Freitag, 20. Januar 2023

Oscars 2023: Meine Prognose für die Nominierungen bei den 95. Academy Awards


Die Academy Awards bleiben auch in der Saison 2022/2023 ein undurchsichtiger Mischmasch aus offensichtlichen Antworten und Unberechenbarkeiten. Nach zwei stark von der Pandemie beeinflussten Jahren ist dieses Mal vor allem ein Element für meine Verwirrung zuständig: Zwiegespaltener Diskurs!

Babylon etwa hat zwar viele negative Kritiken und ein desaströses US-Einspielergebnis, doch diejenigen, die ihn lieben, lieben ihn. Sind genug Leute von diesem Schlag in der Academy, um ihm Nominierungen zu sichern? Top Gun: Maverick ist ein sehr gut gemachter, aber inhaltlich total normaler Action-Blockbuster - reicht das dieses Jahr aus, um die Academy in einen ähnlichen Taumel der Begeisterung zu versetzen wie die US-Presse, große Teile der internationalen Presse und das zahlende Publikum?

Everything Everywhere All at Once würde in jedem anderen Jahr als "zu schräg für die Academy" abgetan, aber reichte das monatelange Dauerfeuer an Hype seitens Filmfans und der Presse aus, um im Zusammenspiel mit der Verjüngung der Academy doch mehrere Nominierungen herbeizuwillen? 

Egal, wie es kommt: Am Ende wird es heißen "war doch klar!" Babylon, Top Gun: Maverick und Everything Everywhere All at Once sind drin? "Klar, deren Fans sind doch so vehement!" Sie werden aus dem Rennen ausgeschlossen? "War doch klar: Zu kontrovers, zu tumb, zu schräg!" 

Und was ist mit Die Fabelmans, einem Film, den viele als sichere Bank sahen, der in seinen ersten Schüben der Veröffentlichung auch viel und positiv diskutiert wurde, dann an den US-Kinokassen unterging und in der Industrie wenig besprochen wurde, bevor er gegen Ende der Nominierungs-Votingphase wieder an Fahrt zulegte, etwa durch die auf einmal wieder beachteten Golden Globes?

Ich bin sehr gespannt, was uns am Dienstag erwartet. Meine Vermutungen besagen, dass es folgendes Feld sein wird:

Bester Animationsfilm
  • Guillermo del Toro's Pinocchio
  • Der kleine Nick
  • Marcell the Shell with Shoes On
  • Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch
  • Rot
Bestes adaptiertes Drehbuch
  • Im Westen nichts Neues, Edward Berger, Lesley Paterson & Ian Stokell
  • Glass Onion, Rian Johnson
  • Living, Kazuo Ishiguro
  • The Whale, Samuel D. Hunter
  • Die Aussprache, Sarah Polley
Bestes Original-Drehbuch
  • Aftersun, Charlotte Wells
  • The Banshees of Inisherin, Martin McDonagh
  • Everything Everywhere All at Once, Daniel Kwan & Daniel Scheinert
  • Die Fabelmans, Steven Spielberg & Tony Kushner
  • Tár, Todd Field
Beste Kamera
  • Im Westen nichts Neues, James Friend
  • Elvis, Mandy Walker
  • Empire of Light, Roger Deakins
  • Nope, Hoyte Van Hoytema
  • Top Gun: Maverick, Claudio Miranda
Beste Kostüme
  • Babylon, Mary Zophres
  • Black Panther: Wakanda Forever, Ruth E. Carter
  • Elvis, Catherine Martin
  • Mrs. Harris und ein Kleid von Dior, Jenny Beavan
  • The Woman King, Gersha Phillips
Bester Schnitt
  • Avatar: The Way of Water, David Brenner, James Cameron, John Refoua & Stephen E. Rivkin
  • Babylon, Tom Cross
  • Elvis, Jonathan Redmond & Matt Villa
  • Everything Everywhere All at Once, Paul Rogers
  • Top Gun: Maverick, Chris Lebenzon & Eddie Hamilton
Bestes Produktionsdesign
  • Avatar: The Way of Water, Dylan Cole, Ben Procter & Vanessa Cole
  • Babylon, Florencia Martin & Anthony Carlino
  • Elvis, Catherine Martin & Karen Murphy
  • Die Fabelmans, Rick Carter & Karen O'Hara
  • Glass Onion, Rick Heinrichs
Bester Dokumentarfilm
  • All that Breathes
  • All the Beauty and the Bloodshed
  • Fire of Love
  • Moonage Daydream
  • Navalny
Bester Doku-Kurzfilm
  • The Elephant Whisperers
  • The Flagmakers
  • Holding Moses
  • How Do You Measure a Year?
  • 38 at the Garden
Bester internationaler Film
  • Argentina, 1985, Argentinien
  • Im Westen nichts Neues, Deutschland
  • Close, Belgien
  • Die Frau im Nebel, Südkorea
  • EO, Polen
Bestes Makeup & Hairstyling
  • Babylon
  • The Batman
  • Black Panther: Wakanda Forever
  • Elvis
  • The Whale
Beste Filmmusik
  • Babylon, Justin Hurwitz
  • The Banshees of Inisherin, Carter Burwell
  • Die Fabelmans, John Williams
  • Guillermo del Toro’s Pinocchio, Alexandre Desplat
  • Die Aussprache, Carter Burwell
Bester Song
  • Lift Me Up aus Black Panther: Wakanda Forever
  • Til You're Home aus Ein Mann namens Otto
  • Naatu Naatu aus RRR
  • Applause aus Tell It Like A Woman
  • Hold My Hand aus Top Gun: Maverick
Bester Animations-Kurzfilm
  • The Boy, the Mole, the Fox and the Horse
  • The Flying Sailor
  • My Year of Dicks
  • New Moon
  • An Ostrich Told Me the World Is Fake and I Think I Believe It
Bester Kurzfilm
  • An Irish Goodbye
  • Le Pupille
  • Nakam
  • The Red Suitcase
  • Warsha
Bester Ton
  • Im Westen nichts Neues
  • Avatar: The Way of Water
  • Babylon
  • Elvis
  • Top Gun: Maverick
Beste Effekte
  • Avatar: The Way of Water
  • The Batman
  • Doctor Strange in the Multiverse of Madness
  • Nope
  • Top Gun: Maverick
Bester Nebendarsteller
  • Brendan Gleeson, The Banshees of Inisherin
  • Barry Keoghan, The Banshees of Inisherin
  • Ke Huy Quan, Everything Everywhere All at Once
  • Paul Dano, Die Fabelmans
  • Eddie Redmayne, The Good Nurse
Beste Nebendarstellerin
  • Kerry Condon, The Banshees of Inisherin
  • Jamie Lee Curtis, Everything Everywhere All at Once
  • Stephanie Hsu, Everything Everywhere All at Once
  • Hong Chau, The Whale
  • Jessie Buckley, Die Aussprache
Spätestens durch ihren Globe-Gewinn und ihre Nominierung bei den SAG Awards nehmen immer mehr Oscar-Expert:innen Angela Bassett mit in ihre Prognose auf. Doch ich kann mir nicht helfen: Weder Black Panther noch Avengers || Endgame haben es geschafft, eine erste MCU-Schauspiel-Nominierung zu bewerkstelligen.
Also lässt sich sagen, dass die Academy in Sachen Schauspielwürdigung nicht an das MCU denkt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Film, dessen Blockbusterbuzz von Avatar: The Way of Water weggewalzt wurde, da groß was ändern wird. Zumal die Academy-Mitglieder, die etwas außerhalb des Rahmens denken schon ihr Stimmgewicht hinter Everything Everywhere All at Once werfen müssen...

Beste Hauptdarstellerin
  • Ana de Armas, Blonde
  • Michelle Yeoh, Everything Everywhere All at Once
  • Cate Blanchett, Tár
  • Danielle Deadwyler, Till
  • Viola Davis, The Woman King
Die vernünftige Prognose wäre, Michelle Williams für Die Fabelmans anstelle von Ana de Armas vorherzusagen: Die Academy liebt gut zusprechende Mutterfiguren, Steven Spielberg und Michelle Williams! Aber: Williams wurde nicht für den SAG Award nominiert, also den Preis der Schauspielgilde! Und selbst wenn SAG und die Academy Awards in dieser Kategorie nicht immer deckungsgleich sind, gehe ich dieses Jahr einfach diesen Weg.

Die jüngere, internationalere Zusammensetzung der Academy lässt sich, so meine Vermutung, eher auf den umstrittenen Blonde ein. Wir werden es sehen...

Bester Hauptdarsteller
  • Paul Mescal, Aftersun
  • Colin Farrell, The Banshees of Inisherin
  • Austin Butler, Elvis
  • Bill Nighy, Living
  • Brendan Fraser, The Whale
Beste Regie
  • James Cameron, Avatar: The Way of Water
  • Martin McDonagh, The Banshees of Inisherin
  • Daniel Kwan & Daniel Scheinert, Everything Everywhere All at Once
  • Steven Spielberg, Die Fabelmans
  • Todd Field, Tár
Bester Film
  • Im Westen nichts Neues
  • Avatar: The Way of Water
  • Babylon
  • The Banshees of Inisherin
  • Elvis
  • Everything Everywhere All at Once
  • Die Fabelmans
  • Tár
  • Top Gun: Maverick
  • The Whale
Kürzlich sicherte sich Im Westen nichts Neues satte 14 Nominierungen bei den BAFTAs - und da beide Akademien einige Überschneidungen in der Zusammensetzung haben, halte ich es also für sehr wahrscheinlich, dass Deutschland einen Film im "Bester Film"-Oscar-Rennen stellen wird. Kurios, dass aus dem Land des ständig selbstgeißelnden "Wir können keine guten Filme!"-Aufrufs bislang so wenig Begeisterung über das Awards-Abschneiden, ach, über den Film generell zu vernehmen war.

The Whale hat zwar abseits Brandan Frasers Performance eher für zwiegespaltene Reaktionen gesorgt, aber ab und zu ist der Academy sowas egal. Und: Filme mit einer lautstark zelebrierten männlichen Performance rutschen üblicherweise auch ins Rennen um diese Kategorie.

Dass Top Gun: Maverick letztlich nicht nominiert wird, halte ich für wahrscheinlicher als wohl viele Oscar-Tippspielende. Doch dieses Oscar-Rennen ist so kurios, ich möchte keinen als sicher geltenden Tipp für ein törichtes Wagnis abgeben, also behalte ich den Mega-Blockbuster in meiner Vorhersage. Aber sollte er oder ein anderer Titel rausfliegen und dafür Glass Onion reinkommen, ich wäre nicht erstaunt.

Sonntag, 8. Januar 2023

Meine liebsten Musical-Einlagen 2022

Ich liebe Musicals, und ich habe oftmals diebischen Spaß daran, wenn sich Non-Musicals kurzzeitig in die kinetische Welt des Gesangs und Tanzes stürzen. Daher möchte ich die lange, lange Wartezeit zwischen meiner Flopliste 2022 und meinen noch ausstehenden Tops überbrücken, indem ich hier meine liebsten Musik-und-Tanz-Sequenzen 2022 zelebriere. 

Bevor ich zu den Top 10 komme, erst einmal in beliebiger Reihenfolge ein paar artverwandte Szenen, die es mir ebenfalls angetan haben. In Baz Luhrmanns rauschhaftem Biopic Elvis stechen vor allem die Performance von Trouble, die Elvis' rebellisches Naturell unterstreicht, Suspicious Minds, das er in Las Vegas in einer Szene singt, während seine Missachtung für seinen Manager wächst, und die Gänsehaut-Darbietung von Unchained Melody heraus. Jedoch sind es streng genommen keine Musical-Einlagen, sondern schlicht und ergreifend Bühnenauftritte in einem Film über einen Musiker. 

Tonal und inszenatorisch ganz anders, allerdings aus demselben Grund kein Musical, ist die Netflix-Komödie Metal Lords, die für mich eine der freudigsten Überraschungen des Jahres war: Inszeniert von Peter Sollett (Nick und Norah – Soundtrack einer Nacht) und geschrieben von D. B. Weiss (Game of Thrones) dreht sich der Film um eine Außenseitertruppe, die durch ihre Liebe (oder neu gefundene Begeisterung) zum Metal zusammengeschweißt wird. Die Komödie hat Charme und Witz, mutet ein bisschen so an, als hätte man einen Disney-Teenie-Film oder einen School of Rock-Trittbrettfahrer genommen und mit ein paar Kanten und sexuellen Anspielungen gewürzt, ohne dabei unnötig zu übertreiben. Emma.-Nebendarstellerin Isis Hainsworth kann hier gehörig auftrumpfen und die Performances der Band, inklusive des Originalsongs Machinery Of Torment, können sich echt hören lassen!

Auch im Kino gab es eine fiktive Band zu sehen, die fetzt: Die Dramödie Alle für Ella mit Lina Larissa Strahl über drei Freundinnen, deren Beziehung zueinander durch sich unterscheidende Karrierebestrebungen bedroht wird, hat sogleich mehrere stimmige Originalsongs zu bieten. Der beste ist der auch in der Promo zum Film viel verwendete, bittersüße Meine Fehler, der Dickköpfigkeit, die Lust, aufzubrechen, und einen Hauch Reue vereint.

Um aber endlich zu Musicaleinlagen zu kommen: Das märchenhafte Abenteuer Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch sieht nicht bloß atemberaubend aus, sondern beginnt auch mit einer peppigen, etwas monotonen, aber dadurch auch irgendwie verwunderlich-humorvollen, selbstbeweihräuchernden Musicaleinlage darüber, wie toll, beliebt und furchtlos der Titelheld doch ist. Die Szene macht Spaß, ging mir dann für einen Zeitraum von vielleicht 15 Sekunden zu lang und danach dachte ich nur noch "Oh, das kann noch stundenlang so weitergehen". Es ist kein Song, den ich mir vom Film losgelöst häufig anhören würde, aber ich denke gern an die Szene zurück (und an den grandiosen Film insgesamt sowieso).

Und Verwünscht nochmal hat mich zwar mit seiner laschen Gagdichte, ernüchternden Charakterzeichnung und steifen Inszenierung ziemlich enttäuscht (lang erwartete, direkt auf Disney+ geparkte Sequels hatten 2022 ein Murks-Jahr). Aber: Das musikalische "Ich bin besser darin, böse zu sein, als du"-Duell zwischen Amy Adams und Maya Rudolph hat mich kurzzeitig davon träumen lassen, dass eine gelungenere Version des Films möglich war.

Tja, und wenn ich aktuell Apple TV+ hätte, könnte ich auch sagen, ob eine Szene aus Spirited in meinem Ranking wäre. Aber da dem nicht so ist, geht's nun halt endlich mit meinen Top 10 los. Und in Anlehnung an meine früheren Filmsongs-Rankings hier im Blog (und um keinen Überdruss an Songs aus einem einzigen Film zu haben), gilt: In die Top 10 darf nur eine Musicaleinlage pro Film! Doch ich lasse euch hie und da wissen, welche anderen Songs ich mochte, wenn es sich denn anbietet...

Platz 10: Big Time aus Bühne frei für Nate

Disney hat leider vorerst seinen King of Camp an Netflix verloren. Aber nimmt man Disney einen Kenny Ortega weg, und gibt ihm bei der Konkurrenz einen Exklusivvertrag, dann wachsen zwei Camp-Kronprinzen nach: Paul Hoen schickt sich mit seiner Z-O-M-B-I-E-S-Saga an, die quirlig-stolze, bunt-schräge Seite Ortegas im Maus der Haus aufrecht zu halten. Cocktailbuchautor Tim Federle wiederum führt nicht nur mit High School Musical: Das Musical: Die Serie Ortegas inhaltliches Erbe fort, sondern inszenierte mit der Disney+-Adaption seines eigenen Bühnenstücks Bühne frei für Nate die Art Film, die Ortega sicher schon längst für Disney gemacht hätte, wäre die Zeit früher reif gewesen: Ein musicalbegeisterter Junge dampft abrupt ab nach New York, um bei einem Broadwaymusical vorzusprechen. Was daraus entsteht, hat die "Kind in der großen Stadt"-Energie früherer Disney Channel Original Movies, gefilmt mit der Größe einer 2000er-Jahre-Disney-Familienomödien-Kinoproduktion. Doch: Halt!

Titelheld Nate und seine beste Freundin haben keinen romantischen Subplot, sondern eine "Sie glaubt, wenn man so eng miteinander ist, müsste da vielleicht Interesse füreinander bestehen, weil, so läuft das doch...(?) während er sich einen Ruck gibt und ein Regenbogenglücksarmband kauft"-Randgeschichte. Ein kurzweiliger Disney-Film, der seine Begeisterung für Bühnenmusicals verinnerlicht hat, aber ähnlich verstohlen-impulsiv zeigt wie Nate zum Verkaufsstand stürmt, um sich sein Armband zu holen: Die meisten Musikeinlagen sind eher kontemporär-social-media-tauglich, was Federle authentisch ins Geschehen einbindet, statt anbiedernd. Dennoch schlägt mein Herz am lautesten, wenn es altmodisch in einer "I Want It All aus High School Musical 3: Senior Year"-esken Traumsequenz auf die Bretter geht, die die Welt bedeuten.

Platz 9: One Way or Another aus Hocus Pocus 2

Habe ich schon gesagt, dass ich Kenny Ortega vermisse? Hocus Pocus 2 führt nahezu konstant vor, dass der Choreograf und Regisseur eine prägendere Handschrift hat, als man ihm gemeinhin zumuten würde. Aber wenigstens der obligatorische Versuch, die I Put a Spell on You-Sequenz aus dem Original zu kopieren, macht was her. Die Magie konnte nicht wiederholt werden, aber hier ist wenigstens ein Funken munter-spritziger Zauber versteckt, der dem restlichen Sequel praktisch durchweg fehlt.

Platz 8: Rip up the Recipe aus Lyle - Mein Freund, das Krokodil

Ein super-knuffiges Krokodil, das singen und tanzen kann, freundet sich mit einer etwas chaotischen Familie an: Fertig ist Lyle - Mein Freund, das Krokodil, ein Wohlfühl-Familienmusicalspaß mit Songs aus der Feder der Greatest Showman-Songwriter Benj Pasek & Justin Paul, unter Mitwirkung von Sänger (und Lyle-Originalstimme) Shawn Mendes. Ein harmloser, angenehmer Film, dessen Songs mir jedoch zumeist zu selbstständig-poppig sind. Als wären die potentiellen Spotify-Abrufzahlen wichtiger gewesen als ihre Integration in die Storyline. Rip up the Recipe ist die güldene Ausnahme (und im Film noch länger und pfiffiger als der obige Clip): Lyle bricht das Eis zur verschreckten Mutter des Hauses, indem er sie anregt, ihre Liebe zur Koch- und Backkunst wiederzufinden und abseits der Küche frohen, munteren Hobbys nachzugehen. Ein Sonnenstrahl von einer Szene!

Platz 7: Allein Allein aus Träume sind wie wilde Tiger

Nach Einsamkeit und Sex und Mitleid geht Lars Montag rüber ins Familienkino und inszeniert eine bunte Musicalkomödie voller Songs des Bibi & Tina-Teams Peter Plate & Ulf Leo Sommer. Der Ohrwurm Das Leben ist wie Mathematik, die Musiksehnsuchtsnummer Wenn ich sing und der Titelsong Träume sind wie wilde Tiger blieben mir in Erinnerung. Doch Allein Allein ist die für mich beste Kombination aus Lied und dazugehöriger Szene (die im Film auch wieder länger geht als der obige Clip). Mit Michel-Gondry-Touch sehen wir unsere Hauptfigur Ranji beim Musikvideodreh. Kreativ, verspielt, einfach hübsch: Noch ein Sonnenstrahl von einer Szene!

Platz 6: Clown Café aus Terrifier 2

Apropos froh und munter: Terrifier 2! Der absurde 139 Minuten lange, in feister Mitternachts-Sonderschiene-Logik operierende Slasher pausiert das Morden und Quälen für eine Traumsequenz, die zugleich mehrere Funktionen erfüllt. Sie diente zumindest mir als Irreführung, weil ich überzeugt war, dass sie jeden weiteren Kill des Films bitter-ironisch vorbereitet, was nicht in der von mir erwarteten Weise erfolgte. Sie bereitete aber sehr wohl spätere narrative Entwicklungen vor. Und sie gibt Regisseur Damien Leone ein Sprungbrett, um in diesem XXL-Schundkinoexzess sein Publikum minutenlang zu trollen. Naja, nicht sein komplettes Publikum, denn so Dödel wie ich sitzen fröhlich wippend vor der Kinder-TV-Gesang-Hommage und grinsen sich wund, statt sich zu wundern, geschweige denn zu langweilen. Für mich eine der Top-3-Szenen in diesem Film, der schon ganz allein ein knackiges Grindhouse-Double-Feature ergibt.

Platz 5: Someone to Say aus Cyrano

Wunderschöne Kostüme, bildhübsche Schauplätze und betörend-schmachtende Figuren: Joe Wrights Cyrano ist eine liebevolle Adaption des oft kopierten, adaptierten und neu interpretierten Cyrano de Bergerac-Stücks. Leider, leider, leider zündet bei mir nur selten die Musik, was in einem Musical nicht gerade ideal ist. Mit seinem verträumten Tanz durch Unmengen an Statist:innen und Drehorten, die UNESCO-Welterbe sind, ist Someone to Say trotzdem eine fabelhafte Szene. So fabelhaft, dass ich zwischendrin glatt vergesse, wie wenig mich der Song beeindruckt, und einfach nur mitschwärme.

Platz 4: Naatu Naatu aus RRR

Die zumindest in meinen filmaffinen Sphären am meisten hochgejubelte Musikeinlage des Filmjahres ist ein kräftiger Endorphinstoß mit einer einprägsamen Choreografie. Die drei Rs des Films, die Hauptdarsteller Rama Rao und Ram Charan sowie Regisseur S. S. Rajamouli, toben sich hier munter aus. Und daher gönne ich Naatu Naatu seinen Jubel. Aber er lässt mich auch etwas verwundert zurück, denn es ist für mich einfach "nur" eine echt gute Musik-und-Tanz-Einlage (lasst euch von meinem Begleittext zu Rang 5 nicht in die Irre führen, diese Top 10 lässt mein Filmherz höher schlagen, da ist Platz vier kein Trostpreis). Es ist für mich nicht, wie gemeinhin getan wird, ein positiver WTF?!-Moment, ein cineastischer Triumph oder gar die beste Filmsequenz des Jahrtausends. Naja, lieber verwunderlich viel Liebe, als dass onlinefilmdiskurstypisch alles übertrieben verrissen wird. Schmeißt das Genörgel über Bord und let's dance!

Platz 3: Anders ist gut aus Bibi & Tina: Einfach anders

Es gibt sie, diese Sequenzen, in denen ein nicht für den Film geschriebenes Lied durch geschickten Einsatz einen Film aufwertet und so sehr mit ihm verschmilzt, dass man schwören könnte, der Song sei für ihn geschrieben worden. Singin' in the Rain etwa wurde nicht für Singin' in the Rain verfasst, dennoch ist es der Einsatz in dieser Regiearbeit von Gene Kelly und Stanley Donen, der aus dem Musicallied einen Evergreen gemacht und den Film entscheidend mitgeprägt hat.

Nun mag es vermessen klingen, Anders ist gut respektive Bibi & Tina: Einfach anders mit Singin' in the Rain zu vergleichen, dennoch greifen ähnliche Argumente, selbst wenn in einer anderen Güteklasse: Das Lied Anders ist gut von Ulf Leo Sommer und Peter Plate wurde zuerst von Schlagersängerin Michelle veröffentlicht, ist in dieser Fassung aber diplomatisch gesagt nicht mein Fall. Die vom Bibi & Tina: Einfach anders-Cast eingesungene Version wiederum rundet (in einem Film voller Originalkompositionen) das kunterbunte, lebensfrohe Familienmusical nicht bloß thematisch ab. Sie klingt auch wenigerschmalzig, überzeugt mehr als ehrlich-munteres Lied über Selbstbewusstsein, Individualität und Zusammenhalt, und pusht somit den Film insgesamt noch einmal kurz vor Schluss. Simpel, aber effektiv.

Notiz am Rand: Auch die Originalsongs aus Einfach anders haben es mir nahezu durchweg angetan. Hallo Hallo ist ein absoluter Ohrwurm und die dazugehörige Szene buckscher Zuckerschock der Extraklasse (und war nach meinem ersten Anschauen des Films mein Favorit unter den Originalsongs), Bisschen kuscheln selbstironisch-und-dennoch-nicht-selbstdementierend harmonisch, Nein Danke ein wundervoller Unfug-Protestsong (und nach Runde zwei mein Liebling), Baby eine pfiffige Parodie selbstzentrischer Prahlsongs (wie sie nunmehr gerne bei der Teenie-Zielgruppe viral gehen), Lass es Kartoffeln regnen spricht wohl für sich, Liebe muss fliegen wirkt als Szene etwas gedrosselt (da wäre in Teil eins bis drei sicher mehr bei rausgesprungen), ist aber als Lied ein weiterer Ohrwurm, und V. Arscher ist im Moment mein Favorit unter den Originalsongs.

Platz 2: Alien Invasion aus Z-O-M-B-I-E-S 3

Das Finale der Disney-Musical-Trilogie Z-O-M-B-I-E-S ist wohl meine filmische Enttäuschung des Jahres: Gemessen an meinen Hoffnungen und Erwartungen hat mich die neuste Geschichte von Cheerleader-Mädchen Meg und Zombie-Quarterback Zed sehr ernüchtert zurückgelassen. Z-O-M-B-I-E-S 3 ist in meinen Augen keine Graupe, jedoch verzettelt er sich wiederholt und teilt sich seine Energien hinsichtlich Dramatik, Hibbeligkeit und Humor sehr ungleichmäßig ein. 

Doch der Filmbeginn ist mir prägnant in Erinnerung geblieben, inklusive des den Plot in Gang setzenden Songs Alien Invasion. Während dieser Nummer wurden bei mir Hoffnungen wach, Disney ließe Regisseur Paul Hoen von der Leine und gestatte ihm, quasi ein Disney-Repo! The Genetic Opera raushauen: Laut, schrill, sozusagen poppig-opernhaft beginnt Z-O-M-B-I-E-S 3 als EDM-Disney-Pop-Familienmusical, das sich mit beiden Händen an der Ikonografie von Genre-Comics, 50er-Sci-Fi und 30er/40er-Gruselfilmen bedient, gefiltert durch kinderfreundliche Kaugummiverpackung-Grafik, angereichert mit Selbstironie und mindestens einen Dreiviertelliter Energy Drink. Vielleicht traut sich Disney eines Tages, einen Film zu machen, der durchweg die Power dieser Musicaleinlage aufrecht erhält. Ich wäre Fan, ach was, Überfan!

Die weiteren Songs des Films sind stellenweise Mitgrund, weshalb Z-O-M-B-I-E-S 3 als Film nicht höher in meiner Gunst steht, aber Ain't No Doubt About It ist als Song und Szene schön-neckischer Disney-Teenie-Camp

Platz 1: Revolting Children aus Roald Dahls Matilda - Das Musical

Pride-Regisseur Matthew Warchus inszenierte am Londoner West End eine ungeheuerlich erfolgreiche und vielfach prämierte Bühnen-Musicalfassung von Matilda, dieses Jahr brachte er das Theaterstück auf die Leinwand (etwa in Großbritannien), respektive direkt zu Netflix (etwa in Deutschland). Dabei herausgekommen ist ein kreativer Film, der seine Vorlage und dessen Vorlage respektiert, sich jedoch nicht zwanghaft an ihnen klammert, sondern wiederholt eigene Wege geht, um sich seinem Medium anzupassen. Zwar finde ich Warchus' Roald Dahls Matilda - Das Musical ein wenig überdehnt, trotzdem ist es ein einfalls- und energiereicher Film mit starkem Cast und zahlreichen denkwürdigen Nummern

Die Szene des Films schlechthin ist für mich die vorletzte Gesangs- und Tanzeinlage, das befreiende und kraftvolle Revolting Children, in dem die unterjochten Schüler:innen geschlossen aufbegehren und singend, tanzend, revoltierend für ihr Recht einstehen, jung, wild und experimentierfreudig zu sein.

Warchus warf den gesamten Film über die Bühnenchoreografie aus dem Fenster, um die Lieder aus dem Bühnenstück reif für die Kamera zu machen, und für die Revolting Children-Sequenz hatte seine Choreografin Ellen Kane zwei Wünsche. Erstens: Der mit 300 (!) Tänzer:innen gedrehte Aufstand der Kinder sollte gleichberechtigt von einem Jungen und einem Mädchen angeführt werden. Zweitens: Die ganze Szene sollte sich so anfühlen, als würde ein Staudamm brechen und daraufhin eine Flut die Schule überrollen. Warchus folgte Kanes Wunsch und so schufen sie die beste Musicalszene des Jahres, mit großem Abstand! 

Die Tanzschritte und akrobatischen Einlagen sind atemberaubend, die Kamera hält mit den losgelösten Kindern Schritt, gleichzeitig sorgt ein vergleichsweise gezügelter Schnitt dafür, dass wir das Spektakel auf uns wirken lassen können, es uns förmlich wegspült, statt dass es ein Schnittgewitter davon ablenkt. Der temporeiche, beschwingte und ebenso gewitzte wie triumphal-aufstachelnd Song entwickelt daher förmlich Signalwirkung, ist die Krönung des vorangegangenen Films und führt einen Großteil der Geschichte zu einem emotional höchst befriedigenden Abschluss.

Und ja, die Sequenz hat Meesha Garbett zur TikTok-Ikone gemacht, aber im Gegensatz zu gewissen anderen TikTok-Ereignissen 2022 mit Filmbezug lässt mich das nicht ratlos zurück. Im Gegenteil: Garbett haut hier eine wuchtige Performance raus und gibt der Sequenz einen zusätzlichen Pepp. Dass sie via TikTok Millionen von (oft jungen) Menschen ordentlich einheizt, sei ihr vergönnt und bestätigt die Wirkung dieser Szene. Revolting Children - das Highlight des Films, ein Highlight des Filmjahres 2022 und ich wage die Prognose: Ein filmischer Höhepunkt, der noch lange nachwirken wird!