ganz Groben zu umreißen: Eine neue, mächtige Waffe treibt den Geheimdiensten dieser Welt den Schweiß auf die Stirn. Doch obwohl praktisch alle Entscheidungsträger Angst vor den Implikationen dieser Bedrohung haben, wollen sie sie an sich reißen. Als Ethan Hunt (Tom Cruise) davon Wind bekommt, beschließt er dagegen, sie zu zerstören. Dazu benötigt er allerdings zwei Hälften eines Sicherheitsschlüssels.

Um an sie zu gelangen, benötigt der nimmermüde Kämpfer fürs Gute die Hilfe seiner technologieerfahrenen Freunde Benji Dunn (Simon Pegg) und Luther Stickell (Ving Rhames), und muss sich dem unberechenbaren Terroristen Gabriel (Esai Morales) stellen. Außerdem kreuzen sich Ethans Wege mit den Bahnen der gerissenen Diebin Grace (Hayley Atwell), der brachialen Kämpferin Paris (Pom Klementieff) und der Weißen Witwe (Vanessa Kirby), einer verruchten Untergrund-Händlerin, mit der es Ethan schon einmal zu tun bekam. Und auch Ethans geschätzte Kumpanin / Gelegenheitsgegnerin Ilsa Faust (Rebecca Ferguson) ist im Kampf um die Schlüssel involviert...

Nach dem temporeichen Rogue Nation und dem nahezu atemlosen Hochdruck-Spektakel Fallout lässt McQuarrie in Dead Reckoning die Zügel wieder etwas lockerer. Auch, um Raum für die zentrale Bedrohung zu schaffen, die er und Co-Autor Erik Jendresen (Band of Brothers) nicht in ein Katz-und-Maus-Spiel verwickeln, wie es in den vergangenen zwei Mission: Impossible-Filmen zu bestaunen gab. Dieses Mal wird die Gefahr erläutert, sie wird vorgeführt und es gibt thematisch angetriebene sowie figurengesteuerte Sequenzen, in denen ihre Implikationen beleuchtet werden.

In den besten Momenten hat das einen Gänsehauteffekt, da in diesem Film ein einst wie Sci-Fi klingendes Plotelement sehr greifbar gemacht und tagesaktuell skizziert wird. Teils reichen ein paar messerscharfe, präzise Dialoge, um eine Beklemmung zu erzeugen, wie die Mission: Impossible-Reihe sie bei mir nie zuvor hervorgerufen hat. In den schlechtesten Passagen hat mich das Skript allerdings aus dem Film herausgerissen - und das selbst, nachdem ich überzeugt war, meine Erwartungshaltung arretiert zu haben:

Sämtliche Zurückhaltung, die McQuarrie als alleiniger Fallout-Autor bewiesen hat, wenn es um das Verbalisieren von Motiven, Bedrohungen und Verstrickungen ging, hat sich in Dead Reckoning verflüchtigt. Mehrmals fächeln McQuarrie und Jendresen die zügig offensichtlich gemachten Bedrohungen an, indem Figuren das Gesehene erklären und ausführlich darüber mutmaßen, was noch folgen könnte. An mehreren Stellen wird zusammengefasst, wer bereits was weiß, wo sich was befindet, und wer welche Absicht hat oder noch wohin muss. All diese Wiederholungen und verbalen Ausarbeitungen dessen, was durch Action oder Suspense-Momente bereits spürbar gemacht wurde, hatten bei mir den gegenteiligen Effekt - ich fieberte (kurzfristig) weniger mit. 

Mission: Spaßbombe

Diesen Kritikpunkten zum Trotz macht Dead Reckoning extrem viel Spaß: Nach den Teilen fünf und sechs schiebt McQuarrie den Comedy-Faktor wieder nach oben, und erzählt diese Mission trotz aller thematischen und figurenbezogener Fallhöhe wieder in die humorige Schiene von Brad Birds Part. So klopft Benji vermehrt lockere Sprüche, mehrmals argumentieren sich moralisch graue Figuren zu komischem Effekt in eine Ecke, und selbst Ethan agiert gelegentlich ironischer, leichtfüßiger - etwa, wenn er auf erfrischend alberne Weise Anwaltsgehabe nachahmt.

Auch die Setpieces haben zwar nicht durchgehend, sehr wohl aber häufig einen kecken, launigen Ansatz. Etwa, wenn beim Einsatz direkt nach dem Vorspann Ethan eine Mission erledigt, Luther und Benji parallel dazu einen weiteren sprichwörtlichen Brandherd entdecken und mehr schlecht als recht versuchen, dies vor Ethan geheim zu halten - sie wollen ihn ja nicht stören.

Das komödiantische Highlight ist aber eine ausgedehnte Verfolgungsjagd quer durch Rom, bei der sich unentwegt Ethan und Grace kabbeln, und darum ringen, wer denn nun wie den Ton angibt. Auch die Action ist gewitzt orchestriert: Im gelben Fiat 500, einem wendigen, kleinen Flitzer, der Lupin III-Fans das Herz höher schlagen lässt, saust das Duo durch die Straßen, nimmt enge Kurven, brettert über Treppen hinweg. So braust es vor Paris davon, die mit klobigen Stiefeln in einem gigantischen Truck schwere Hebel betätigt und einfach alles wegwummst, was ihr im Weg steht.

Diese Sequenz ist mit einer Energie und Gewitztheit umgesetzt, dass in mir mehrmals der Wunsch aufkam, dass McQuarrie irgendwann einmal einen Herbie-Film dreht. Diese peppige, lockere Attitüde wird durch Neuzugang Grace weiter verstärkt: Atwell hat ansteckende Freude an dieser Rolle und mischt die Mission: Impossible-Formel ordentlich durch, da sie als findige, wuselige Gaunerin zwar kompetent ist, jedoch auch in Konflikte weit, weit außerhalb ihrer Kragenweite gezerrt wird. Erbittert kämpfen, um ihr Leben fahren, weltumspannende Gefahren korrekt einschätzen? All das liegt nicht in Graces Kompetenzbereich, und Atwell spielt diesen "Bemüht, aber überfordert"-Aspekt sympathisch, die Spannung steigernd frustrierend, und gewitzt zugleich. Es ist, als hätte man Oliver Twist volljährig und weiblich gemacht, und daraufhin in einen Pierce-Brosnan-Bond-Film gepackt

Auch die manisch-boshafte Paris kommt mit einem gewissen Spaßfaktor daher: McQuarrie setzt diese Schurkin so in Szene, dass wir erfreut ob ihres markanten Auftreten grinsen dürfen, ohne dass sie dadurch an Gefährlichkeit einbüßt. Selbiges gilt für Vanessa Kirby, die die undurchsichtige Weiße Witwe nun eine Spur selbstgefälliger in ihrer Verruchtheit spielt. Als wäre es das größte Vergnügen im Leben dieser Waffenhändlerin und Untergrund-Dienstleistungs-Vermittlerin, ihr Umfeld stets wissen zu lassen, wie sehr sie ihr Job anmacht.

Die reine Abscheu bleibt Esai Morales vorbehalten, der zwar nicht der denkwürdigste, profilstärkste Schurke der Reihe ist, wohl aber der kompetenteste und daher im denkbar besten Sinne an den Nerven sägt. Apropos Kompetenz: Natürlich drückt auch Rebecca Ferguson einmal mehr allen Szenen, die sie als Ilsa Faust hat, kräftig ihren Stempel auf. Als fähige, im Vergleich zu Ethans Team eher wortkarge, nachdenkliche Agentin bleibt Ilsa Faust ein Highlight im Mission: Impossible-Figurenportfolio.

Ein waschechtes Highlight ist auch der Schlussakt, der so smart konstruiert ist, dass ich mein Granteln ob der vielen Expositionsdialoge ein Stück weit vergessen habe: Im letzten Viertel finden die diversen Handlungsfäden stimmig zusammen und McQuarrie konstruiert gemeinsam mit Jendresen eine Mixtur aus figurenzentrischer Dramatik, von der Thematik des Films angetriebener Suspense und reinem Spektakel. Es ist nicht ganz auf der Höhe des Lone Ranger-Finales, trotzdem spielt dieser konstant an Fahrt aufnehmende Schluss in derselben Liga.

In wen hat sich McQuarrie dieses Mal verwandelt?

Mit einer aufgehellten, klareren Bild- und Klangästhetik gegenüber Fallout (Fraser Taggart übernimmt die Kamera von Rob Hardy, Lorne Balfe bleibt als Komponist an Bord), ließ mich Dead Reckoning mit folgendem Eindruck zurück: Rogue Nation war "Was, wenn leichtgängiger Hitchcock, aber als heutiges Action-Spekrakel?", Fallout wurde wegen der rauen Getriebenheit oftmals als "nolanesk" bezeichnet.

Dieser Film hingegen wirkte auf mich, als sei der Geist von David Lean in Martin Campbell gefahren, der nach einem John-McTiernan-Marathon und dem begierigen Aufsaugen mehrerer Lupin III-Animes (den "bodenständigen" wie auch den völlig durchgeknallten) beschließt, einen neuen Brosnan-Bond-Teil zu drehen. Bloß, dass Bond dieses Mal mehr Freunde hat als zumeist üblich, und sich in Frauen eher platonisch verliebt, statt stets daran zu denken, weitere Kerben in seine Bettpfosten zu ritzen.

Zur Erklärung: Dead Reckoning operiert mit Popcornkino-Suspense, die aufgrund der unverblümten Drastik, mit der McQuarrie, Jendresen und Produzent Cruise mancherlei Entwicklung einschätzen, immer wieder Mal in richtige Beklemmung übergeht. Es gibt epochale, sich in der Stimmung der Schauplätze suhlende Szenen, die zugleich das Innenleben der Figuren nach außen kehren (ein verwirrter, mit seinem Auftrag ringender Ethan im desorientierenden Sandsturm; Ethan und sein ihm am Herzen liegendes Team atmen bei einer Kanalfahrt noch einmal durch, unsicher, was sie erwarten wird).

Doch diese atmosphärischen "Ausbrüche" werden zusammengehalten durch eine pfiffig-wuchtige Reihe an Action-Eskapaden mit punktgenauen Sprüchen, quirligem Action-Slapstick und aufwändigen Stunts, die mit einer erstaunlichen Beiläufigkeit in die Storyabläufe gewoben werden.

Das ist großes Kino, das bitte auch wirklich auf großer Leinwand im Kino verfolgt wird, wenn ihr die Möglichkeit dazu habt. Es ist Spannung, Kurzweil und Weltflucht, die mehrere scharfe Kurven zurück gen Weltangst nimmt. Es hat mich beim ersten Anschauen nicht ganz so geflasht, wie mich derzeit Fallout begeistert, der mir von Mal zu Mal enger ans Filmfanherzen wuchs. Doch es hat mich ungeduldig auf meinen zweiten Dead Reckoning-Besuch zurückgelassen. Und gespannt darauf, ob McQuarrie beim nächsten Film erneut Stil und Tonfall wechselt, oder Dead Reckoning (Teil 2) nahtlos da weitermacht, wo uns dieser Film verlässt.

Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) ist ab dem 13. Juli 2023 in vielen Kinos zu sehen, doch schon jetzt machen im deutschsprachigen Raum einige Kinos Previews. Und am 20. Juli nimmt sich Filmgedacht den Themen des Films an. Bis dahin hattet ihr genug Zeit, ihn zu schauen, und wir können daher munter spoilernd konkret auf brennende Fragen eingehen!