Mittwoch, 26. Juli 2023

Geistervilla

Was wir hatten

Die Fangemeinde der Disney-Themenparks ist so bunt durcheinander gewürfelt, dass es wohl keine steile These ist, dass jede Disney-Attraktion für irgendwen die Lieblingsattraktion darstellt. Zugleich ist es ebenso risikofrei, zu behaupten, dass sich zwei Attraktionen einen besonderen Platz in den Herzen der Disney-Fans erkämpft haben: Pirates of the Caribbean und Haunted Mansion gelten ungebrochen als Paradebeispiele dafür, wie Themenparkfahrten ein immersives, atmosphärisches Erlebnis mit Witz, Persönlichkeit und fragmentiertem, in sich schlüssigem Storytelling bieten können. Und all das, ohne sich als Adaption bestehender Filme zu präsentieren.

Es war bloß eine Frage der Zeit, bis die Disney-Studios zu ihrem Themenpark-Geschwisterchen rüber blicken und an diesen ikonischen Attraktionen bedienen. 2003 erfolgte der Doppelschlag: Gore Verbinski brachte mittels Rückendeckung durch Produzent Jerry Bruckheimer die abenteuerlichen Piraten auf die große Leinwand und machte Fluch der Karibik zu einem Sensationserfolg, der ein eigenes Kino-Franchise begründete und den Disney-Konzern nachhaltig veränderte.

Der König der Löwen-Co-Regisseur Rob Minkoff unterdessen verwirklichte mit Disney-Trickfilm-Produzent Don Hahn sowie Freaky Friday-Produzent Andrew Gunn im Rücken die hierzulande Die Geistervilla betitelte Haunted Mansion-Adaption. Die hinterließ kaum Eindruck in der Popkultur, nicht einmal in der Disney-Fangemeinde. Und wenn sich wer an sie erinnert, so wird sie vornehmlich als verschenkte Chance geschunden, einer legendären Bahn gerecht zu werden.

Vor allem der piefige, überzogene Humor rund um Eddie Murphy und seine Film-Familie wird kritisiert, während das Produktionsdesign und die praktischen Effekte durchaus hier und da Lob erhalten. (Der Fairness halber: In den USA entwickelte sich der Film nicht zuletzt dank regelmäßiger TV-Wiederholung zu einem kleinen Nostalgie-Favoriten innerhalb der Jahrgänge, die 2003 noch zur jungen Kernzielgruppe gehörten. Dass er eines Tages zu einem Kult wie Hocus Pocus heranwächst, wage ich noch zu bezweifeln, und einen Meinungswandel innerhalb der Themenpark-Fangemeinde habe ich auch nicht beobachtet.)

Schon früh stand fest: Darauf kann man es nicht beruhen lassen. Die Geistervilla muss einen erneuten Anlauf erhalten!

Was uns verwehrt blieb

Der womöglich weltgrößte Haunted Mansion-Fan ist zufälligerweise auch einer der prestigeträchtigsten Regisseure unserer Zeit: Guillermo del Toro, seines Zeichens Disney-Fan und Liebhaber des Grotesken, hat ganze Räume seines Hauses seiner Haunted Mansion-Passion gewidmet. Kein Wunder, dass er sich ins Gespräch für eine erneute Adaption gebracht hat. Jahrelang trat das Projekt auf der Stelle, bis ein berühmter Schauspieler für die Hauptrolle anvisiert wurde. Noch dazu einer, der bekennender, glühender Disney-Park-Fan ist, seine Karriere im Mickey Mouse Club begann und die Haunted Mansion liebt (aber das Nightmare before Christmas-Overlay hasst): Ryan Gosling!

Dieser Film ist aus nicht genauer bekannten Gründen geplatzt. Setzt hier einfach "kreative Differenzen" ein, rollt die Augen, wie feige Disney wohl war, und seid euch gewiss, dass del Toro stattdessen Referenzen auf die Haunted Mansion in einigen seiner Filme versteckte. Insbesondere Crimson Peak ist ein einziger "Ich mache dann halt meine total disneyunkompatible Version"-Traum von der Haunted Mansion.

Was wir stattdessen bekommen haben

Die alleinerziehende Mutter Gabbie (Rosario Dawson) zieht mit ihrem Sohn Travis (Chase W. Dillon) in ein großes, staubiges Anwesen in New Orleans. Kaum haben sie das Haus betreten, erleben sie sonderbare Dinge und fliehen. Doch sie konnten das Unheil nicht abschütteln: Ein Geist hat sich ihnen angeschlossen und nervt sie, egal wo sie sind. Also kehren sie in die verfluchte Villa zurück und versuchen, den Ereignissen auf den Grund zu gehen. Dazu heuern sie den ehemaligen Physiker Ben (LaKeith Stanfield) an, der sich nun als Tourguide verdingt. Auch der exzentrische Priester Kent (Owen Wilson), das Medium Harriet (Tiffany Haddish) und der ans Übernatürliche glaubende Geschichtsprofessor Bruce (Danny DeVito) schließen sich der Truppe an...

Ob Regisseur Justin Simien genauso von der Haunted Mansion besessen ist wie del Toro, darf bezweifelt werden. Aber auch er hat eine Passion für die Attraktion und war vor seiner Karriere als Filmemacher sogar Cast Member im kalifornischen Disneyland sowie zeitweise Teil eines Walt-Disney-World-Chors. Seine Disney-Vergangenheit macht sich in Geistervilla (ja, Disney macht den umgekehrten DC-Move, wo auf Suicide Squad ja The Suicide Squad folgte) auch zweifelsohne bemerkbar:

Geistervilla ist rappelvoll mit narrativen, akustischen und visuellen Rückgriffen auf die legendäre Bahn. Von der einprägsamen Tapete über Kerzenhalter und kunstvoll verzierte Absperrungen bis hin zu Dreh- und Angelpunkten der Attraktion wie dem "Stretching Room" oder Madame Leota (hier gespielt von Jamie Lee Curtis): Wer die Vorlage zum Film kennt, wird immer wieder Dinge erkennen. Selbstredend adaptiert Komponist Kris Bowers (Bridgerton) den aus der Attraktion bekannten Ohrwurm Grim Grinning Ghosts und mit narrativen Elementen wie "Es befinden sich 999 Geister im Haus" oder dem "Dir folgt ein Geist nach Hause"-Aspekt wird die potentiell generische Geisterhaus-Geschichte an die Disney-Vorlage angepasst.

Auch beiläufige inhaltliche Referenzen, wie die Anmerkung, dass es viele sich widersprechende Hintergrundgeschichten gibt, runden den Fanservice-Charakter des Films ab. Dabei reißen diese Querverweise nicht per se aus der eigentlichen Geschichte heraus: Wenn etwas kurioses geschieht, inszeniert Simien es so, dass Disney-Fans sich im "Aha, das kenne ich doch!"-Genuss suhlen können, während für Ahnungslose halt einfach das titelgebende Geistergeschehen geliefert wird. Trotzdem scheitern die Verantwortlichen dabei, ein wirklich makelloses Gleichgewicht aus Fanservice und "Es darf nicht ablenken" zu erzielen:

Hier und da verweilt die Kamera dann doch zu lang auf einem Easter Egg oder lassen Simien und Filmeditor Phillip J. Bartell (Eating Out 2: Sloppy Seconds) nach einem verbalen Querverweis eine zu lange "Hier wird nun in Anaheim, Orlando oder Tokio sicher heftig applaudiert"-Dialogpause. Das stört den erzählerischen Fluss, könnte manchen Teilen des Publikums ein zu klares "Ich denke, ich habe da was nicht verstanden"-Gefühl geben und ist in einer 123 Minuten langen Familien-Geisterkomödie einfach nicht nötig.

Was mich derweil positiv überrascht hat: Simien, der zuvor auch Dear White People und Bad Hair gemacht hat, bekommt in Geistervilla den Raum, seine authentische Perspektive auf die Erfahrungen von BPoC zu präsentieren. Geistervilla ist zwar trotzdem mit Abstand sein am wenigsten über die Lebenswirklichkeit schwarzer Menschen in den USA erzählender Film. Aber während die Eddie-Murphy-Variante genauso von einer weißen Familie hätte handeln können, lebt und atmet dieser Film wenigstens eine Spur der Black Community in New Orleans. Und im Falle von Stanfields Figur unterstreicht tatsächlich das Hairstyling seiner Figur ein Stück weit die Charakterzeichnung.

Drehbuchautorin Katie Dippold derweil ließ mich schon bei Ghostbusters: Answer the Call mehrmals an Haunted Mansion denken, und ihr Gespür für familientaugliche Kalauer mit optionalem, makabrem Touch lebt sie auch dieses Mal aus. Vor allem Haddishs Harriet, die stets Fehlurteile darüber fällt, wie deutlich sie sich in Anwesenheit von Kindern über garstige Dinge äußern darf, liefert dahingehend ab. Wilson und DeVito wiederum agieren ungefähr genau so, wie man es in solch einem Film von ihnen erwarten würde - und das kommt in Dippolds erzählerischem Kontext und unter Simiens Inszenierung solide-kurzweilig rüber.

Als Einsteiger-Gruselkomödie, geschweige denn "normale" Gruselkomödie funktioniert Geistervilla derweil überhaupt nicht. Das ist, abhängig von der persönlichen Meinung diesbezüglich, wie gruselig denn die als Inspiration dienende Bahn denn nun ist, entweder vollkommen egal oder ein Problem. Ich zumindest sehe die Haunted Mansion als wundervoll-amüsante Annäherung ans Geisterthema an und nehme daher keinen Anstoß an einer Verfilmung ohne Gruselfaktor - was natürlich nicht heißt, dass ich del Toros schaurigere Variante abgelehnt hätte. (Und wenn jemals die Phantom Manor aus dem Disneyland Paris adaptiert wird, werde ich sowieso andere Maßstäbe ansetzen!)

Statt einen schaurigen Spaß zu kreieren, schufen Dippold und Simien daher einen rar gewordenen Rücksturz zu den Disney-Realfilmkomödien der 1950er bis 1970er: Wir sehen einer verschrobenen Figurengruppe dabei zu, wie sie durch eine Abfolge von kuriosen Ereignissen ihren Charakter formt - mit vielen Schmunzlern, etwas Slapstick und einem andersweltlichen Gimmick. Ich fühlte mich ganz konkret in Filme wie Der unheimliche Zotti, Charley und der Engel oder Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme versetzt, was ich charmant fand, euch allen da draußen aber auch klar mitteilen sollte, dass Geistervilla im Jahr 2023 eine extrem spitze Zielgruppe hat.

Zumal Simien das Geplänkel seiner Charakterköpfe immer wieder für Phasen pausiert, in denen Stanfields Ben an den frühen Tod seiner großen Liebe erinnert wird und ihn endlich zu verarbeiten versucht. Stanfield gelingt es hervorragend, diese Wechsel hin von Disney-Retrokomödie hin zu familientauglicher Trauerverarbeitungs-Dramödie darstellerisch zu tragen, und seine Figur durchweg stimmig zu halten, ganz gleich, wie zerrissen der Film ist.

Aber Simien und Dippold straucheln gelegentlich dabei, diese zwei Ansätze zu vereinen. Für jede beseelte Szene, in der etwa ein berührendes Gespräch zwischen Ben und Travis durch einen aus dem Leben gegriffenen "Kinder im Grundschulalter rennen mitten in einem profunden Gespräch davon und wollen jetzt einfach spielen"-Gag unterbrochen wird, woraufhin eine albern-herzliche Montage folgt, oder Ben seine verstorbene Partnerin liebevoll anhand von Dingen beschreibt, die ihn einst nervten, gibt es eine bemühte Passage, in denen man im Kinosaal förmlich spürt, wie Simien und Dippold gerade so die Nähte ihres Flickenteppichs zusammenhalten.

Wäre Geistervilla optisch etwas wertiger und zudem flüssiger erzählt, ließe sich das leichter verzeihen. Aber da der Film ein paar Längen hat, und das gute Produktionsdesign mit einem etwas matschigen Color Grading und einem Übermaß an unbeseelten Effekten konkurriert (insbesondere im Finale), fehlt einfach dieser gewisse Funken an kunsthandwerklicher Passion, der über so etwas hinwegtäuschen könnte.

Dafür ist es erstaunlich, wie sehr Geistervilla im Dialog-Duktus an Magic in the Moonlight erinnert. Da Simien den Regisseur hinter besagter Schmunzelattacken-Séancendramödie zu seinen künstlerischen Einflüssen zählt, lag es womöglich auf der Hand, dass Simien den Cast seiner geisterhaften Komödie in einem ähnlichen Takt und einer vergleichbaren Sprechfarbe agieren lässt. Nicht, dass er direkt bei dem Film abgeguckt hätte, aber es ist offensichtlich, dass er sich einem ähnlichen Thema auf vergleichbare Weise nähert...

Dessen ungeachtet, seid mal ehrlich: Wer hatte auf seiner 2023-Bingokarte "Ein und derselbe Film wird sich bei Woody Allen und Disney-Realfilmkomödien der 1950er bis 1970er bedienen, und zudem sein Storytelling non-verbal durch die authentische Darstellung von BPoC-Frisuren stützen"?

Ein Fazit, das den Stretching Room nimmt: Wenn ein Film, über den riesig groß "Disney hat sich nichts getraut und daher del Toro ein Projekt weggenommen, um es stattdessen einem deutlich kleineren Namen zu geben"-Signale schweben, es trotzdem vermeidet, wie ein von Studiokomitees am Reißbrett entwickelter Film zu wirken, ist das erst einmal begrüßenswert. Dass Simien und Dippold eine eklektische Ansammlung an Einsätzen und Einflüssen zusammengeworfen haben, sorgt für tonale Farbe in einer Disney-Realfilmära, in der so etwas selten geworden ist.

Aber der Verzicht auf große Lacher und packende Geister-Setpieces sorgt im Zusammenspiel mit der eher ernüchternden Bildsprache des Films und zu viel narrativem Leerlauf für leichte Ernüchterung: Geistervilla ist auf dem Weg dorthin, denkwürdig und markant zu sein. Doch dem Film geht die dafür nötige Puste aus. Stattdessen ist es ein Film geworden, der für eine sehr spitze Zielgruppe charmante Unterhaltung bietet. Es ist ein Film für Leute mit meinem verschrobenen Geschmack, die sich an dem einen oder anderen Sonntagnachmittag aufs Sofa legen, in eine Decke murmeln und von dezent modernisiertem Disney-Retroflair umarmt fühlen wollen.

Ich kann Geistervilla nicht voller Überzeugung verreißen, aber auch nur sehr, sehr wenigen Menschen guten Gewissens empfehlen. Für Normalos ist es ein "Egal"-Film mit einem gefälligen Cast, ein paar Durststrecken und einigen Momenten, wo Humor oder Gefühligkeit genau ins Ziel treffen. Für mich ist er ein "Ich mag ihn mehr, als ich ihn respektiere"-Titel. Ich vergebe hier im Blog eigentlich keine Sterne-Bewertungen, aber um dieser langen Rede endlich einen kurzen Sinn zu verleihen: Das hier wäre so ein "2,5 von 5 Sternen - mit einem Herz"-Ding. Hurry back! 

Geistervilla ist ab dem 27. Juli 2023 in einigen deutschen Kinos zu sehen.

Donnerstag, 20. Juli 2023

Oppenheimer


Ich weiß nicht, was in den Köpfen jener vorgeht, die deutsche Lehrpläne entwerfen. Aber im gesamten Verlauf meiner Schullaufbahn war das atomare Wettrüsten kein einziges Mal Thema. In den naturwissenschaftlichen Fächern wurde mal kurz erklärt, wie Atomenergie funktioniert, doch die gesamte polithistorische Dimension, weshalb man darin geforscht hat, die Atombombe erfand und einsetzte? Kein Thema. Sämtliches Wissen über die jahrzehntelang die Welt im Atem haltende Atomangst und die Anlässe, die Welt überhaupt erst an diesen Abgrund zu führen? All das musste ich von älteren Verwandten erfahren sowie aus öffentlich-rechtlichen Dokumentationen und der Popkultur ziehen.

Das genügte für ein Verständnis des groben Zeitstrangs. Einen überaus vagen Eindruck dessen, wie es sich angefühlt haben muss, während des nuklearen Wettrüstens morgens im Gedanken aufzuwachen, abends nicht mehr zu leben, bloß weil irgendwer in der einen Hemisphäre irgendwas gesagt hat, das irgendwem auf der anderen Hemisphäre den Hut hat hochgehen lassen. Und für die unbegreiflich im Raum stehende Behauptung: "Naja, die Amis wollten halt die Bombe bauen, bevor die Nazis das tun." 

Wenn ich an Oppenheimer denke, denke ich nicht zuallererst an die einmal mehr wuchtige Klangwelt, mit der Nolan seine Bilder aufwerten lässt. Oder an die visuelle Macht, mit der sich Nolan dem oft so uninspiriert abgewickelten Genre des Biopics nähert. Nicht einmal an Cillian Murphys so ruhig-brodelnd angelegte, so emotional aufzehrend wirkende Darbietung. Oder an Emily Blunt, die lange wie in einer undankbaren Nebenrolle gefangen wirkt und sich dann als weitere das Geschehen reflektierende, Persönlichkeit beweisende Partei enthüllt. Sondern daran, dass mir Oppenheimer endlich die Antwort auf die Frage "Warum zum Henker haben sich Menschen hingesetzt, um so etwas zu entwickeln?" begreiflich gemacht hat.

Innerhalb von drei Kinostunden entwirft Regisseur/Autor Christopher Nolan ein Szenario, in dem Hybris, Überforderung, widersprüchliche Informationen sowie überbordende, wissenschaftliche Neugier im Gleichschritt mit atemloser Angst vor der Bedrohung durch die Nazis zum Bau eines Weltenzerstörers führten. Eine Waffe, die daraufhin jenen entglitten ist, die ihre Implikationen verstehen, und aus reinem, patriotischen Machtgehabe auf Kosten mehrerer Tausend japanischer Leben der Weltbühne vorgeführt wurde. Nolans Oppenheimer dient nicht als Rechtfertigung, nicht einmal zwingend als schulische Erklärung. Sondern als ernüchternde Begreiflichmachung der sehr speziellen Umstände und Persönlichkeiten, die zu einer die Welt verändernden, unaufhaltsamen Kettenreaktion führten.

Und das hat mich mit staunender Überwältigung zurückgelassen. Das werde ich so schnell nicht vergessen und dem Film für immer zugute halten.

Die düstere Sinfonie der physikalischen Formeln, die Kakophonie des politischen Ellenbogenreibens

Wie es bei Nolan zunehmend üblich wird, ist auch Oppenheimer eine von seinen Klängen getragene Filmerfahrung: Das Drama eröffnet, wie viele Klassikkonzerte beginnen: Das Orchester wärmt sich auf, die Streichinstrumente werden ein letztes Mal gestimmt. Dann sehen wir Regen auf eine Wasserfläche prasseln, von Nope-Kameramann Hoyte van Hoytema so gefilmt, dass es glatt so aussieht, als wären die aufprallenden Tropfen Noten auf einer Partitur.

Von nun an oszilliert die Filmmusik des The Mandalorian-Komponisten Ludwig Göransson zwischen voluminös erklingenden, sinfonischen Stücken und wuchtigem, chaotischem Elektrosound. Ein klassisch aufgebautes Orchester spielt Musik, die im Einklang mit den Bildern den Eindruck vom Vorantreiben von Forschungsprozessen, sprunghafter Passion in privaten wie beruflichen Dingen und flirrenden Gedanken erzählen. Eine Verschmelzung aus klassischem Orchester, Synthesizern und ungewöhnlichen Instrumenten wabert, dröhnt und schlägt entfesselte, bedrohliche Klangwellen. In diesen Passagen klingt Göranssons Musik so sehr nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten, wie noch nie jemand außer Hans Zimmer nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten klang.

Auf der Oppenheimer-Tonspur wird ein unablässiger Kampf ausgetragen, zwischen Konvention und Modernität, Untermalung und Übertönung, einem mitfühlenden und gegen das Bild rebellierenden Ansatz. Nolan, dessen Filme mitunter als verkopft, über-intellektualisiert und kompliziert kritisiert werden, machte schon in Tenet keinen Hehl daraus, dass er doch nur will, dass wir seine Arbeit fühlen, nicht verstehen. Er legte Clémence Poésy sogar eine Tenet-Gebrauchsanweisung in den Mund. In Oppenheimer belässt er es nicht mehr auf eine Dialogzeile. Er lässt es Göransson musikalisch in die Welt hinausbrüllen und trennt visuell seine einmal mehr ineinander verwobenen Erzählebenen in vibrierende, gefühlsüberbetonte Farben und nüchternes, Nuancen auslöschendes Schwarzweiß, um es uns begreiflich zu machen: Nolan will uns die Geschichte mit jeder Pore unseres filmschauenden Körpers erleben lassen. Das Trockene ist trocken, laugt aus. Das Chaos ist laut und desorientierend. 

Wer in der realen Historie an welchem Tag jetzt was warum gesagt hat, ist weniger von Belang als das, was daraus folgt, was es mit der Welt macht, mit Oppenheimers Seelenleben anstellt, mit uns im Saal macht. Oppenheimer ist kein derartiges Wunder an Struktur, Schnitt und Musik wie Dunkirk, setzt dessen Grundgedanken, wichtige Geschichtsereignisse zu destillieren und in uns hineinzujagen, aber deutlich erfolgreicher um.

Einen Clémence-Poésy-Augenblick nimmt sich Nolan dennoch heraus: Oppenheimer, den wir im Film wiederholt rätselnd ins Leere starren, mit seinen Augen Löcher in die Luft bohren und fragend vom Regen bombardierte Wasserflächen anblicken sehen, bekommt von einem Kollegen gesagt, er sei als an der Mathematik desinteressierter Physiker wie ein Musiker, der keine Noten lesen kann. Was in seinem Fall nicht weiter von Belang wäre, da er die Musik in ihrer Gesamtheit versteht. Womit Nolan noch im ersten Drittel (erstmals, aber nicht zum letzten Mal) den Bogen zurück zum Filmbeginn spannt. Dieser Film wird musikalisch erfahrbar gemacht, schert sich um dornige, widersprüchliche Gesamteindrücke, ignoriert trotz drei Stunden Laufzeit irgendwelche Detailfragen, die allein das Fachpublikum einordnen köönte. Das mag spalten, setzt aber große Energie frei.

Während die sich um Oppenheimers Lebensperspektive und den physikalischen Forschungsprozess drehenden Sequenzen zwar mit ehrlichem, überzeugtem Pathos, aber auch geordnet ablaufen, ist die dominierende Energie in anderen Sequenzen destruktiv: Immer wieder sehen wir Anhörungen. Aus Oppenheimer wird phasenweise eine Art Justizthriller, mit allem, was zum Genre dazugehört: Uninformierte Fehlurteile, hasserfüllte Anschuldigungen, unsaubere Argumentationen, die mit voller Überzeugung in den Raum gebrüllt werden. Es sind Szenen, die uns aus Oppenheimers Schuhen rausholen und dazu drängen, Urteile über ihn zu bilden. Wohlwissend, wie schwer dies ist. 

Und es sind Szenen, die eiskalt mit dem US-Politzirkus abrechnen. Da ist ein Mann, der sich so sehr auf die Gelegenheit stürzte, die ultimative Waffe zu bilden, dass er davon geblendet einer angriffswütigen Politik in die Hände spielte und somit literweise Blut an seinen Händen kleben hat. Und den will man vor allem deskreditieren, weil er sich einst für die Gründung einer Gewerkschaft aussprach? Die USA, das Land der unbegrenzten "Fairness und Mitspracherecht sind Kommunismus, und somit unser aller Todfeind"-Argumentationsstrudel.

Eine Erfahrung, die komprimierter noch stärker gewesen wäre

Der bis in die kleinste Nebenrolle prominente Cast, Hoyte van Hoytema soghaften Bilder, Jennifer Lames paradoxer Schnitt (assoziativ und zielgenau zugleich) und Göranssons überwältigender Score helfen enorm, um Nolans elliptische Erzählung zu einem Gefühl zu erheben, statt als intellektuelle Fingerübung in narrativen Tricks enttäuschen zu lassen. Die sprunghaften Übergänge zwischen erzählten Zeiten und Perspektiven drängen unweigerlich dazu, dass unsere Köpfe genauso kreisen wie die derjenigen, die einen unglaublichen naturwissenschaftlichen Fortschritt getätigt und damit die Welt auf ewig verdammt haben.

Aber es gibt Passagen, in denen aus Ellipsen Leerlauf wird. So wird im ersten Drittel plötzlich minutenlang von mehreren Figuren in mehreren Erzählebenen darauf rumgeritten, dass es während der geheimen Erforschung der Atombombe zu einem Datenleck gekommen sei. Es folgt das unvermeidliche Fingerzeigen, wer es denn gewesen sein könnte, und wer dafür zuständig ist. Probleme, die im letzten Drittel an Signifikanz gewinnen, im ersten Drittel aber dermaßen überbetont und erneut verbalisiert werden, dass aus der Oppenheimer-Seherfahrung für mich kurzzeitig doch reines Absitzen eines groß aufgezogenen Biopics mit wenig Inhalt wurde.

Und auch, sobald der Endspurt beginnt, hin zum großen Crescendo der Musik, der elliptischen Erzählung und Oppenheimers Versuch, sein Tun zu verarbeiten, verliert sich Nolans Skript kurz in einem Übermaß an Erklärungen. Als hätte er das Vertrauen ins Publikum oder seinen Ansatz verloren. Ohne diese Passagen hätte mich Oppenheimer noch stärker erwischt. Doch auch mit ihnen ist es ein Strudel von einem Biopic mit großen kunsthandwerklichen Ambitionen und einer derart schwierigen Hauptfigur mit noch schwierigerem Erbe im Mittelpunkt, dass der Film diese Ambitionen tragen kann.

Oppenheimer ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Barbie


Meine Lieblingsserie als Kind war Die Dinos. Und es ist immer noch meine Lieblingsserie. Die mit mächtigen Puppen und Animatronicbauten aus dem Hause Jim Henson bevölkerte Sitcom-Satire wägt ihr Publikum mit stolz-tumben Wortspielen, schräg-überspitzten Figuren und allerlei albernen Situationen in Sicherheit. Und dann setzt sie sich mich solchen Themen auseinander wie sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, der Aufweichung der Demokratie durch käufliche Medien sowie machtgierige Großkonzerne, institutionellem Rassismus, die zerstörerische Ausbreitung des Kapitalismus, die verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens, den sich anbahnenden Klimakollaps und schlechtes Fernsehprogramm. 

Die Aussagen, die Die Dinos über all diese Themen trifft, sind fast ausnahmslos direkt und unmissverständlich. Vielleicht, weil Kinder zum anvisierten Zielpublikum gehören, doch zweifelsohne auch, weil die Serienverantwortlichen mit voller Überzeugung hinter ihren Aussagen stehen und keine Abschwächung ihrer Botschaften als nötig erachteten. Allerdings sind geradlinige, deutliche Ansagen nicht gleichbedeutend mit stumpfen, nichtssagenden Inhalten: Die bissige Ausnahmesitcom Die Dinos gelangt über gewitzte Dialoge, gewieft eingefädelte Handlungsbögen und sich gegenseitig in ihrer Bedeutung hochschaukelnden Gesellschaftsbeobachtungen zu ihren Urteilen. Daher hallt sie seit meiner Kindheit in meinem Hinterkopf nach und begeistert mich als Erwachsenen beim x-ten Anschauen immer wieder neu.

Ja, es ist eine Kunst, Leute näher ran an dein Werk zu locken, sodass sie mit der Lupe in der Hand, gebannt nach dem Sinn des Ganzen suchen. Doch es ist ebenso eine Kunst, sie mit aller Deutlichkeit umzuhauen. Genau die Worte oder Bilder zu finden, die sich aufgrund ihrer Schlüssigkeit und Strahlkraft ins Gedächtnis brennen, und sich dann auch noch trotz aller Direktheit beim wiederholten, genaueren Betrachten als zunehmend raffinierter enthüllen.

Greta Gerwigs Barbie weckt in mir nicht dermaßen große Begeisterung wie Die Dinos, allerdings bin ich von beiden Werken aus ähnlichen Gründen sehr angetan und ich würde ihnen eine beachtenswerte Familiengemeinsamkeit unterstellen. Daher finde ich es auch so bedauerlich, dass die US- und UK-Freigaben eine Empfehlung für Teenager aussprechen, aufgrund irgendwelcher sprachlicher Grenzüberschreitungen, die ich mit meinen deutschen Sprachsensibilitäten nicht ausgemacht habe.

Die FSK-Freigabe ab sechs Jahren trifft den Nagel hingegen auf den Kopf. Und ich hoffe sehr, dass sich zahlreiche sechsjährige Kinder finden werden, die Barbie zu ihrem Lieblingsfilm erklären - und ihn nie mehr von diesem Rang verbannen, so wie sich Die Dinos in meinem Serien-Pantheon auf der Spitzenposition festgebissen hat. Ich gönne es ihm. Denn auch er wird es verstehen, junge, noch unwissende Augen zu öffnen, und ältere, welterfahrenere Augen immer wieder auf's Neue durch seine Argumentationsschläue, Schaffensfreude und Beobachtungsschärfe zu begeistern und zum Weiterführen dieser Gedanken anzuspornen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. 

Rosa Feminismus, die Wandelbarkeit von Symbolen und das Streben danach, einen Antrieb zu haben

Barbie (Margot Robbie) führt ein sorgenfreies Leben in Barbieland, einer matriarchalisch geführten Welt in Bonbonfarben (vor allem: Pink). Jeder Tag ist der beste Tag ihres Lebens und endet mit einem feierlichen Mädelsabend, den Barbie unter anderem mit Barbie (Issa Rae), Barbie (Hari Nef), Barbie (Alexandra Shipp), Barbie (Emma Mackey) und Barbie (Ritu Arya) verbringt. Am Strand dagegen hängt sie auch gerne mit Ken (Ryan Gosling), Ken (Kingsley Ben-Adir), Ken (Simu Liu), Ken (Scott Evans), Ken (Ncuti Gatwa) und Allan (Michael Cera) ab. Als Barbie plötzlich komplexe, bedrückende Gedanken fasst, Probleme hat, in ihren High Heels zu laufen, und in der Dusche friert, gibt es nur eine Lösung: Sie muss die seltsame Barbie (Kate McKinnon) um Rat fragen. Sie hat doch schon alles durchgemacht, also wird sie ja wohl auch dafür eine Lösung haben...

Bevor Barbie Sorgen entwickeln kann, muss sie selbstredend erst einmal die Bühne betreten. Und Gerwig führt ihre Titelheldin in einer brillanten 2001: Odyssee im Weltraum-Parodie ein: Die Lady Bird-Regisseurin zeigt eine desolate, wüste Welt, in der junge Mädchen bloß Baby-Püppchen haben. Sie können also nicht anders, als Mutter zu spielen. Doch dann steht vor ihnen plötzlich eine riesige Barbie, die den Mädchen keck zuzwinkert. Die Mädchen zerstören ihre wie Babys geformte Püppchen, Also sprach Zarathustra ertönt immer triumphaler, ein neues Zeitalter hat begonnen.

Oberflächlich betrachtet ist es einfach schön schräg und ulkig, eine überdimensionale Margot Robbie in Sonnenbrille und einem an der Ur-Barbie angelehnten Badeanzug über piefig gekleideten, jungen Mädchen in einer Steinwüste thronen zu sehen. Doch dass sie die Position des Monolithen einnimmt, ist mehr als reine, ins Alberne verzerrte Stanley-Kubrick-Imitation. Es bereitet bei aller Komik die thematische Bandbreite des Films vor:

In einer Welt, in der mit Puppen spielende Mädchen dazu zwangsverdonnert wurden, eine Mutterrolle einzunehmen, war es ein gigantischer Fortschritt, ihnen neue Wahlmöglichkeiten an die Hand zu geben. Die Fashion-Puppe Barbie gestattete völlig neue Spielszenarien: Wer mit ihr spielt, kann sich nun in Erwachsenenszenarien ohne Nachwuchs hineindenken. Sich vorstellen, selber so wie Barbie chic gekleidet den Strand entlangzulaufen. Oder einen von unzähligen Jobs zu bekleiden (und sich in einem passenden Outfit einzukleiden). 

Aber so, wie der Monolith in 2001: Odyssee im Weltraum nicht nur Fortschritt bringt, sondern auch Konflikt und Verderben, ist Barbie keine reine Heilsbringerin. Wie Gerwig und ihr Schreibpartner Noah Baumbach in ihrem herrlich unverblümten Drehbuch mehrfach unterstreichen, kam mit Barbie Stereotypisierung einher: Egal, wie viele Puppen der Hersteller Mattel auf den Markt wirft, große Teile der Gesellschaft werden allein an die schlanke, langbeinige, weiße Blondine denken, für die Mode und Fröhlichkeit alles sind. Womit die Existenz dieses Produkts, ganz gleich wie wenig das beabsichtigt war, zu verzerrten Rollen- und Körperbildern führen kann.

Und wie kommt es, dass eine Spielzeugfigur, die ungefähr so viele Berufe durchlaufen hat wie Homer Simpson und Donald Duck, nicht in derselben Vehemenz genutzt wird, um ebenfalls eine Vielfalt an Gemütern abzubilden? Wenn Kinder alt genug sind, um sich Filme und Serien über fröhliche, traurige, wütende und ratlose Figuren anzuschauen, wieso werden sie von Spielzeugmarken wie Mattel dauerhaft dazu angetrieben, im Spiel eine Friede-Freude-Eierkuchenwelt zu erschaffen, statt ihnen spielerische Mittel an die Hand zu geben, negative Gefühle zu erkunden und Konfliktlösung zu erlernen?

Barbie, das Symbol der Emanzipierung aus dem monolithischen biografischen Weg direkt vom Kind zur Mutter, die spielerische Vorlage, sich in mannigfaltigen Rollen und Karrieren hinein zu projizieren, wurde in den Augen nicht weniger Menschen zum Symbol der Frauenunterdrückung und einer gleichgeschalteten Genderwahrnehmung. 

Im Gegensatz zum Monolithen aus 2001: Odyssee im Weltraum ist Barbie aber nicht nur Entwicklungsbeschleunigerin und Unheilsbringerin in Personalunion, sondern zugleich Protagonistin. Was es Gerwig und Baumbach gestattet, anhand von ihr nicht nur die intellektuelle Debatte zu starten, wie uneindeutig Symbole sein, Botschaften fehlgedeutet und Ideen variiert werden können. Sie haben obendrein die Möglichkeit, anhand und mit Barbie eine emotionale Reise zu erzählen. Über eine Figur, die herausfinden will, was sie denn nun ist, wo sie hingehört und was sie für sich selbst bezwecken möchte. Coming-of-Age, Coming-of-Meaning, Coming-of-Being, alles in Einem!

Und all dies wird durch das Prisma des Feminismus betrachtet: Die Auseinandersetzung mit im guten wie schlechten Sinne verformbaren Ideen und die Erzählung von der Suche nach Sinn, Geborgenheit und Erfüllung lassen sich verallgemeinern und übertragen, so, wie Barbie sie angeht. Doch ganz konkret wird es anhand dessen ausgearbeitet, was Barbie für die Stellung der Frau bedeutet. Und daran, wie deprimierend es ist, dass Frauen und junge Mädchen eine Fantasiewelt aufbauen müssen, in der sie sich entfalten können und ihnen alle Türen offen stehen, während für Männer die echte Welt ein solcher Tummelplatz ist.

Sie alle sind Barbie, doch er ist nur Ken

Dass in Barbieland nahezu alle Frauen Barbie sind, könnte so aufmunternd, inspirierend und anspornend sein: Egal, wie groß du bist, wie viel du auf die Waage bringst, welche Hautfarbe du hast oder welche Interessenschwerpunkte du mitbringst, auch du bist Barbie. So, wie laut den Spider-Verse-Filmen alles und jeder eine Spider-Persönlichkeit kann und laut Ratatouille jeder kochen kann. Aber: Wenn Barbie alles ist, was hält uns in unserer Wirklichkeit davon ab, sie in jede nur erdenkliche Richtung zu interpretieren und somit vom hinter dem Konzept dieser Puppe stehenden Ursprungsgedanken zu entfernen?

Und wenn wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben, die von kaputten Körperbildern, Rassismus und Sexismus durchzogen ist, wie können wir da schon verhindern, dass (ob aus ideologischer Überzeugung oder widerwillig internalisierten, negativen Einflüssen) es ausgerechnet die abschätzigsten Interpretationen von Barbie sind, die sich festsetzen? Aus der Perspektive der von Margot Robbie gespielten, stereotypischen Barbie in Barbieland wiederum drängt sich das Dilemma auf: Wenn alle ich sind und ich alle bin, wer bin ich dann überhaupt noch, wozu braucht es mich speziell?

Für einen Film, dessen Kernaussagen sich kompakt als "Sei was du sein möchtest, solange du damit niemandem willentlich schadest :)" und "Feminismus ist gut und wichtig, wie kann man das denn bitte nicht finden, schau doch nur, wie ungerecht die Welt ist, in der wir leben!" zusammenfassen lassen, sind dies gewichtige, komplexe Fragen ohne allgemeingültige, simple Antworten. Fragen, die so offen gestellt werden, und so eng mit der gesamten Struktur des Films verbunden sind, dass sie konsequent an Nachdruck gewinnen. 

Gerwig holt dieses unförmige, engagierende Gedankenfutter aus der verstaubten Leseecke eines Studienzimmers heraus, und spielt mit diesen Überlegungen und Gefühlen stattdessen in einer farbenfrohen Traumwelt. Liebevoll, detailreich und mit tonnenweise Witz kreieren Gerwig und ihr Team Barbie-Spielsets in Menschengröße, kleiden den Cast in schillernden Outfits und bringen die Rädchen im Oberstübchen zum Rattern, während süffisante Doppeldeutigkeiten, teils liebevoll-selbstironische und teils bitter-beißende Seitenhiebe auf das kulturelle Erbe des Mattel-Konsumimperiums verteilt werden, und mehrere Jahrzehnte filmischer Schöpfungsgeschichte die Barbie-Behandlung abbekommen.

Und dann ist da natürlich noch Goslings Ken, in dem dieselbe Unzufriedenheit aufkommt wie in Robbies Barbie. Nur kanalisiert er sie anders, buhlt zähneknirschend um die alleinige Aufmerksamkeit von Robbies Barbie, entwickelt Geltungssucht, anstelle der plötzlichen Introspektive unserer Barbie-Protagonistin, und wird auf urkomische Weise großkotzig. Man könnte ihn glatt als Schurken verstehen, würde Ryan Gosling Kens Fehltritte nicht so überdeutlich als Folgen absoluter Dummheit spielen. Als sich schädlich äußernde Naivität gegenüber negativen Einflüssen. Und als absolutes Unvermögen, mit denselben Gefühlen umzugehen, die Robbies Barbie hat: Er will doch einfach nur einen Sinn für sein Dasein verspüren - bekommt aber (noch) weniger hilfreichen Rat als unsere Protagonistin. Er ist kein Frauenhasser, er braucht nur Orientierung, die ihm niemand anbietet. Würden Kerle, die ihren Mist überzeugter durchziehen als Ken, doch nur aufhören, so erfolgreich den Feminismus zu bekämpfen; Ken wäre genau geholfen wie Barbie.

Das gilt doppelt und dreifach, sobald Barbie und Ken ihre Sinnsuche in der realen Welt fortsetzen, und vor Augen geführt bekommen, wie sehr sich die rosa Fantasieblase namens Barbieland und die diesseitige Gegenwart unterscheiden. Während Barbie eine sie verachtende Teenagerin namens Sasha (Ariana Greenblatt) und ihre verworrenere Gedanken über die Puppe hegende Mutter Gloria (America Ferrera) kennenlernt, und von ihnen inspiriert ihre eigene Bedeutung reflektiert und dadurch neue Hoffnungen für ihr Selbstbild entwickelt, sieht Ken eine Welt, in der Männer kein Accessoire sind, keine Unterstützer. Sondern die selbstsüchtigen Herrscher. Armer Ken, lieber Ken, du bist nicht darauf vorbereitet, mit diesem Einfluss kritisch umzugehen...

Ob es Barbieland ist, unsere Welt, oder das sonderbare Bindeglied zwischen ihnen, die von einer fast endlosen Reihe an Männern in Anzügen geleitete Spielzeugfirma Mattel: Gerwig setzt ihre Schauplätze mit findigem Auge in Szene und nutzt sie gewieft, um ihren Hauptfiguren neue, komische Hindernisse in den Weg hin zur Entdeckung ihres wahren Glücks zu stellen. Daher ist Barbie ein Feuerwerk der Komik, das sich aber niemals gegen dunklere Gefühle wehrt: Allein schon, in einer Szene eine kriselnde Barbie zu sehen, die aber noch immer nicht internalisiert hat, dass sie ihre Angst und Ratlosigkeit mit vollem Körpereinsatz ausdrücken darf, erzeugt geradezu Gänsehaut! Robbies Augen sind verheult, erschöpft und errötet, aber ihr Mund bemüht sich weiter um ein Grinse-Lächeln, ihre Körperhaltung bleibt steif und gerade, als befände sie sich auf dem Laufsteg. 

Generell bekommt Robbie für jeden feist-lustigen Gag, den Gosling mit voller Überzeugung verkauft, ein gefühlvolles Pendant, einen feingliedrigen Moment der Introspektive oder der befreienden Aussprache dessen, was in ihrer Barbie vorgeht. Denn zu Filmbeginn ist Robbies Barbie keinesfalls dumm - aber sie ist hohl. Frei von Selbstreflexion, unangetastet von Fremdreflexion. Zuzusehen, wie sie im Laufe des Films mit Erkenntnis, innerem Antrieb und Zweck erfüllt wird, ist ganz großes Schauspielkino. Sowie raffiniertes Storytelling, da Gerwig diesen potentiell mühselig-didaktischen Prozess so wirken lässt, als würde sie all das locker aus dem Ärmel schütteln, während sie ein Camp-Fest auf die Bühne bringt.

Und so sind es die exakt ins Schwarze treffenden, entlarvenden Witze über klischeehafte Männerfloskeln, die kopfschüttelnden Seitenhiebe auf Barbies fehlgeleitetes kulturelles Erbe, der spritzige Dialogwitz rund um die vielen Kens und Barbies (aber vor allem Goslings Ken) und die mit Verve und Quirligkeit umgesetzten Musikeinlagen, die uns vor wunderhübsch in Szene gesetzter Kulisse ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Oder wenigstens uns allen, die den Film so genießen wie ich. Doch nach einer famos vertanzten Eskalation bleibt nicht etwa das "Ich hatte wohl zu viel Zuckerwatte"-Bauchweh zurück. Denn Barbie trifft direkte, einfache, noch immer brennend-nötige Aussagen über Selbstwert und Genderrollen. Und erzählt komplexere, filigranere Argumentationen über die Flexibilität von Ideen, die zugleich eine berührende, zarte Geschichte über die Suche nach sich selbst und die Akzeptanz durch andere darstellen.

All das ineinandergreifen zu lassen, ist eine beeindruckende Kunst, die über Altersgrenzen und Erkenntnishorizonte hinweg Reiz ausübt. Die Einen müssen lernen, dass sie nicht wie die stereotypische Barbie aussehen müssen, den Anderen müssen die Augen geöffnet werden, dass es eben nicht normal ist, dass ihre Bedürfnisse ignoriert werden. Die Nächsten wissen das alles schon, doch es kann nicht schaden, ihnen vor Augen zu führen, wie schnell sich "MÄNNERRECHTE!"-Forderungen in Köpfe pflanzen lassen. Und die Übernächsten brauchen einfach die wärmende Umarmung eines Films, der ihnen sagt: "Ja, ich weiß ganz genau, wie es sich anfühlt, nicht dazuzugehören und am Rande eines Nervenzusammenbruch zu stehen. Keine Sorge. Wir schaffen es da wieder raus. Ich bin bei dir."

So, wie ich meine geliebten Dinos in verschiedenen Stadien meines Lebens begeistert aufnahm und begeistert aufnehmen werde, kann ich es nicht abwarten, von begeisterten Barbie-Fans zu hören, die erkennen, dass dieser Film immer gleich bleibt. Und trotzdem mit ihnen mitwächst. 

Barbie ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Sonntag, 9. Juli 2023

Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1)

Vier Filme lang war die Mission: Impossible-Reihe ein Vehikel für Regisseure mit einer etablierten (und teils überaus deutlichen) Handschrift, um sich stilistisch und tonal auszutoben, während Tom Cruise als verbissen kämpfender IMF-Agent die Welt rettet. Mit Mission: Impossible - Rogue Nation übernahm bei Teil fünf jemand das Steuer, der zwar kein Regie-Neuling war, aber selbst für große Teile des medienaffinen Publikums ein unbeschriebenes Blatt darstellte: Christopher McQuarrie erarbeitete sich zwar als Drehbuchautor einen achtbaren Rang, seine vorherigen Regiearbeiten The Way of the Gun und Jack Reacher ließen aber noch keine klare Handschrift vermuten.

Da hatten seine direkten Mission: Impossible-Vorgänger schon mehr etabliertes Profil, und dabei inszenierte J. J. Abrams vor Mission: Impossible III nur für's Fernsehen, während Brad Bird mit Teil vier seinen Sprung ins Realfilmfach wagte. Aber was nützt das lange Hinauszögern? McQuarrie erwies sich als hervorragende Wahl und lieferte mit Mission: Impossible - Rogue Nation einen packenden, temporeichen Agenten-Actioner ab, dem ein denkwürdiger Spagat gelang:

Der Film fühlt sich elegant und im besten Sinne altmodisch an (die Opernsequenz könnte auch von Hitchcock sein, Neuzugang Rebecca Ferguson versprüht als Ilsa Faust eine Aura von Katherine Hepburn und Ingrid Bergman, hätte man sie in einen modernen Big-Budget-Film gesteckt), zugleich ist er frisch und fesch. Analoge Spritzigkeit, könnte man das nennen. Zügig wurde beschlossen, dass er der Filmreihe treu bleibt, und mit Mission: Impossible - Fallout schuf er ein zweites filmisches Oxymoron: Teil sechs der Action-Saga ist eine Fortführung des vorhergegangenen Parts und trotzdem ein Biest für sich. Alte Konflikte werden fortgeführt, und dennoch steht der Film auf eigenen Beinen.

Auch McQuarrie erfand sich neu: Fallout sieht anders aus, klingt anders, läuft anders ab. Dunkler, getriebener, rauer, noch schneller. Pandemiebedingt dauerte es daraufhin fünf Jahre, damit sich McQuarries nunmehr dritter Mission: Impossible-Film auf die große Leinwand kämpfen konnte. Schon wieder krempelte er die Bild- und Klangästhetik sowie die Tonalität um. Dass er dies beabsichtigt und fähig ist, dies umzusetzen - damit hatte ich bereits gerechnet. Und trotzdem wurde ich bereits wenige Augenblicke nach Beginn von Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) (was für ein Titel) überrascht.

Mein Fauxpas: Einstieg mit falscher Erwartungshaltung

Ich muss zu meiner Schande gestehen: Ich war sogar so sehr überrascht, dass ich ein paar Minuten benötigte, um meine sprichwörtlichen Antennen auf die Wellenlänge des Films auszurichten. Denn McQuarrie zieht nicht weiter das Tempo an!

Ja, Dead Reckoning ist erneut ein Popcorn-Blockbuster par excellence mit waghalsigen Stunts, ausschweifenden Verfolgungsjagden sowie Kampfeinlagen, und wesentlich mehr Unterhaltungsfaktor als Sinnsuche. Obwohl dies die erste Mission: Impossible-Fortsetzung ist, in der Paranoia eine relevante Rolle spielt (inhaltlich sowie bezüglich dessen, was der Film beim Publikum auslösen möchte), bleibt sie mit beiden Beinen im Agenten-Action-Metier. Statt sich also zu Brian De Palmas Auftakt der Filmreihe zu gesellen, der es sich abseits seiner gelegentlichen Action-Ausbrüche wesentlich bequemer im Gebiet der Spionage-Suspense gemacht hat.

Darum muss ich zugeben, dass ich aufgrund meiner falschen Erwartungshaltung (und eines Überschusses an Adrenalin - vor der Pressevorführung hatte ich mir nämlich erneut mit einer Schüssel selbstgemachtem Popcorn Teil sechs angeschaut) während des Prologs etwas unruhig und ungeduldig geworden bin. Mehr als ihr wohl gerade, die diese Kritik aufgerufen habt und euch bestimmt schon vor ein paar Absätzen gewundert habt, wann ich endlich mit meiner Meinung rausrücke, ob Teil sieben denn nun was taugt. Aber was soll ich sagen:

Nach ein paar selbstironischen, trotzdem die Dramatik des Plots unterstreichenden Dialogzeilen und einem brachialen Vorspann (visuell wie akustisch) hatte ich die Frequenz des Films endlich drin. Zumal uns der Vorspann in seiner Klangdramaturgie keck an der Nase entlangführt. Für sowas bin ich zu haben, und dann konnte Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) auch für mich endlich so wirklich losgehen!

Kein reines Katz-und-Maus-Spiel um den MacGuffin

Um die Story im ganz, ganz Groben zu umreißen: Eine neue, mächtige Waffe treibt den Geheimdiensten dieser Welt den Schweiß auf die Stirn. Doch obwohl praktisch alle Entscheidungsträger Angst vor den Implikationen dieser Bedrohung haben, wollen sie sie an sich reißen. Als Ethan Hunt (Tom Cruise) davon Wind bekommt, beschließt er dagegen, sie zu zerstören. Dazu benötigt er allerdings zwei Hälften eines Sicherheitsschlüssels.

Um an sie zu gelangen, benötigt der nimmermüde Kämpfer fürs Gute die Hilfe seiner technologieerfahrenen Freunde Benji Dunn (Simon Pegg) und Luther Stickell (Ving Rhames), und muss sich dem unberechenbaren Terroristen Gabriel (Esai Morales) stellen. Außerdem kreuzen sich Ethans Wege mit den Bahnen der gerissenen Diebin Grace (Hayley Atwell), der brachialen Kämpferin Paris (Pom Klementieff) und der Weißen Witwe (Vanessa Kirby), einer verruchten Untergrund-Händlerin, mit der es Ethan schon einmal zu tun bekam. Und auch Ethans geschätzte Kumpanin / Gelegenheitsgegnerin Ilsa Faust (Rebecca Ferguson) ist im Kampf um die Schlüssel involviert...

Nach dem temporeichen Rogue Nation und dem nahezu atemlosen Hochdruck-Spektakel Fallout lässt McQuarrie in Dead Reckoning die Zügel wieder etwas lockerer. Auch, um Raum für die zentrale Bedrohung zu schaffen, die er und Co-Autor Erik Jendresen (Band of Brothers) nicht in ein Katz-und-Maus-Spiel verwickeln, wie es in den vergangenen zwei Mission: Impossible-Filmen zu bestaunen gab. Dieses Mal wird die Gefahr erläutert, sie wird vorgeführt und es gibt thematisch angetriebene sowie figurengesteuerte Sequenzen, in denen ihre Implikationen beleuchtet werden.

In den besten Momenten hat das einen Gänsehauteffekt, da in diesem Film ein einst wie Sci-Fi klingendes Plotelement sehr greifbar gemacht und tagesaktuell skizziert wird. Teils reichen ein paar messerscharfe, präzise Dialoge, um eine Beklemmung zu erzeugen, wie die Mission: Impossible-Reihe sie bei mir nie zuvor hervorgerufen hat. In den schlechtesten Passagen hat mich das Skript allerdings aus dem Film herausgerissen - und das selbst, nachdem ich überzeugt war, meine Erwartungshaltung arretiert zu haben:

Sämtliche Zurückhaltung, die McQuarrie als alleiniger Fallout-Autor bewiesen hat, wenn es um das Verbalisieren von Motiven, Bedrohungen und Verstrickungen ging, hat sich in Dead Reckoning verflüchtigt. Mehrmals fächeln McQuarrie und Jendresen die zügig offensichtlich gemachten Bedrohungen an, indem Figuren das Gesehene erklären und ausführlich darüber mutmaßen, was noch folgen könnte. An mehreren Stellen wird zusammengefasst, wer bereits was weiß, wo sich was befindet, und wer welche Absicht hat oder noch wohin muss. All diese Wiederholungen und verbalen Ausarbeitungen dessen, was durch Action oder Suspense-Momente bereits spürbar gemacht wurde, hatten bei mir den gegenteiligen Effekt - ich fieberte (kurzfristig) weniger mit. 

Mission: Spaßbombe

Diesen Kritikpunkten zum Trotz macht Dead Reckoning extrem viel Spaß: Nach den Teilen fünf und sechs schiebt McQuarrie den Comedy-Faktor wieder nach oben, und erzählt diese Mission trotz aller thematischen und figurenbezogener Fallhöhe wieder in die humorige Schiene von Brad Birds Part. So klopft Benji vermehrt lockere Sprüche, mehrmals argumentieren sich moralisch graue Figuren zu komischem Effekt in eine Ecke, und selbst Ethan agiert gelegentlich ironischer, leichtfüßiger - etwa, wenn er auf erfrischend alberne Weise Anwaltsgehabe nachahmt.

Auch die Setpieces haben zwar nicht durchgehend, sehr wohl aber häufig einen kecken, launigen Ansatz. Etwa, wenn beim Einsatz direkt nach dem Vorspann Ethan eine Mission erledigt, Luther und Benji parallel dazu einen weiteren sprichwörtlichen Brandherd entdecken und mehr schlecht als recht versuchen, dies vor Ethan geheim zu halten - sie wollen ihn ja nicht stören.

Das komödiantische Highlight ist aber eine ausgedehnte Verfolgungsjagd quer durch Rom, bei der sich unentwegt Ethan und Grace kabbeln, und darum ringen, wer denn nun wie den Ton angibt. Auch die Action ist gewitzt orchestriert: Im gelben Fiat 500, einem wendigen, kleinen Flitzer, der Lupin III-Fans das Herz höher schlagen lässt, saust das Duo durch die Straßen, nimmt enge Kurven, brettert über Treppen hinweg. So braust es vor Paris davon, die mit klobigen Stiefeln in einem gigantischen Truck schwere Hebel betätigt und einfach alles wegwummst, was ihr im Weg steht.

Diese Sequenz ist mit einer Energie und Gewitztheit umgesetzt, dass in mir mehrmals der Wunsch aufkam, dass McQuarrie irgendwann einmal einen Herbie-Film dreht. Diese peppige, lockere Attitüde wird durch Neuzugang Grace weiter verstärkt: Atwell hat ansteckende Freude an dieser Rolle und mischt die Mission: Impossible-Formel ordentlich durch, da sie als findige, wuselige Gaunerin zwar kompetent ist, jedoch auch in Konflikte weit, weit außerhalb ihrer Kragenweite gezerrt wird. Erbittert kämpfen, um ihr Leben fahren, weltumspannende Gefahren korrekt einschätzen? All das liegt nicht in Graces Kompetenzbereich, und Atwell spielt diesen "Bemüht, aber überfordert"-Aspekt sympathisch, die Spannung steigernd frustrierend, und gewitzt zugleich. Es ist, als hätte man Oliver Twist volljährig und weiblich gemacht, und daraufhin in einen Pierce-Brosnan-Bond-Film gepackt

Auch die manisch-boshafte Paris kommt mit einem gewissen Spaßfaktor daher: McQuarrie setzt diese Schurkin so in Szene, dass wir erfreut ob ihres markanten Auftreten grinsen dürfen, ohne dass sie dadurch an Gefährlichkeit einbüßt. Selbiges gilt für Vanessa Kirby, die die undurchsichtige Weiße Witwe nun eine Spur selbstgefälliger in ihrer Verruchtheit spielt. Als wäre es das größte Vergnügen im Leben dieser Waffenhändlerin und Untergrund-Dienstleistungs-Vermittlerin, ihr Umfeld stets wissen zu lassen, wie sehr sie ihr Job anmacht.

Die reine Abscheu bleibt Esai Morales vorbehalten, der zwar nicht der denkwürdigste, profilstärkste Schurke der Reihe ist, wohl aber der kompetenteste und daher im denkbar besten Sinne an den Nerven sägt. Apropos Kompetenz: Natürlich drückt auch Rebecca Ferguson einmal mehr allen Szenen, die sie als Ilsa Faust hat, kräftig ihren Stempel auf. Als fähige, im Vergleich zu Ethans Team eher wortkarge, nachdenkliche Agentin bleibt Ilsa Faust ein Highlight im Mission: Impossible-Figurenportfolio.

Ein waschechtes Highlight ist auch der Schlussakt, der so smart konstruiert ist, dass ich mein Granteln ob der vielen Expositionsdialoge ein Stück weit vergessen habe: Im letzten Viertel finden die diversen Handlungsfäden stimmig zusammen und McQuarrie konstruiert gemeinsam mit Jendresen eine Mixtur aus figurenzentrischer Dramatik, von der Thematik des Films angetriebener Suspense und reinem Spektakel. Es ist nicht ganz auf der Höhe des Lone Ranger-Finales, trotzdem spielt dieser konstant an Fahrt aufnehmende Schluss in derselben Liga.

In wen hat sich McQuarrie dieses Mal verwandelt?

Mit einer aufgehellten, klareren Bild- und Klangästhetik gegenüber Fallout (Fraser Taggart übernimmt die Kamera von Rob Hardy, Lorne Balfe bleibt als Komponist an Bord), ließ mich Dead Reckoning mit folgendem Eindruck zurück: Rogue Nation war "Was, wenn leichtgängiger Hitchcock, aber als heutiges Action-Spekrakel?", Fallout wurde wegen der rauen Getriebenheit oftmals als "nolanesk" bezeichnet.

Dieser Film hingegen wirkte auf mich, als sei der Geist von David Lean in Martin Campbell gefahren, der nach einem John-McTiernan-Marathon und dem begierigen Aufsaugen mehrerer Lupin III-Animes (den "bodenständigen" wie auch den völlig durchgeknallten) beschließt, einen neuen Brosnan-Bond-Teil zu drehen. Bloß, dass Bond dieses Mal mehr Freunde hat als zumeist üblich, und sich in Frauen eher platonisch verliebt, statt stets daran zu denken, weitere Kerben in seine Bettpfosten zu ritzen.

Zur Erklärung: Dead Reckoning operiert mit Popcornkino-Suspense, die aufgrund der unverblümten Drastik, mit der McQuarrie, Jendresen und Produzent Cruise mancherlei Entwicklung einschätzen, immer wieder Mal in richtige Beklemmung übergeht. Es gibt epochale, sich in der Stimmung der Schauplätze suhlende Szenen, die zugleich das Innenleben der Figuren nach außen kehren (ein verwirrter, mit seinem Auftrag ringender Ethan im desorientierenden Sandsturm; Ethan und sein ihm am Herzen liegendes Team atmen bei einer Kanalfahrt noch einmal durch, unsicher, was sie erwarten wird).

Doch diese atmosphärischen "Ausbrüche" werden zusammengehalten durch eine pfiffig-wuchtige Reihe an Action-Eskapaden mit punktgenauen Sprüchen, quirligem Action-Slapstick und aufwändigen Stunts, die mit einer erstaunlichen Beiläufigkeit in die Storyabläufe gewoben werden.

Das ist großes Kino, das bitte auch wirklich auf großer Leinwand im Kino verfolgt wird, wenn ihr die Möglichkeit dazu habt. Es ist Spannung, Kurzweil und Weltflucht, die mehrere scharfe Kurven zurück gen Weltangst nimmt. Es hat mich beim ersten Anschauen nicht ganz so geflasht, wie mich derzeit Fallout begeistert, der mir von Mal zu Mal enger ans Filmfanherzen wuchs. Doch es hat mich ungeduldig auf meinen zweiten Dead Reckoning-Besuch zurückgelassen. Und gespannt darauf, ob McQuarrie beim nächsten Film erneut Stil und Tonfall wechselt, oder Dead Reckoning (Teil 2) nahtlos da weitermacht, wo uns dieser Film verlässt.

Mission: Impossible - Dead Reckoning (Teil 1) ist ab dem 13. Juli 2023 in vielen Kinos zu sehen, doch schon jetzt machen im deutschsprachigen Raum einige Kinos Previews. Und am 20. Juli nimmt sich Filmgedacht den Themen des Films an. Bis dahin hattet ihr genug Zeit, ihn zu schauen, und wir können daher munter spoilernd konkret auf brennende Fragen eingehen!

Samstag, 1. Juli 2023

Crater


Disney hat einen seiner schönsten Realfilme der jüngeren Vergangenheit offline genommen. Und das nur eineinhalb Monate nach seiner Veröffentlichung. Es ist ärgerlich, traurig und führt vor, weshalb die aktuelle Streaming-Strategie mehrerer Hollywood-Studios unverschämt ist.

Und es ist der Grund, weswegen ich diesen Artikel schreibe. Denn ich hatte ungeheuerliches Glück: Crater erschien am 12. Mai als Disney+-Exklusivfilm und landete prompt auf meiner Watchlist. Doch aufgrund auslaufender Veröffentlichungsfenster anderer Produktionen in diversen Mediatheken habe ich erst einmal andere Filme priorisiert. So weit, so schlüssig: Wenn ich weiß, dass mehrere Filme, die mich reizen, nur noch kurze Zeit abrufbar sind, schaue ich die zuerst. Der für Disney+ produzierte Crater wird ja jederzeit abrufbar sein... So dachte ich.

Als ich dazu kam, Crater zu schauen, war ich hingerissen und hatte vor, ihn bei der nächstbesten Gelegenheit weiterzuempfehlen. Allerspätestens in meinen Jahrescharts 2023, also irgendwann im Herbst 2024 oder so. Hetzt mich nicht, diese Bestenlisten mache ich nur zum Spaß, warum sollte ich sie mit aller Gewalt in den Dezember hebeln? Zeit ist eine komische Sache, Leute.

Gar nicht komisch ist dagegen, dass ich wenige Tage nach dem Sehgenuss von Crater via Twitter erfahren muss, dass Disney+ den Film offline genommen hat. Ohne jede Vorwarnung und ohne derzeit bekanntes Veröffentlichungsdatum auf einer anderen Plattform. Möglich, dass er irgendwann als digitaler Leih- und Kauftitel angeboten wird. Oder im Fernsehen läuft. Oder nichts dergleichen. 

Um also zu unterstreichen, was Disney+ uns genommen hat, und vielleicht dabei zu helfen, genug Druck zu erzeugen, damit Crater wieder online geht, habe ich mich an die Tastatur gesetzt. Auf dass er sich in euren Hinterköpfen festsetzt und ihr euch auf ihn stürzt, solltet ihr ihn im Frühling 2025 beim Zappen auf dem Disney Channel entdecken. Oder sowas.

Crater: Darum geht es

In einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit ausgebreitet: Die Erde wird weiterhin bewohnt, doch es gibt zudem eine weit entfernte, idyllische Kolonie namens Omega.  Außerdem wurde der Mond als Lebensraum erschlossen. Die Mondkolonie dient vornehmlich der Ressourcengewinnung, ist trist und Arbeitsverträge auf dem Mond sind voller ausbeuterischer Klauseln, weshalb alle Mond-Bewohner*innen nur einen Traum haben: Sie wollen ihn wieder verlassen! Bloß Caleb (Isaiah Russell-Bailey) hat anderes im Sinn. Er ist kürzlich Vollwaise geworden und soll daher zu einer Pflegefamilie auf Omega gebracht werden.

Das bedeutet jedoch, dass er für 75 Jahre in einen Kryoschlaf versetzt wird. Und genau daher sträubt er sich gegen die Aussicht, den Mond zu verlassen. Das würde nämlich bedeuten, dass er seine Freunde wohl nie wieder sehen wird. Oder erst, wenn sie dank des paradoxen Verlaufs der Zeit deutlich älter sind als er. Also raufen sich Dylan (Billy Barratt), der empfindsame Anführer der Clique, der fürsorgliche sowie abergläubische Borney (Orson Hong) sowie der ruhige und herzkranke Marcus (Thomas Boyce) zusammen: Sie wollen ein letztes, gemeinsames Abenteuer erleben und einen besonderen Krater besuchen, von dem Calebs Vater schwärmte. 

Zu diesem Zweck müssen die Freunde ein Gefährt stehlen. Und das gelingt ihnen nur, wenn sie die kürzlich auf den Mond gezogene Addison (Mckenna Grace) überreden, die als Tochter eines Technikers über die nötigen Sicherheitscodes verfügt...

Ruhige Abenteuer auf dem Mond

John Griffins Crater-Drehbuch geisterte seit Mitte der 2010er-Jahre durch Hollywood und galt als viel versprechendes Projekt, das auf die richtigen Verantwortlichen wartet, um umgesetzt zu werden. Nach kurzzeitiger Entwicklung bei 20th Century Fox (mittlerweile: 20th Century Studios) als Regie-Vehikel für Free Guy-Macher Shawn Levy landete es letztlich bei den Walt Disney Studios, wo Crater als Disney+-Exklusivfilm angedacht wurde.

Die Regie übernahm schlussendlich Kyle Patrick Alvarez, der unter anderem drei Episoden der hervorragenden ersten Tote Mädchen lügen nicht-Staffel inszenierte. Und obwohl Crater nicht derart niederschmetternde, drastische Kost ist wie das auch hierzulande besser unter dem Originaltitel 13 Reasons Why bekannte Suizid-Jugenddrama, ist dem Film diese Vorerfahrung Alvarez' anzumerken.

Denn was sich zunächst anschickt, ein Mond-Roadmovie-Abenteuer mit einer Kinder-Chaotengruppe zu werden, das bei Die Goonies abschaut, enthüllt sich schnell als wesentlich sanfter, introspektiver und melancholischer. Die eingeschworenen Freunde und ihre neue Bekannte bemühen sich auf ihrer Reise, unbeschwerte Spielereien loszutreten. Aber immer wieder wird ihr Streben nach Spaß und Freude unterbrochen. Zuweilen durch die Gefahren ihrer Umgebung, aber viel häufiger dadurch, dass sich beim Rumblödeln und in Gesprächen die seelischen Narben dieser Jugendlichen offenbaren.

Denn die Mondjungs sind das Produkt eines kaputten Systems: In der Schule erhalten sie keine den Geist fördernde Allgemeinbildung, sondern werden schlicht zu effizienten, unkritischen Arbeitskräften erzogen. Zu Arbeitskräften, die sich für den Luxus anderer kaputtackern und ihren Kindern zwangsweise vor allem Schwermut und Zorn vermachen, anstelle einer besseren Zukunft. Addison derweil ist voller Wehmut, weil sie die Erde verlassen musste und in ihren jungen Jahren bereits viel Zurückweisung zu verarbeiten hatte.

John Griffin lässt die dystopischen Abläufe auf dem Mond vornehmlich im Hintergrund, allerdings wirken sie sich konsequent auf das Seelenleben der jungen Hauptfiguren aus. Es ist eine unmissverständliche, dennoch nie klobige Herangehensweise, um Sozialkritik zu üben und zugleich die Figuren mit (tristem, Empathie weckendem) Leben zu füllen. Alvarez setzt dies feinfühlig sowie melancholisch um, ohne durch diesen Kummer die Freude zu übertönen, die sich die Figuren durch ihr Abenteuer wenigstens phasenweise erkämpfen. Crater ist somit ein Film, der überzeugend den Wert der kleinen Funken Glück, Hoffnung und Zusammenhalt in einem sorgenreichen Dasein ausbreitet, ohne ein filmisches "Wenigstens hattest du etwas Freude, also beschwer dich nicht!"-Opiat zu werden.

Dass Crater nach einer kurzen Introsequenz eine Rückblende und dann eine Rückblende innerhalb einer Rückblende aufweist, noch bevor Alvarez die inszenatorische Sprache des Films komplett skizzieren kann, sorgt für einen etwas holprigen Start. Und eine Budgetspritze hätte den digitalen Tricks, und somit der Immersion, die von der Filmwelt ausgeht, durchaus gut getan. Aber das ändert nichts daran, dass sich dieses Sci-Fi-Abenteuer dank des nachdenklichen Skripts, der glaubhaften Performances des authentisch interagierenden Casts und der besonnenen Inszenierung zu einer einfühlsamen Erzählung entwickelt.

Genauer gesagt zu einer traurig-schönen Erzählung über Ungerechtigkeit, die Flecken, die bereits junge Menschen auf ihrer Seele tragen, Verlust und Abschied. Das Finale hat mich mit voller Tränen zurückgelassen und ich hoffe sehr, dass auch ihr die Gelegenheit erhalten werdet, Crater zu gucken.