Mittwoch, 28. Dezember 2022

Die schlechtesten Filme 2022

Immer mehr Filmschaffende und Mitglieder der Filmpresse lassen kein gutes Haar an Floplisten. Nachvollziehbar, denn seit popkulturelle Diskussionen in den sozialen Netzwerken im Sekundentakt in Geschrei und Gebrüll ausarten, ist der Diskurs über Kunst, Unterhaltung und unterhaltende Kunst verpestet. Dennoch halte ich vorerst an meiner hier Tradition des negativen Jahresrückblicks fest.

Einfach, weil ich es wertvoll finde, als Gegengewicht zu meinen filmverliebten Texten und Rankings in Erinnerung zu rufen, bei welchen Filmen ich ratlos oder gar grantig zurückgeblieben bin. Es braucht ja Schatten, um das Licht zu würdigen; wer nur lobt, dem glaub man's irgendwann nicht; yada yada. Man muss dabei ja nicht übermäßig beleidigend werden. Es geht darum, das Bild zu vervollständigen.

Und vielleicht, aber nur vielleicht, findet ihr in dieser Hitliste sogar Titel, auf die ihr neugierig werdet, weil ihr erahnt, sie mehr zu mögen als ich?


Platz 10: Hocus Pocus 2 (Regie: Anne Fletcher) und Das Versteck (Regie: Pascual Sisto)

Eröffnen möchte ich die Retrospektive der negativen Filmgefühle mit einem ungleichen Doppel: Ich liebe Hocus Pocus und bin mit meinem Kaufverhalten sozusagen Mitschuld daran, dass es einen zweiten Teil gibt. Doch beim Anblick von Hocus Pocus 2 habe ich mich gefühlt, wie ich mir vorstelle, was in denjenigen vorgegangen sein muss, die dem Original damals Verrisse verpasst haben:
Ich fand die jugendlichen Figuren weitestgehend egal, das Drehbuch zäh und unlustig und den Look des Sequels schäbig. Es hat zwar eine meiner liebsten Musikeinlagen des Filmjahres, aber sie überschattet den gesamten Rest des Films, dem einfach die Kenny-Ortega-Campiness fehlt.

Bei diesem Sequel bin ich überzeugt: Es ist sein Problem. Ich glaube, dass das zentrale Hexen-Trio engagiert war, in seiner Gesamtheit wirkt die Fortsetzung auf mich aber wie etwas, das mit der Haltung "Disney+ braucht einen neuen Exklusivfilm, hier, hau mal was raus" angegangen wurde. Ich war ein einfaches Ziel für diesen Film, und dennoch hat er meilenweit an mir vorbeigeschossen.

Das Versteck habe ich bereits 2021 unter dem Originaltitel John and the Hole im Rahmen des Fantasy Filmfests auf der großen Leinwand gesehen, und ich habe mich im anschließenden Gespräch mit anderen Besucher*innen wie im falschen Film gefühlt: Ich fand die Geschichte eines Teenagers, der seine Familie in einer Grube im benachbarten Wald gefangen hält, gähnend langweilig, affektiert gespielt und so tiefgreifend wie die Eintrittskarte, die ich für ihn gelöst habe.

Aber alle, mit denen ich sprach, waren begeistert. Und auch mein geschätzter Filmstarts-Kollege Oliver Kube hat eine schön geschriebene Lobesrede auf den Film verfasst, die mich an mir zweifeln lässt. Habe ich denselben Film gesehen? Es muss ein "Ich-Problem" sein, ich bin unfähig, die richtige Wellenlänge für diesen Film zu finden. Trotzdem hat mich dieser metaphorische Thriller so genervt, es wäre verlogen gewesen, ihn aus meiner Flopliste rauszuhalten. Ihr da draußen, derweil: Hört eher auf Oliver als auf mich.

Platz 9: Liebesdings (Regie: Anika Decker)

Ich drücke Anika Decker die Daumen. Ihr Regiedebüt Traumfrauen ist kurzweilig, ihre Verwechslungskomödie High Society hat mir Spaß gemacht und als Drehbuchautorin verhalf sie sowohl Til Schweiger (Keinohrhasen, Zweiohrküken) als auch Detlev Buck (Rubbeldiekatz) und Karoline Herfurth (SMS für Dich) zu gelungenen Erfolgen. Daher erklärte ich mir die unlustigen Trailer für Liebesdings als Auswüchse eines mies geleiteten Marketings. Dann habe ich den Film gesehen und einer meiner ersten Gedanken war: "Oh, das Marketing war ja noch schmeichelhaft."


Es liegt nicht am Ensemble. Lucie Heinze findet in der Rolle einer feministischen Komikerin eine gute Balance aus quirlig und bodenständig. Denis Moschitto, Peri Baumeister und Alexandra Maria Lara werten praktisch jeden Film auf, in dem sie aufkreuzen. Und Elyas M'Barek habe ich die Rolle eines von der Presse genervten Schauspielers ohne jeden Hauch eines Zweifels abgekauft.


Und Liebesdings hat Momente, die zünden. Etwa, wenn der wie ein Blutsauger gekleidete "Reporter" eines hetzerischen Boulevardblattes, das frappierend an ein reales, leider erfolgreiches Schmierenblatt erinnert, in der Kotze eines Stars rumwühlt, um eine Schlagzeile zu forcieren. Aber: Den Großteil von Liebesdings finde ich einfach stumpf.

Die Dialoge hören sich an wie Platzhalter in einem First Draft, die noch durch geschliffenere Umformulierungen ersetzt werden müssen. Monologe über queere, feministische oder anti-rassistische Belange kommen hier den Figuren nicht authentisch, raffiniert oder peppig von den Lippen, sondern klingen so, wie sich Mario Barth oder Dieter Nuhr wohl fälschlicherweise vorstellen, wie das Stand-up in der Die Caroline Kebekus Show sein könnte. Die Liebesgeschichte in diesem Film zündet nicht, die Figurenentwicklung ist irritierend-sprunghaft.

Alles in allem wirkt Liebesdings so, als hätte Bora Dagtekin im Das perfekte Geheimnis-Mindset anonym Reshoots bewerkstelligt und so Decker ihren Film weggenommen. Mich würde brennend ein ehrliches Making of dieser Komödie interessieren, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Deckers ursprüngliche Vision abbildet. Falls doch: Naja, wir alle haben mal ein Formtief. Nächstes Mal sitze ich wieder erwartungsvoll im Kino.

Platz 8: Falling for Christmas (Regie: Janeen Damian)

Ich habe Sympathie für Lindsay Lohan übrig und angesichts dessen, wie gut sie spielen kann, wenn sie in der Spur ist und das richtige Projekt gefunden hat, gönne ich ihr ein Comeback. Doch Falling for Christmas ist gleichzeitig ein Schritt nach vorne und ein Schritt zurück: Verkrampft inszeniert, klischee- und sprunghaft geschrieben und von mehreren ihrer Co-Stars mies gespielt, kann Lohan aus diesem Netflix-Weihnachtskitsch unmöglich eine Karrierte-Trumpfkarte formen.

Aber sowohl die Kernzielgruppe dieser Wohlfühl-Sinnlosfilme als auch die für die Memes und ironische Freude am Unfug hereinschauenden Nasen sind wohlwollend genug, um Lohan diesen Film nicht vorzuwerfen. Das macht Falling for Christmas trotzdem nicht besser. Aber irgendwo zwischen den miesen Witzen und übertriebenen Gefühlsschwankungen beweist Lohan charmante Selbstironie. Good for her.

Platz 7: Ice Age - Die Abenteuer von Buck Wild (Regie: John C. Donkin)

Animationen, die teilweise auf dem Niveau von Samstagmorgen-Computeranimationsserien vergangener Tage liegen, und viel, viel Leerlauf: Der direkt auf Disney+ rausgehauene Ice Age-Nachklapp Die Abenteuer von Buck Wild ist lieblos, träge und kalt kalkuliert. Donkin und sein Team trifft dabei längst nicht der Großteil der Schuld, wurde dieses Projekt doch einst als Serie entwickelt und nach einer entsprechenden Ankündigung unentwegt klein geschrumpft, bis nur noch ein mickriges Team an ihm tüftelte, das viel zu wenig Arbeitskraft hatte, um ein CG-Projekt in Spielfilmlänge zu stemmen, das versucht, visuell an das Ice Age-Erbe anzuknüpfen. In Sachen Budget wird es nicht anders gewesen sein, und wer könnte unter diesen Umständen schon kreativ aus den vollen Schöpfen?

Einen Trost gibt es allerdings: Nach Die Abenteuer von Buck Wild erschien mit der Kurzfilmsammlung Ice Age: Scrats Abenteuer noch ein Ice Age-Projekt auf Disney+. Und die kompakten Geschichten sind nicht nur viel besser animiert, sondern dienten der Belegschaft von Blue Sky Studios als Abschiedsvorstellung. Mit Passion und Witz zeigen sich Studio und Filmreihe darin noch einmal in Top-Form. Ich gebe zu, ich hatte nicht nur viel zu lachen, sondern gen Schluss auch aufgrund dieser außenstehenden Faktoren feuchte Augen. Ich war nie der größte Ice Age-Fan, aber in seinen besten Momenten war das Franchise sehr vergnüglich. Und Blue Sky hatte es nicht verdient, als Opfer der Disney/Fox-Übernahme einfach so gekillt zu werden.

Platz 6: 13 Fanboy (Regie: Deborah Voorhees)

13 Fanboy versucht, ein inoffizielles Wes Craven's New Nightmare für die Freitag, der 13.-Reihe zu sein: In diesem Meta-Slasher, inszeniert von einer früheren Darstellerin des Franchises, die ironischerweise und tatsächlich Deborah Voorhees heißt, jagt ein maskierter Killer frühere Darstellerinnen der Freitag, der 13.-Reihe. Einzelne Sequenzen in dieser Jason-Voorhees-Hommage sind für einen Direct-to-Video-Schlitzer ganz passabel konstruiert, etwa eine tödlich endende Stunt-Probe. Doch diese wenigen "Och, das ging ja"-Momente trösten nicht über diesen ungeheuerlich hässlich ausgeleuchteten, abartig zäh erzählten Rest dieses Slashers hinweg. 

Platz 5: Brain Freeze (Regie: Julien Knafo)

Ein neuer Turbodünger vergiftet das Wasser in einem geschlossenen, kanadischen Wohnkomplex und verwandelt alle, die es zu sich nehmen, in blutrünstige, zombieähnliche Unholde. Dieser Low-Budget-Partyhorror will mit abstruser Logik und schrillen Figuren ein Vergnügen für die Mitternachtsschiene oder Bier-und-Nacho-Filmabende sein. Gerne, bin ich für zu haben. Aber ich habe mich durch die 91 Filmminuten gequält und war nach ihnen erstaunt, dass es nur 91 Minuten waren. Es fühlte sich an wie eine gesamte Staffel einer belanglosen, lustig gemeinten, drögen Miniserie.

Die guten Gags sind rarer gesät als in einem Mario-Barth-Instagram-Live-Rant, Spannung ist non-existent und die Gewaltspitzen sind matschiges Effektchaos, wenn sie denn irgendwann mal passieren. Hier könnte man irgendeinen schnippischen Spruch über Hirnfrost einsetzen, wäre dies eine Flopliste nach alter Schule. 

Platz 4: The Man from Toronto (Regie: Patrick Hughes)

Sechs Wochen vor Drehstart verließ Jason Statham abrupt The Man from Toronto, laut Berichten des Branchenblogs Deadline Hollywood, weil ihm die eingeschlagene Richtung der Verwechslungs-Actionkomödie missfiel. Hastig wurde Woody Harrelson als Ersatz herangekarrt und so gut den Verantwortlichen möglich auf Statham-Look gestylt. All das ist zehntausendfach spannender als der eigentliche Film, der mit plumper Action, einem stumpf um die Gewaltspitzen herumtänzelndem Schnitt und haarsträubend-lustloser Charakterzeichnung langweilt.

Platz 3: 365 Days: Noch ein Tag (Regie: Barbara Białowąs & Tomasz Mandes)

Na, erinnert ihr euch an 365 Days? Einen dieser Filme, über die Netflix zahlreiche Rekordmeldungen rausgehauen hat und die 2020 für ein paar Wochen großer Streitpunkt in den sozialen Netzwerken war? Die Adaption des ersten Teils einer Erotikromanreihe von Blanka Lipińska war nur der Anfang, auch wenn es vergleichsweise einfach war, das zu versäumen, ließ der Buzz doch von Film zu Film nach! Ich bin aus morbider Neugier allerdings am Ball geblieben, und darf berichten: Das große Finale der Filmtrilogie ist extrem langweilig.

Die Figuren sind in einem paradoxen Irgendwas gefangen zwischen "Sie ändern ihre Ansichten total sprunghaft" und "Aber schlussendlich ändert sich eigentlich nie etwas" (die After-Reihe lässt grüßen), die Popmusik-Einlagen klingen wie schlechte Cover von schlecht abgekupferten Nummern aus der Fifty Shades of Grey-Reihe und der Look ist so passionslos gelackt, dass keine prickelnde Reibung entstehen kann. Und der ganze trashige Sex hat sich hier total abgenutzt, nun werden zumeist unmotiviert Körper aneinander gerieben, ohne irgendwelche Grenzen auszuloten, Figuren damit weiterzuerzählen oder Stimmung zu erzeugen.

Aber eines muss ich Barbara Białowąs & Tomasz Mandes lassen: Sie entwickeln auf der Zielgerade ab und zu Selbstironie, etwa mit einer Traumsequenz, in der sich unsere weibliche Hauptfigur einen Dreier mit den beiden um sie buhlenden Herren herbeiwünscht. Der ist mit einer süffisanten "Komm, hier, das passt noch rein"-Attitüde inszeniert, die ausreichte, um ihn vom Silberrang dieses Countdowns fernzuhalten. 

Platz 2: Jeepers Creepers: Reborn (Regie: Timo Vuorensola)

Was macht man als Studio, wenn man im Fundus eine Horrorreihe hat, deren Monster zu einer kleinen bis mittelgroßen Ikone des Schreckenskinos der 2000er-Jahre geworden ist, doch mehr und mehr Filmfans erkennen: Oh, diese Jeepers Creepers-Filme wurden von Victor Salva gedreht, der zuvor wegen sexueller Misshandlung eines Minderjährigen im Gefängnis saß. Keine Personalie, die man gerne anfeuert, noch dazu, wenn Salva beispielsweise in Teil drei Szenen einbaut, in denen Figuren mit Sexualstraftätern sympathisieren. Nun, man wirft diesen Mann raus und wagt sich an einem Kann-aber-nicht-muss-Reboot:

In Jeepers Creepers: Reborn werden Handlungspunkte aus den Vorgängern referenziert, allerdings wird auch darüber gesprochen, dass der Creeper eine Filmfigur sei, die auf lokalen Legenden basiert. Da darf sich das Publikum seine eigene Distanz zwischen Teil vier und den vorherigen Filmen herbei interpretieren. Klingt erst einmal nicht nach der allerschlechtesten Idee, und Regisseur Timo Vuorensola hat mit Iron Sky bereits eine schmissige Trash-Hommage verantwortet. Allerdings kam Vuorensola nicht auf Iron Sky-Niveau ans Set, sondern schluderte sich im Iron Sky 2-Stil sonst was zusammen:

Jeepers Creepers: Reborn sieht grässlich aus, der freudlose Score zerstört sämtliche jämmerlichen Reste an Spannung und die Story mäandert konsequenzlos vor sich her. Und der Creeper bekam ein Facelift, das ihm sein Grauen raubt. Einziger Lichtblick in dieser Graupe:

Meine Fast-Namensvetterin Sydney Craven, die in diesem Horrorfilm zwar wiederholt mit übertriebenem Spiel ins Auge sticht. Das halte ich allerdings für ein Versagen ihres schläfrigen Umfelds, denn isoliert betrachtet hat Craven eine spritzig-natürliche Energie, die in einem Projekt, in dem nicht alles um sie herum Murks ist, richtig gut zünden könnte. Ich wünsche ihr eine baldige Gelegenheit, ihren Ruf in bessere Bahnen zu lenken. Und der Creeper hat womöglich einfach ausgedient.

Platz 1: 365 Days: Dieser Tag (Regie: Barbara Białowąs & Tomasz Mandes)

365 Days ist Schrott zum Fremdschämen. 365 Days: Noch ein Tag ist ein langweiliger, motivationsloser Trilogieabschluss mit einem winzigen, winzigen Funken an "Wir haben nun Narrenfreiheit, oder? Es juckt ja niemanden, was hier abgeht?"-Rebellentum. 365 Days: Dieser Tag wiederum ist ein Nichts von einem Film: Die Brücke zwischen dem "Hier, guck mal, wie skandalös wir sind! Shades in fragwürdiger, Hallo, bitte beachtet uns!"-Auftakt und dem weichgespülten Ende hat absolut gar nichts zu sagen, zu erzählen oder zu zeigen.

Szenen beginnen und enden einfach irgendwo, Cliffhanger werden nicht etwa aufgelöst, sondern ignoriert, und die konfusen Twists werden mit einer gähnenden Gleichgültigkeit inszeniert, mit der andere ihre Socken wechseln. 365 Days: Dieser Tag ist das, was wohl dabei herauskäme, würde man den Film drehen, den sich die harschesten Verrisse der Fifty Shades-Sequels zusammenspinnen.

Montag, 28. November 2022

Strange World

 Als Kirk Wise und Gary Trousdale den Beschluss gefasst haben, nach dem Märchenmusical Die Schöne und das Biest und dem romantisch-dramatischen Musical Der Glöckner von Notre Dame mit Atlantis - Das Geheimnis der verlorenen Stadt einen gezeichneten Action-Abenteuerfilm zu wagen, erklärten sie und ihr Produzent Don Hahn diesen Impuls mit einem Disneyland-Vergleich. Die von Walt Disney moderierte TV-Sendung und der von ihm erschaffene Themenpark sind in mehrere "Länder" unterteilt, die jeweils einem Genre respektive einer Erzähltradition gewidmet sind.

Während die Disney-Fernsehsendung aufgrund des immensen Erfolgs der Miniserie Davy Crockett gehäuft ins Frontierland wanderte, um auf die heimischen Mattscheiben Western-Geschichten zu werfen, sieht es in der Geschichte der Walt Disney Animation Studios anders aus:

Würde man die Filmografie des traditionsreichen Disney-Trickstudios in die Logik der Disneyland-Sendung zwängen, während deren Vorspann stets mitgeteilt wurde, in welches Land man heute schlendern wird, oder wie einen Parkbesuch auffassen, so übt ein Land eine überaus dominante Anziehungskraft auf die Studiobosse aus. Das Land direkt hinter dem Schloss. In Don Hahns Worten:

„Es gibt einen gewaltigen Bereich namens Adventureland im Disneyland, und wir sagten wir uns: Lasst uns einen Abstecher dorthin machen! Wir sind oft genug die Main Street entlang gelaufen und durch das Schloss ins Fantasyland gelangt – diesmal wollten wir die Abzweigung nehmen, nach links ins Adventureland gehen und dort ein bisschen Spaß haben.“

Leider folgte das zahlende Publikum Hahn, Trousdale und Wise während der Kinoauswertung von Atlantis bloß in überschaubaren Zahlen. Kurz darauf fiel auch Der Schatzplanet auf die Nase. Überhaupt zeigte sich über Jahre hinweg das Kinopublikum zögerlich, animierte Disney-Filme zu würdigen, die nicht ins Fantasyland passen.

Mittlerweile ist dieser Fluch gebrochen: Atlantis und Der Schatzplanet haben (vor allem unter Millennials) im Heimkino eine mittelgroße, stetig wachsende, sehr innige Fangruppe generiert. Und der dezent futuristische Superheldenfilm Baymax – Riesiges Robowabohu, der wohl am ehesten ins Tomorrowland gehört, wurde sogar zu einem der größten Hits der Walt Disney Animation Studios.

Insofern ist es nachvollziehbar sowie löblich, dass Der Schatzplanet- und Baymax-Produzent Roy Conli den Mut hatte, ein weiteres Mal das Fantasyland bei Seite zu lassen. Darüber, ob der von ihm produzierte Strange World nun eher ins Adventureland gehört oder in das (teilweise) an Jules Verne angelehnte, Pariser Discoveryland, lässt sich indes streiten. Bedauerlich ist derweil, dass sich bereits jetzt abzeichnet, dass sich die frühen 2000er-Jahre wiederholen:

Während sich das vergleichsweise überschaubare Echo von Raya und der letzte Drache noch durch die Pandemie erklären ließe, steuert Strange World nun ohne diese Ausrede auf einen ernüchternden Deutschland-Start hin. Die US-Zahlen sind ebenfalls nicht allzu euphorisch, erste Prognosen besagen, dass der Film Disney ein Minus von 100 Millionen Dollar einbringen wird. Zwei Nicht-Fantasyland-Filme mit bedauerlichen Zahlen, recht kurz nacheinander... Kein gutes Signal, dass das Publikum den Walt Disney Animation Studios da sendet. Aber unabhängig davon, wie schade dieses Déjá-vu im Prinzip ist... Wie finde ich eigentlich den Film, mal so ganz praktisch gesprochen?

Drei Abenteuergenerationen, ein anachronistisches Abenteuer

Es hat leider einen Grund, dass ich zunächst auf die ganze Fantasyland/Adventureland-Sache einging, statt direkt mit Strange World einzusteigen. Denn zumindest nach einmaligem Anschauen finde ich seine Position in der Disney-Filmgeschichte und die Wiederholung vergangener Publikumsreaktionen spannender und bedeutungsvoller als den Film selbst. Womit ich Strange World jedoch nicht absprechen will, Qualitäten zu haben. Regisseur Don Hall (inszenierte Winnie Puuh, verfasste unter anderem Mulan und Ein Königreich für ein Lama) und Autor/Ko-Regisseur (wirkte am Drehbuch von Raya und der letzte Drache mit) haben gute Ideen. Bedauerlicherweise ist deren Umsetzung zu oft lau, als dass diese Ideen oft genug reifen und aufblühen könnten.

Der wagemutige Entdecker Jaeger Clade und sein Sohn Searcher wollen die Welt erkunden und Wege finden, ihr kriselndes Heimatreich Avalonia zu stärken. Als sie während einer Expedition eine Elektrizität ausstoßende Pflanze entdecken, streiten sie sich: Searcher will mit der Pflanze heimkehren und Avalonia in eine neue Ära leiten, Jaeger will sich weiter durch die unüberwindbaren Berge kämpfen. Ihre Wege trennen sich. 25 Jahre später ist Avalonia ein utopisches Land, dessen Versorgung auf der von Searcher entdeckten und nun von ihm und seiner taffen Frau Meridian im großen Stil angebauten Pflanze fußt. Als immer mehr dieser Pflanzen verfaulen, müssen Searcher, Meridian und ihr gemeinsamer Sohn Ethan tief ins Innere der ihnen bekannten Welt vordringen, um der Sache auf dem Grund zu gehen...

Jules Verne trifft Kino-Serials, Abenteuercomics im Stile der großen Carl-Barks-Spektakel oder Tim & Struppi und B-Movie-Fantasyabenteuer, aufgepeppt mit einem Schuss kontemporärem Zeitgeist und Retro-Futurismus. Die Welt und Erzählhaltung von Strange World ist ein bunter Mix an Einflüssen, und das gilt allein schon, bevor die Clades einen auf Reise zum Mittelpunkt der Erde machen und durch eine wobbelige, wibbelige, glibberige, farbenfrohe Welt der Sonderbarkeiten stapfen, kämpfen und fliegen.

Ästhetisch geht Strange World dabei nicht derart markante Wege wie einst der im kantigen Mike-Mignola-Stil gehaltene Atlantis oder der an die Brandywine-Schule angelehnte Schatzplanet. Trotzdem sind mir an der Animation und dem Produktionsdesign Elemente besonders aufgefallen. So sind die Oberflächenstrukturen der Figuren und ihrer Umgebung in Strange World vor der zentralen Expedition atypisch spröde, rau, geradezu porös: Avalonia und seine Bevölkerung sind nicht so scheinend-glatt wie im Disney-CG-Animationskino gewohnt. So, als würden wir einen auf rauem Papier gedruckten Comic lesen, während Chaos im Netz etwa in dieser Metapher auf Hochglanzpapier gedruckt wurde.

Es passt zur Stimmung des Films und hebt Avalonia von der titelgebenden, sonderbaren Welt im tiefen inneren der unerforschten Berge ab. Die ist glibberig, wabbelnd und squishy. Doch hier kommt eine der Schwächen von Strange World zum Zuge: Der Film ist gleichzeitig zu lang, und doch zu hektisch erzählt. Die auf eine deutliche, punktgenaue Lösung zusteuernde Geschichte ist, um im Comic-Talk zu bleiben, ein Carl-Barks-30-Seiter, oder um ins Abenteuerkino von einst zu gehen, ein 75 Minuten langer Familienspaß, den man sich sonntags in der Matinee anschaut. Mit 99 Minuten Laufzeit (inklusive Abspann, zugegebenermaßen) überdehnt Strange World das, was er erzählt, hält sich für eine 70 Seiten Minimum einnehmende Geschichte im Lustigen Taschenbuch oder ein größeres, wortwörtlich abendfüllendes Stück Abenteuerkino. Das bringt mit sich, dass der halb-subtil vorab telegrafierte Schlussakt wirkt nicht wie eine konsequente Lösung. Sondern wie ein schlecht gehüteter Twist.

Gleichzeitig wirkt Strange World wie gehetzt, da Hall und Nguyen von Schauplatz zu Schauplatz hurten, um kurze Impressionen verschiedener Ecken von Avalonia und dem Expeditionsschauplatz zu zeigen und dann weiterzumachen. Atlantis und Der Schatzplanet sind ebenfalls reich an Eindrücken, finden aber immer wieder prägnante, ruhigere Momente, in denen wir im Publikum ebenso wie die Figuren die Gelegenheit erhalten, zu staunen, die Welt und ihre Kultur aufzusaugen und auch Bedrohungen richtig sacken zu lassen. Strange World hätte auf ein paar Szenen verzichten, die übrig gelassenen dafür mehr auskosten müssen, damit das verspielte Produktionsdesign und die Entdeckergeschichte besser wirken können. Oder, alternativ: Alles so richtig komprimieren, für ein rasantes Abenteuer-Destillat. So hingegen fällt der Film leider zwischen zwei Stühle.

Die vielleicht größte Enttäuschung war für mich die Filmmusik: Sie störte mich zwar nicht, jedoch gelang es ihr zu keinem Zeitpunkt, eine griffige klangliche Stimmung zu entwickeln. Somit ist sie wohl zu beachtlichem Teil dafür mitverantwortlich, dass Strange World mir nie so einen richtigen Vibe transportiert hat: Die 40er- bis 60er-B-Movie-Abenteuer-Stimmung, der Retro-Futurismus, die Jules-Verne-Ansätze, die Abenteuercomic-Ästhetik und die "esoterischeren" Elemente - es gibt genug Ansätze, an die sich die Musik haften könnte. Geschweige denn Aspekte, die vereint werden könnten.

Stattdessen dudelt der Score munter, manchmal auch dezent-dramatisch vor sich her, nie unpassend, aber auch nie in einer Form, die den Film aufwertet. Dass die Musik von Henry Jackman stammt, überrascht mich enorm, fand er doch in den Ralph reicht's-Filmen und bei Baymax so eine formidable Balance aus Gefühl und Aufregung, Disney-Tradition und frischen Anstrichen. 

Daher ist es ausgerechnet ein kurzer Moment, in dem die Clade-Familie zu einem in unserer Welt halbwegs aktuellen Electro-Swing-Radiohit in der Küche tanzt und gemeinsam kocht, in dem am ehesten die Bild- und Klangwelt von Strange World zusammenfinden: Ein Radio im 40er-Jahre-Look, Figuren, die flippig mit Gesten moderne Memes referenzieren, eine zeitlos-gemütliche Hütte, in der futuristische technische Versatzstücke für Leben sorgen, all das zusammengehalten von einem Stück, das heute und gestern vereint.

Generischer als es sein sollte

Ähnlich, wie mich Jackmans Score überraschend gleichgültig ließ, und daher dem gesamten Film Atmosphäre fehlte, fand ich die Dialoge ernüchternd: Figuren kabbeln und versöhnen sich in recht generischen Wortwechseln, die man zu großen Teilen aus diesem Film lösen und in zahlreiche andere familienorientierte Abenteuergeschichten pflanzen könnte, ohne dass es auffällt. Wenn sich Farmer/Forscher Searcher mit Entdecker/Kampfnatur Jaeger reibt oder Ethan sich vor seinem Schwarm für seinen Vater schämt, sind das zeitlose Mini-Konflikte mit breitem Identifikationspotential. So weit, so gut.

Doch sie äußern sich nicht so, dass ich je ein Gefühl dafür entwickeln konnte: "Ja, DAS klingt total nach Ethan!" oder "Aha, das ist also Jaegers tiefergehende Persönlichkeit". Die Wortwechsel bleiben schlicht funktional. Und daher fiel es mir schwer, die Figuren wirklich liebzugewinnen. Sie nervten nie. Aber sie blieben Abziehbilder, Entwürfe, noch zu verfeinernde Archetypen.

Dabei ist das Potential, das sie hätten entfalten können, offensichtlich: Ethan etwa ist Fan eines Gesellschaftsspiels, irgendwo zwischen Die Siedler von Catan und den Scharen an Sammelkartenspielen, bei denen man sich mit dem Kauf von Blisterpackungen dumm und dusselig zahlt. Er hat eine gute Bindung zu seinem Vater, ist aber auch voll in der Pubertät und würde ihn daher am liebsten verstecken, wenn sein Liebster auf der Familienfarm vorbeischaut. Er ist ein guter Taktiker, lässt sich aber auch schnell ablenken.

Dadurch müsste Ethan eine herausstehende Disney-Figur werden, oder wenigstens einer der spannenderen Protagonisten im animierten Disney-Abenteuerkino. So nacherzählt ist er es womöglich auch, im Film selbst geht ihm aber durch die "egalen" Dialoge Charakter abhanden. Ähnlich verhält es sich mit dem Rest seiner Familie, geschweige denn mit den Horden an anonymen Besatzungsmitgliedern, die sich an der Expedition beteiligen. Daher sind die wortlosen, nicht-menschlichen Sidekicks denkwürdiger als der tragende, menschliche Cast. Selbst Atlantis hat mehr aus seinem überdimensionierten Cast rausgeholt: Viele Nebenfiguren sind zwar auch nur zweidimensionale Persönlichkeiten, aber sie sind wenigstens waschechte Knallchargen, und nicht etwa Statist:innen mit Text.

So kommt es auch, dass ich wegen der Schlusslösung von Strange World nur sanft lächelnd mit den Schultern gezuckt habe. Dass ich es vorgeahnt habe, geschenkt. Aber hätte ich die Möglichkeit gehabt, mit den Figuren stärker mitzufiebern, hätte es mich berührt, wenn sie das erfahren, was ich vorgeahnt habe. Und ich hätte mitgelitten, wenn sie darauf basierend schwerwiegende Entscheidungen treffen.

Nicht missverstehen: Im Prinzip ist Strange World als Fortschritt darin, wen Disney in seinen animierten Produktionen prominent repräsentiert, genauso löblich, wie ich die Lektion, die die Figuren lernen, schlüssig sowie als Gesellschaftskommentar bemerkenswert finde. Aber in Praxis habe ich das metaphorische Comicheftchen zugeklappt und auf einen Stapel geschmissen, statt es zuzuklappen, amüsiert und berührt durchzuatmen und sorgsam ins Regal zu stellen. 

Das, was Strange World für den Disney-Kanon bedeutet, bedeutet mir mehr als der Film selbst. Der ist leider nur ein nettes, schnell vergessenes Disney-Abenteuer. Aber hey, für viele sind Atlantis und Der Schatzplanet genau das. Und ich bin sicher: So wie viele, viele andere animierte Disney-Flops, wird auch Strange World seine Kult-Fangemeinde entwickeln. Und ich gönne es ihm, aus Prinzip. Teil von ihr werde ich nicht sein können, dafür ist er mir in Praxis zu egal.

Strange World läuft aktuell im Kino.

Donnerstag, 21. Juli 2022

Bibi & Tina – Einfach anders

Menschen sitzen abends am Lagerfeuer. Während sie ein aufmunterndes Lied singen, wippen, schunkeln und wackeln sie unbeschwert. Gestikulierend unterstreichen sie den Songtext, nähern sich einem Augenblick der vollkommenen Gleichgesinntheit. Sie lassen ihren Frust, ihre Sorgen und ihren Stress der vorherigen Tage hinter sich. Dennoch handeln sie nicht unisono. Unterbewusst drücken alle tänzelnd ihrer Einzigartigkeit aus.

Der Eine zögert bei wiederkehrenden Bewegungen dieser spontanen Choreografie, als sei er sich unsicher, welche Geste wann genau drankommt. Zwei beste Freundinnen lächeln sich strahlend an und beginnen einen schwungvollen Sitztanz, als hätten sie ihn spontan non-verbal miteinander ausgemacht. Das schüchterne und etwas schroffe Reiterhof-Ferienkind geht mit der Stimmung mit, wippt aber lieber in sich selbst hinein. Und die Mundwinkel des freundlichen Exzentrikers in galanter Aufmachung könnten sich nicht feister in seine Backen graben, so begeistert ist er ob seiner mit Affekt durchgezogenen Gesten. Ein losgelöster Glücksmoment im kleinen, schief um das Feuer gebildeten Kreise...

So feiern die Titelheldinnen und die Ihren in Detlev Bucks Bibi & Tina – Einfach anders gemeinschaftlich die Individualität – und bewegen sich dabei zu den Klängen des von Joshua Lange, Peter Plate und Ulf Leo Sommer geschriebenen Songs Anders ist gut mühelos aus einer argumentative Zwickmühle. Zeigte doch schon Monty Pythons Das Leben des Brian auf, wie urkomisch widersprüchlich es zumeist ist, wenn eine Menschengruppe gleichzeitig ausruft, individuell zu sein. Entweder handeln alle gemeinschaftlich oder alle individuell, aber beides zugleich ist ein Ding der Unmöglichkeit – sollte man meinen.

Aber Detlev Bucks Interpretationen des aus Hörspielen und dem Trickmedium bekannten Bibi & Tina-Kosmos lächeln dem Unmöglichen unbeeindruckt ins Gesicht, ehe sie von einem kecken "Hex-hex!" begleitet drüber hinweg springen. Das bewies sich bereits in vier Realfilmen. Stets fanden Buck und Autorin Bettina Börgerding neue Wege, um quirlig freidrehende Kreativität, spielerisch aufbereitete Genrekonventionen, ironisches Zwinkern und eine aus tiefstem Herzen kommende Grundehrlichkeit zu vereinen, damit Hexe Bibi Blocksberg und ihre normalsterbliche Freundin Tina Martin in farbenfrohen, spaßigen Abenteuern dem Kinotrott davonreiten können. Mit einem exzessiv aufgezäumten Film gegen Gier, einer schrägen Komödie, die uns beibringt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, einer Mädchen gegen Jungs betitelten Attacke gegen den Geschlechterkrieg. Oder in einer verschroben-fabelhaften Musical-Dramödie über Flucht und Ankunft, die anmutet, als wäre es ein bislang verschollener Film des Schwarze Katze, weißer Kater-Regisseurs Emir Kusturica, der darin seinem zuvor verheimlichten Faible für deutsche Kinderhörspiele frönt.

Mit der 2020 veröffentlichten Bibi & Tina-Serie änderten sich die Besetzung, die Drehorte und einige filigrane Stellschrauben, wie die Verantwortlichen die erzählerischen sowie inszenatorischen Mechanismen einsetzen. Diese Neuerungen werden im fünften Film beibehalten. Katharina Hirschbergs Bibi ist etwas kindlich-frecher als die pubertierend-emotionale Bibi à la Lina Larissa Strahl. Harriet Herbig-Matten nimmt die verschrobenen Eskapaden auf dem Martinshof und rund herum öfters verdattert-wohlwollend hin, statt sich wie Lisa-Marie Korolls Tina abenteuerlustig reinzustürzen. Alex von Falkenstein (zuvor: Louis Held / nun: Benjamin Weygand) ist etwas bodenständiger geworden, sein Vater Graf Falko (Michael Maertens / Holger Stockhaus) etwas meckeriger. Hofbesitzerin Susanne Martin (Winnie Böwe / Franziska Weisz) hat jetzt eine etwas alltäglich-mütterlichere Art, ihre Seite als verschrobene Alleinunterhalterin tritt in den Hintergrund. So, wie auch die Farbsättigung nunmehr reduzierter ist als noch in den ersten vier Filmen.

Es sind dieselben Figuren, aber wir begegnen ihnen in einer neuen Kontinuität, wo sie dezent neu interpretiert werden. Es ist halt alles Einfach anders, womit der Filmtitel bereits eine klare Ansage ist. Aber er verweist auch auf den Namen des Internats, aus dem drei neue Ferienkinder kommen, die den Martinshof durcheinander wirbeln. Und er fasst eines der Leitthemen des Films zusammen, in dem es Buck, Börgerding und ihren zahlreichen dramaturgischen Helfer:innen mit Leichtigkeit gelingt, voller Gemeinschaftssinn den Wert der Individualität zu feiern. Denn das Bibi & Tina-Universum ist so musikalisch, so freundlich-kauzig und in dieser Interpretation zugleich so eindrucksvoll-vorbildlich gelassen, dass sich diese Story gar nicht erst in die vorhin erwähnte Zwickmühle manövrieren kann

In Bibi & Tina – Einfach anders wird nicht erklärt, nicht erarbeitet und vor allem nicht erkämpft, sondern mit völliger Selbstverständlichkeit ausgelebt, dass Harmonie nicht dadurch entsteht, dass alles identisch ist – sondern dadurch, zusammen unterschiedlich zu sein.

"Eure Welt ist wirklich lächerlich. Langweilig. Langweilig!"

Selbstredend kommen selbst Bucks Bibi & Tina-Kosmen nicht völlig ohne Konflikte aus. Irgendeinen Antrieb brauchen die Pferdemädchen, um sich zielstrebiger auf ihre geliebten Unpaarhufer Amadeus und Sabrina zu schwingen, statt gelassen spazierzureiten oder spontane Wettreiten frei von Fallhöhe vom Zaun zu brechen. In Bibi & Tina – Einfach anders gibt es sogleich drei Ursachen dafür, das Chaos ausbricht:

Graf Falko von Falkenstein erfährt von einer forschen Justizbeamtin, dass er gar kein Graf sei. Der Martinshof ändert seine Ausrichtung, und begrüßt daher erstmals drei Jugendliche bei sich, die vom Internat Einfach anders vermittelt wurden – und dort kann man froher nicht sein, dass die rotzige Disturber (Emilia Nöth), die mit glühender Begeisterung von wissenschaftlichen Grenzbereichen schwärmende Spooky (Pauletta Pollmann) und der schweigsame Silence (Leander Lesotho) vorübergehend weg sind. Und dann ist auch noch über Falkenstein ein Meteorit abgestürzt, weshalb die örtliche Bevölkerung völlig außer sich ist – angestachelt durch die völlig verantwortungslose Berichterstattung der Radio-Flamingo-Moderatorin Funky Fröhlich (Judith Richter).

Wo Individualität thematisiert wird, ist der Themenkomplex Identität nicht fern. Die grellste Identitätskrise macht Falko durch, der sich kopflos und wirr fragt, wer er sein soll, wenn er doch kein Graf ist. Der passionierte Westenträger versteift sich derart auf Labels, dass er sich schlagartig für einen blutdurstigen Vampir hält, bloß weil er erfährt, Vorfahren in Siebenbürgen zu haben. Selbst Bibi lässt sich derart vom Etikettendenken leiten, dass sie allein deshalb die Unterlagen der Justizbeamtin hinterfragt, weil sie davon überzeugt ist, dass eine derart traditionsbewusste, stocksteife Person wie Falko ein Graf sein muss. Da reagiert sein Sohn Alex schon gelassener: Er sagt sich, dass er er ist, egal ob Adelstitel oder nicht. Ihm geht es bei den Ermittlungen gegen die Behauptungen der schrillen Frau nur um Gerechtigkeit, nicht um eine Bestätigung seines Selbstbilds.

Diese Entspanntheit muss er von Butler Dagobert (Herman van Ulzen) gelernt haben, der einfach eine treue Seele ist, ganz gleich, ob er nun als Butler eines Grafen agiert oder doch nur als besonnener, weiser und wortkarger Freund eines wechsellaunigen Exzentrikers. Auch Susanne Martin und ihr Sohn Holger (Richard Kreutz) sind mit ihrer Identität im Reinen. Zumindest auf persönlicher Ebene. Beruflich zögern sie zwischendurch, ob die für den Erhalt des Hofes als nötig erachtete Neuausrichtung eine gute Idee war, oder sie sich mit der Aufnahme dreier "Problem-Teenager" übernommen haben. Jedoch sind die Beiden derart tiefenentspannt, dass ihnen kaum mehr als ein erschöpftes Schnaufen oder ein Augenrollen entfleucht, wenn sie beim Verfolgen ihrer Obhutspflichten ins Schleudern geraten. Wenn eine rebellierende Jugendliche ihnen ins Ohr brüllt und ins Gesicht singt, wie langweilig und lächerlich diese heile Kuschelwelt sei, gehen sie hingegen unbeirrt ihrem Tagwerk nach.

Tina hadert unterdessen arg mit sich. Von Disturber als die Stinknormale beschimpft, die sich Hexe Bibi lediglich als Wegbegleiterin ausgesucht hat, um umso außergewöhnlicher zu wirken, und bei all dem Chaos in Falkenstein wiederholt zum reinen Sidekick degradiert, entwickelt sie Frust. Tina hinterfragt angesichts ihrer vermeintlichen Austauschbarkeit ihren Wert, beginnt sogar zu granteln: Leute wie Disturber, die so aufsehenerregend anders sind und damit zum Gesprächsthema werden, die machen das doch allein aus Geltungsbedürfnis. Um aufzufallen, sich nach vorne zu drängeln, langweilige Normale zu überschatten. Grummelt Tina jedenfalls in einem flüchtigen Augenblick der charakterlichen Schwäche, bevor Bibi ihr aufzeigt, dass auch sie hervorstechende Eigenschaften hat. Und dass ihre pampige Eifersucht auf Disturber unangebracht ist, weil es gute Gründe gibt, weshalb manchen Menschen gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil kommt – Fürsorge und Unterstützung für jene bedeutet nicht sogleich ein Abwerten anderer.

Nicht, dass Bibi frei von Fehlern wäre. Selbst wenn man ihre Spitzen gegen Falkos Traditionsliebe ignoriert. So steckt sie Disturber gedanklich mit Vehemenz, zwischenzeitlich gar mit Jähzorn, in die Schublade "Böswillige Unruhestifterin" und will dies zunächst als einzige Eigenschaft Disturbers anerkennen. Gewiss, die mit raspelkurzen Haaren, Vorhängeschloss-Halskette und Zehn-Tage-Regenwetter-Miene auftretende Disturber präsentiert sich beim Kennenlernen als (tief-)schlagfertig und sarkastisch, steckt verbal zügig Grenzen ab. Doch wie kann es sich Bibi, die Tina unter anderem wegen ihrer Sehkraft aufzieht, bitte erdreisten, eine andere Sprücheklopferin als Schurkin abzustempeln, während sie sich darin badet, von allen als freundliche, hilfsbereite Hexe, als Sonnenschein auf zwei Beinen bezeichnet zu werden? Frisur, Kleidungsstil und die Breite des Lächelns allein können ja nicht über das gesamte Wesen eines Menschen entscheiden...

Identitätsfragen durchziehen den Dialogwitz, die Situationskomik und die charaktergetriebenen Handlungsbögen von Bibi & Tina – Einfach anders, und da kommen solche Mini-Konflikte wie die blitzschnell geäußerte Vermutung aller, Silence sei wegen eines unverarbeiteten Traumas stumm, noch hinzu. Und eine Gesangseinlage über die blendenden Schein der Prominenz. Oder die Szenen, in denen der Lederjacken tragende, handwerklich interessierte Motorrad-Rockerbubi Freddy (Dominikus Weileder) zu einem ratlos stammelnden Jungen wird, weil er sich in die vom Geschehen im Weltall fabulierende Spooky verliebt, und damit nicht umzugehen weiß. Wie sehr würde ihm erst der Kopf kreisen, würde er wie V. Arscher (Kurt Krömer) von Identität zu Identität wechseln, und im damenhaften Abendkleid mindestens so eine gute Figur machen wie in Sakko und Melone oder im altmodischen Ringel-Badeanzug...

"Das beste an der Suppe: Ohne dich schmeckt sie nicht!"

Im Presseheft zu Bibi & Tina – Einfach anders erläutert Buck seine Beweggründe, sich einmal mehr auf den Bibi & Tina-Regiestuhl zu setzen. Er erzählt von seiner Tochter, die nach dem Abitur kurzfristig dachte, im Leben angekommen zu sein – bloß um orientierungslos festzustellen, dass sie glaubt, nicht zu wissen, wer sie ist. Dies sei die Initialzündung gewesen, der Moment der Erkenntnis, welche Mission Bibi und Tina noch zu erfüllen haben. Eine positiv-anspornende Geschichte über den Fragenkomplex "Was kann ich eigentlich? Was will ich? Wer bin ich?" müsse her. Bucks Statement windet sich in seinem typisch sprunghaft-assoziativen, lakonischen Schreib- und Redestil weiter zu den ganzen Kosmos umspannenden Fragen, zur Einordnung wo wir herkommen und wer wir denn schon sind mit unseren Problemen, in den Weiten der Galaxie. 

Alles Fragen und Sorgen, die das junge Publikum angesichts der "aktuellen Weltlage, der Anspannung und Isolation, Hysterie, Unsicherheiten, absichtlicher Falschmeldungen" mitbekäme und sich nur durch Freundschaften leichter durchstehen ließen. Was nach Bucks Überzeugung bedeute, dass man auch Freunde bräuchte, die anders sind als man selbst. Zum Abschluss seines Regiestatements berichtet Buck kurz von seinem Besuch einer queeren Jugendgruppe und deren Motto: "Wir können den Wind nicht drehen, aber die Segel anders setzen!"

Dieses Motto wird im Film weder zitiert noch paraphrasiert, gleichwohl verkörpert er es vollauf. Buck und Börgerding breiten in ihrer Erzählung die Erkenntnis aus, dass stürmische Zeiten allein schwerer zu meistern sind als zusammen. So, wie der Leitspruch bewusst vom "Wir" spricht, statt sich ratschlagend an die Betrachtenden zu richten: "Du kannst den Wind nicht drehen, aber die Segel anders setzen!" Ebenso sehr liegen dem Motto und dem Bibi & Tina – Einfach anders-Drehbuch die Feststellung inne, dass es Widrigkeiten gibt, denen man nicht unmittelbar Herr werden kann. Doch statt aufgrund ihnen zu resignieren, rät es sich, ihnen mit Zuversicht und Findigkeit zu begegnen, um sie zu umschiffen und letztlich sehr wohl zum Ziel zu gelangen. Dieses Vorgehen gilt gleichermaßen für Feindseligkeiten (im Film vertreten durch Mobbing und Vorverurteilungen) als auch für Stress verursachende, unruhige Situationen und pures Chaos (wie die sonderbaren Himmelsphänomene, Lebensentwürfe aus der Bahn werfenden Nachrichten und die Alien-Massenpanik in Einfach anders).

Angesichts dessen, wie viel Eindruck die queere Jugendgruppe bei Buck hinterlassen hat, wie sehr Bibi & Tina – Einfach anders von Akzeptanz sowie Identitätsfindung handelt, und dass im Film der von Lange, Plate und Sommer verfasste, in einer abgewandelten Form bereits 2020 von Michelle veröffentlichte Song Einfach anders vorkommt, inklusive sLyrics wie "Es ist wichtig, dass du dich liebst, wie du bist" oder "Was denkst du? Was bist du, woher kommst du? Was träumst du und wen liebst du? So wie du bist, ist’s gut!", ist es durchaus verwunderlich, dass nicht-heteronormative Identitäten nicht konkret in der Handlung vorkommen. Zumal bereits Bibi & Tina: Tohuwabohu total! eine Nebenfigur zeigte, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt.

Zweifelsfrei: In Bibi & Tina– Einfach anders keine offen queere Figur auftauchen zu lassen, bleibt eine vertane Chance. Gleichwohl: Bucks und Börgerdings Verzicht darauf, im Vielfalt zelebrierenden Selbstakzeptanz-Film Bibi & Tina– Einfach anders queere Identitäten auch als Handlungskonflikt aufzugreifen, ist vollends nachvollziehbar.

Nicht nur, weil es den Falkensteinern, so wie sie von den Beiden bisher gezeichnet wurden, schwer abzukaufen ist, sollten sie LGBTQIA+-Fragen problematisieren. Sondern auch, weil es nicht zum Duktus dieses Films gepasst hätte: Eine mit sich hadernde, Intoleranz durch Andere befürchtende, geschweige denn erfahrende Figur, würde die realweltliche Dramatik aus Bibi & Tina: Tohuwabohu total! replizieren. "Das befürchten, mitunter passiert nicht-heteronormativen Jugendlichen", wäre Teil der filmischen Aussage, was daraufhin mit einem "Und das sollte nicht sein" beantworten werden müsste.

Bibi & Tina – Einfach anders lebt aber eine idyllischere, gediegenere Konflikte aufweisende Welt vor. Menschen, die in unserer Wirklichkeit bedauerlicherweise tatsächlich gesellschaftliche Sanktionen befürchten müssen, einfach weil sie sie sind, daran zu erinnern, um daraufhin die Kurve ins Idyll zu kriegen, würde den "Vorleb-Charakter" des Films schmälern. Dass Bibi & Tina – Einfach anders den Weg von Pixars Luca geht, der gemeinhin eine Geschichte über Selbstakzeptanz, Vielfalt und gegenseitigen Respekt erzählt, doch ziemlich flink unter anderem auf queere Identität übertragen werden kann, ist da schon cleverer:

Die Krisen, die die Figuren im fünften Bibi & Tina-Film Bucks durchmachen, dürften den Allerwenigsten Kindern und Jugendlichen 1:1 aus ihrem Leben bekannt vorkommen. So viele Adlige, deren Herkunft hinterfragt wird, und aufgrund eines Nietzsche-Zitatshirts aus dem Kloster geflogene Rebellinnen dürfte es in Deutschland ja wohl nicht geben. Aber den erzählten Konflikten und Identitätskrisen zum Trotz sind die Abläufe und Gefühle, die dahinterstecken, mit großem Identifikationspotential aufgeladen, da sie im Film eindringlich-pointiert geschildert und nachvollziehbar umgesetzt werden.

Und so darf jede:r im Publikum auf die Figurenbande dieses Films blicken und eigene Ängste, Befürchtungen, Herausforderungen oder auch Hoffnungen hinein projizieren, ungeachtet der demografischen und biografischen Umstände, und ohne während der Schilderungen emotional unbequem angepackt zu werden. Daher ist es auch völlig kohärent, dass der von Lesotho charmant-dauerentspannt angelegte Silence schwarz ist, aber den gesamten Film über niemand darauf eingeht – das Vielfaltsthema also ebenso wenig über Hautfarbe, Ethnie oder Herkunft behandelt wird, wie über die Hürden, die unsere Gesellschaft queeren Menschen in den Weg stellt:

Geschichten über Rassismus müssen im deutschen Kino dringend erzählt werden, doch genauso sollte Vielfalt im Casting alltäglicher werden. Das sind zwei unterschiedliche, sich insgesamt ergänzende Ansätze. Silences "Andersartigkeit" lässt sich ohne weitere Umstände so aufnehmen, wie im Film präsentiert, nämlich als Schweigsamkeit, die in redseligen Kreisen zuweilen sonderbar aufgefasst wird. Genauso kann man sie als Chiffre auffassen, als Stellvertreter für jeglichen demografischen,  charakterlichen oder interessensbasierten Aspekt, der gegebenenfalls zu Ausgrenzung oder Missverständnissen führt, obwohl dem nicht so sein sollte.

Der Unterschied ist bloß, dass Silence so oder so Repräsentation darstellt, wohingegen queere Repräsentation gar nicht stattfindet, obwohl es auch möglich gewesen wäre, sie im Film zu haben, ohne sie mit den Akzeptanzkonflikten zu verbinden. Kurzum: Die versäumte, konkrete Repräsentation von LGBTQIA+-Identitäten, mag auffallen, fällt jedoch schlussendlich jedoch wenig ins Gewicht, da wie in Pixars Luca die Aussage und der Vibe des Films die größeren Bände sprechen. Und falls man gönnerhaft drauf ist, ist mit V. Arschers unbeeindruckt zwischen den Gendernormen switchendem Modegeschmack und dem blau-lila-pinken Farbschema während Disturbers Solo-Gesangsnummer sehr wohl Repräsentation gegeben, wenngleich keine verbalisierte.

Ein anderes Thema packt Bibi & Tina – Einfach anders derweil unvermittelt an, nutzt es sogar als Knüpfungspunkt zwischen den drei großen Plotfäden: Das Toleranz-Paradoxon. Denn wie Vollblut-Miesepeter, geschweige denn hauptberufliche Mentalitätsbrandstifter gerne argumentieren: Wenn man doch so tolerant und duldsam sein will, muss man dann nicht auch Dinge hinnehmen, die gegen solch eine Einstellung ackern?

Bibi & Tina – Einfach anders verhandelt das hohlste und am kürzesten gedachte Totschlagargument unter allen Totschlagargumenten nicht in einer ausformulierten Diskussion, sondern konstant beiläufig auf Handlungsebene. Denn selbst auf dem genügsamen Martinshof und im einladenden Schloss Falkenstein finden Geduldsfäden ihre Enden. Nicht aber so rasch, wie man in einem Film erwarten dürfte, der eine lobende Gesangseinlage über Kuschelmentalität umfasst, in der die Titelheldinnen sich umarmend und knuffige Tiere streichelnd darum bitten, sich nach all den schlechten Zeiten nicht mehr zu streiten.

Disturbers ruppige Art beispielsweise wird der von Emilia Nöth so mitreißend-schnippisch gespielten, sympathisch-ungestümen Figur nicht abtrainiert, wie es in einem seichteren, didaktisch-konservativeren Film gewiss geschehen würde. Ihr mit Metahumor gewürztes pampiges Protestlied Nein Danke wird konsequenterweise auch nicht als Schurkensong aufgezogen, sondern als erfrischendes, nachvollziehbar motiviertes Freibahnen von Gefühlen des Frusts, Dickschädel-Stolzes und Abgrenzens von all der Reiterhofromantik. Ergänzend wird wenige Minuten später Alex ein punkig angehauchter Wutsong zugestanden, mit dem er seinem Vater Grenzen aufzeigt, wofür ihn Dagobert mit zustimmendem Nicken entlohnt und Tina mit Herzchenaugen.

Die Freude an Vielfalt und das erfreute Annehmen von Eigensinnigkeiten enden in Bibi & Tina – Einfach anders bei unvertretbaren Einstellungen und schädlichem Verhalten. Das beschränkt sich hier symbolisch auf Mobbing, boshaft motivierte Lügen und das leichtfertige Ignorieren von Fakten – das genügt allerdings völlig, um den Punkt rüberzubringen und das Toleranz-Paradoxon problemlos zu knacken.

Anders als in Tohuwabohu total! zügeln Börgerding und Buck ihre tagesaktuellen Verweise, wenn sie die Wurzeln der behandelten Probleme anpacken. Ein paar gut platzierte Seitenhiebe konnten sie sich trotzdem nicht verkneifen. Beispielsweise löst der leichtsinnige Sensationsjournalismus von Radio Flamingo eine Massenpanik aus, die wiederum zu überhasteten Hamsterkäufen führt (Zitat: "Wieso eigentlich immer Klopapier? Es ist doch genug für alle da!") – weder den Vernunftsverweigernden noch Funky Fröhlichs Integritätsarmut gesteht Buck inszenatorisch Sympathie zu. Geschweige denn der immergleichen Echokammer aus engstirnigen Erwartungen und Fehlinformationen, die Funky und ihr Publikum gemeinsam aufbauen. Anderer Input tät ihnen gut...

Zumeist gerät die Abgrenzung zu Fehlverhalten zeitloser, frei von Tagespolitik. Etwa wenn in einer Rückblende jemand für seinen Mut, einfach zu sich zu stehen und zu tun, was ihn erfüllt, fertig gemacht wird. Das filmt Buck in Einfach anders deutlich beiläufiger, "kleiner" und harmloser als das Mobbing in Mädchen gegen Jungs, geschweige denn die dramatischen Elemente in Tohuwabohu total!, und doch wirkt es nicht unbedeutend oder gar weichgespült: Die Erwachsenen im Cast spielen jegliches Überschreiten der Falkenstein-Benimmgrenzen (wo das, was bei uns leider Alltag ist, schon Anlass für jahrzehntelang eingefädelte Komplotte ausreicht), so, dass es ein sanft-amüsiert gerauntes "Oh, das ist wirklich der Grund dafür?!" gestattet, bevor die schwerere Emotion dahinter Überhand gewinnt.

Krömer etwa ist ein herrlich amüsanter, sich selbst genießender, dick auftragender Widersacher, doch wenn er traurig dreinblickt, rührt dies aller zuvor zur Schau gestellten Exzentrik und gemessen an den vorherigen Bibi & Tina-Filmen läppischen Motiven zum Trotz. Ähnliches gilt für Stockhaus, dessen nachdenklichen, geknickten Blicke ins Leere zwischen den großen Paraden an spaßiger Affektiertheit deutlich mehr aussagen, als man angesichts der Kinderhörspiellogik seines Handlungsfaden vermuten dürfte.

Wenn das Drehbuch dann im letzten Viertel kurzzeitig den süffisant-spritzigen Duktus pausiert, damit sich Figuren ironiebefreit auf Augenhöhe austauschen, Dagobert kurz zum Erzähler wird, und sogar ein Hauch von Shakespeare durch den Stall weht, um ebenso kompakt wie prägnant das zuvor Unausgesprochene aus dem Weg zu schaffen, wird klar: Buck und Börgerding vermochten es, ernste, echte Probleme in einem Bibi & Tina-Kosmos zu verarbeiten. Aber genauso gelingt es ihnen, sperrige Ärgernisse ins Falkenstein-Vokabular zu übersetzen, kleinzuschrumpfen und wegzukuscheln, ohne sie damit zu verharmlosen. 

"Wie Zukunft uns verändern kann … Nur ein Moment und nichts ist, wie es war."

In Terence Malicks Tree of Life schweift der zugleich als Hauptfigur dienende Erzähler in seiner Sinnsuche ab und kehrt zurück zum Beginn allen Seins, womit er die seelischen Narben, die er durch seine unglückliche Kindheit davongetragen hat, in Relation mit der Geschichte des Universums setzt. Ohne suggerieren zu wollen, dass Bibi & Tina – Einfach anders in seiner Gesamtheit schlussendlich "Tree of Life – Familien-Edition" darstellt, darf festgehalten werden, dass Börgerding und Buck etwas ähnliches vollziehen, wenn sie ihre kleine, reiterhofzentrierte Selbstfindungs- und Akzeptanzgeschichte um ein außerirdisches Element ergänzen.

Der Film eröffnet mit kunterbunten, farbgesättigten Weltallbildern, durch die ein Alien mit seinem Raumschiff gleitet, bevor wir Bibi und Tina erblicken, die staunend den Nachthimmel beäugen. Sie fragen einander über ihn aus und rätseln über ihren Platz in der endlosen Weite. Nachdem die Handlung(en) des Films ins Rollen gekommen sind und die besten Freundinnen förmlich überrollt haben, wenden sie erneut, zunächst erschöpft, ihren Blick gen Himmel, ehe sie sich singend gegenseitig anspornen, wieder ihre frohe Neugier auszuleben (und dem Film eine seiner schrulligsten Passagen zu verleihen). Sie wundern sich in Liedform, ob es andere Welten gibt, "und wer sich außer uns Gedanken macht". In den Köpfen der Pferdemädchen kreisen Gedanken, die weit über ihre persönlichen Sorgen hinausgehen, klingen halblaut zwischen den von Außerirdischen fabulierenden Zeilen wie "Sind sie besorgt?" und "Haben sie ‘ne Idee, wie es weitergeht?" doch globale Zukunftsängste an.

Während Bibi und Tina angesichts des sie direkt betreffenden Rummels auf dem Martinshof ihren Kopf wieder aus den Wolken und weltweiten Krisen nehmen, steckt Spooky gedanklich dort fest. Sie sucht den Sinn dort draußen, opfert jegliche Aussicht auf entspannende Ferien auf dem idyllisch-harmonischen Martinshof der Suche nach, Erforschung von und Spekulation über extraterrestrisches Leben. Obwohl sie früh erahnt, dass Freddy sich in sie verschossen hat, und dies auch erwidert (immerhin bezeichnet sie sich erfreut als seine "Gefährtin"), braucht es lange, bis sie den Aussichten einer ganz und gar bodenständigen Liebesgeschichte ernstlich Aufmerksamkeit schenkt.

Pauletta Pollmann spielt die abgedreht gekleidete Spooky mit einer faszinierenden Verschrobenheit: Eloquent, aber kindlich näselnd, streng fokussiert in ihren Zielen, jedoch mit schweifendem Blick, changiert Spooky zwischen kindlicher Unbedarftheit und verkopftem Nerdtum. Allzu schnell will man sie aufgrund solcher Formulierungen wie "Nicht ich hab mir den Namen ausgesucht, der Name hat mich ausgesucht" oder ihrer Alienobsession in die Querdenker-Ecke stellen, allerdings entkräftet sie dergleichen konsequent durch Belesenheit, Begeisterung für wissenschaftliche Fakten und das kritische Hinterfragen der örtlichen Massenhysterie.

Somit wird Spooky, obwohl sie für das Voranschreiten der diversen Handlungsfäden weniger verantwortlich ist als der saukomisch-alberne V. Arscher und die emotional komplexe Disturber, zum Scharnier zwischen zwei entscheidenden Konzepten dieses Films: Sie steht für die erschlagene Fragestellung "Wer sind wir? Woher kommen wir? Sind wir allein?" und die allzu schnell daraus resultierende, fälschliche Mutmaßung, dass individuelles Unbehagen doch im Gesamtbild belanglos sei. Gleichzeitig wird Spooky in den wiederkehrenden Themenkomplex der Selbstakzeptanz und des gegenseitigen Hinnehmens, wie man ist, eingewoben  – und darf sogar die Initiative bei der pointierten, finalen Begegnung des Films übernehmen. Selbstredend frei von Vorverurteilung.

So abgespaced Bibi & Tina – Einfach anders inhaltlich sein kann, ist die große Erdung in seiner Erzähltemperatur und Bildsprache nicht nur eine Möglichkeit zur Abgrenzung von den vier Filmen mit der früheren Besetzung, sowie ein vollauf verinnerlichtes Vorleben seiner Botschaft. Sie gestattet Buck zudem, eine andere Facette seines filmemacherischen Seins auszuleben und somit zweimal authentisch, doch grundverschieden Bibi & Tina seinen Stempel aufzudrücken.

Nach den vier Filmen, die das überdrehte, stolz-feist Dinge ausprobierende Wesen des Rubbeldiekatz- und Asphaltgorillas-Regisseurs zum Ausdruck brachten, steht in Einfach anders die in sich ruhend-urgemütliche "Ja, das is' halt so, guck nich' so verdattert!"-Charakteristik Bucks hinter der Kamera. Während dabei sein Gespür für Ironie etwas seltener durchschimmert, glänzt nun umso mehr sein aus Filmen wie Erst die Arbeit und dann? und Karniggels bekanntes Händchen für Lakonie. 

Ebenso selbstverständlich wie schillernd führt ausgerechnet eine Kartoffelernte-Passage in Einfach anders vor, wie mühelos Buck zwischen Wesenszügen wechselt – womit er als Regisseur die "Du kannst mehreres gleichzeitig sein, und trotzdem 100% du"-Erkenntnis vormacht, die beispielsweise die Rebellin Disturber verinnerlichen muss, um zu erkennen, dass sie sich nicht verrät, wenn sie Freundschaften knüpft: Erst fängt er mit liebevollem Blick für's Detail die banal-simple, urige Form der Kartoffelernte mit Pferd und Pflug ein. Dann lässt er den entadelten Grafen mit breitem Grinsen und quirlig-sprudelnder Stimme ein Loblied auf die Mannigfaltigkeit der Kartoffel singen, womit Falko durchblicken lässt, dass er die langweilige Normkartoffel bedauert und jede Eigenheiten aufweisende Knolle beneidet. Eine inhaltlich schräge Nummer, die Buck zeigt, als sei sie Alltag auf den Feldern Falkensteins, ohne ihr dabei den Witz zu rauben.

Dieser Ansatz, ein quirliges Wesen geerdet zu vermitteln, setzt sich in der Darstellung der Titelheldinnen fort: Hirschberg und Herbig-Matten haben ihre Rollen nun noch stärker verinnerlicht als in der Bibi & Tina-Realserie. Sie spielen im Kinofilm mit weniger Campiness als ihre Vorgängerinnen, und legen sie mit weniger pubertärer Launenhaftigkeit an – ganz so, wie es zu Skript und Regieführung passt. Trotzdem geben Hirschberg und Herbig-Matten Bibi und Tina unbeirrt eine für diese Figuren nahezu unerlässliche Fröhlichkeit und Unbeschwertheit mit, die je nach Situation Facetten dazugewinnt, die ins Freche, Trotzige oder Mitfühlende tendieren. Kuschelwelt-Cartoonfiguren, ins Reale übertragen – eine diffizile schauspielerische Aufgabe, die hier wirkt wie das Leichteste auf der Welt.

Von diesen gewitzt-sympathischen Figuren geschultert, ist Bibi & Tina – Einfach anders eine wundervolle Kinozeit. Trotz seiner klaren Haltung ist er zu keinem Zeitpunkt didaktisch. Er mag auf wunderbare Weise die Werte der Vielfalt, des Zusammenhalts und der Authentizität vorleben, allerdings versprüht er in erster Linie eine einladende, unaufgeregte Atmosphäre: Einfach anders ist der filmgewordene Entspannungsurlaub auf einem kauzigen Reiterhof, auf dem es trotz aller Heile-Welt-Kuschelmentalität dank der einzigartigen Charakterköpfe, die sich dort tummeln, niemals langweilig wird. Einfach anders: Einfach schön.

Bibi & Tina – Einfach anders ist in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Samstag, 16. Juli 2022

Men

Harper (Jessie Buckley) braucht dringend eine Auszeit. Ihre Heimatstadt London erinnert sie zu deutlich an das Grauen, das sie kürzlich durchgemacht hat. Also mietet sie sich ein luxuriöses Cottage in der Provinz, um Abstand zu gewinnen. Aber nicht nur, dass Harper weiterhin an die vergangenen Schrecken zuhause erinnert wird. Ihre Lage verschlechtert sich drastisch: Ihr Vermieter Geoffrey (Rory Kinnear) ist unangenehm, ein nackter Wanderer verfolgt sie, ein Geistlicher macht ihr ein schlechtes Gewissen, ein vorlauter Bube beschimpft sie, und die Polizei nimmt ihre Sorgen nicht für voll. Aus einem Dauerfeuer der Unangenehmlichkeiten wird bald ein Strudel des Elends...

Nach dem ebenso spannenden wie feinfühligen Ex_Machina und dem fesselnden, niederschmetternden, komplexen Auslöschung steht für Alex Garland nun Men an. Die Kernaussage steckt bereits im Titel. Die Wurzel allen Übels im Leben Harpers (und nicht nur ihr) ist männlicher Natur. Kein weiterer Interpretationsspielraum vorhanden. Die Kunst in Men ist nicht, wie filigran Garland vorgeht, und wie genau man hinschauen muss, um seine Aussage begreifen zu können. Sondern mit welch voller Wucht er sie vermittelt, ohne dabei monoton zu werden.

Großen Anteil daran, dass Men uns mit Garlands Vorgehensweise nicht von Sekunde eins an erschlägt, sondern auch Spannung erzeugt, indem wir mit Harper mitfiebern, hat ihre Darstellerin: Jessie Buckley, die vor zwei Jahren noch durch Charlie Kaufmans surreal-dramatisches Grauen I'm Thinking Of Ending Things geisterte, stapft nun in einem schneidigen Übergangswettermantel durch Alex Garlands Provinz-Folk-Horror, der ebenfalls surreale Elemente aufweist, sie aber "uriger" ausspielt als Kaufman, der nicht ein unwohles Bauchgefühl erreichen will, sondern den Intellekt zum kreisen bringt.

Buckley gelingt es konsequenterweise, ihre zwei von ihrem Umfeld genervten bis verstörten, emotional mitgenommenen Protagonistinnen individuell zu gestalten. Harper ist erschöpft, wiederholt aus nachvollziehbaren Gründen genervt, aber auch verbissen willens, ihren Urlaub zu genießen, weshalb sie mehrmals versucht, die vorherigen Ereignisse abzuhaken. Es dauert, bis sie Angst zulässt - und die weicht rasch einem Angeekeltsein, bevor Harper einfach nur noch dezent verdattert hinnimmt, Teil dieser Welt zu sein, die es allem Anschein nach auf sie abgesehen hat.

Dadurch, wie Buckley Harpers Reaktionen variiert, bleibt Men bis zum letzten Viertel dynamisch erzählt. Dann wechselt Garland Tonalität und Intensität. Ein Silberstreif an Harpers Horizont ist zuvor die bildhübsch fotografierte, abgeschiedene englische Provinz mit pittoresken Straßenzügen und saftigem Grün, dem Kameramann Rob Hardy eine einladende Unberührtheit zu verleihen versteht, ehe die schaurige Aura durchschimmert und letztlich Überhand gewinnt.

Dass Harper von Erinnerungen an einen sie emotional auslaugenden Mann geplagt wird, moderne wie uralte gesellschaftliche Strukturen ihr das Sicherheitsnetz nehmen, und Garland durch Folk-Horror-Elemente auch die personifizierte Natur auf seine Protagonistin hetzt, wirkt vielleicht zunächst wie ein wahlloser Generalumschlag. Und die Frage drängt sich auf "Was soll das der Diskussion um toxische Maskulinität noch hinzufügen?" Aber genau das ist der springende Punkt, wie gen Schluss klar wird! 

Wir haben bereits unzählige Filme, die mit ihrer Darstellung des Patriarchats Angst, Kummer und Wut erzeugen. Aber nur sehr, sehr wenige Filme lassen uns wie Harper in Men mit einem erschöpften Gesicht auf den grotesken, widerlichen Reigen blicken, den selbstgefällige Männer aufführen, womit sie ihren Menschenschlag am Leben erhalten.

Men macht Ermattung greifbar. Zeigt auf, wieso sich so viele Frauen haben ermüden lassen, weswegen sie einfach nur noch abgestumpft alles aussitzen, statt für sich einzustehen. Das ist nicht gerade der Thrill, den man von einem Horrorfilm erwarten würde. Sondern ein ganz anderes, länger im Kopf bleibendes Gefühl des Unwohlseins.

Men ist ab dem 21. Juli 2022 im Kino zu sehen.

Montag, 11. Juli 2022

Z-O-M-B-I-E-S 3


2018 strahlte der Disney Channel mit der Musicalkomödie Z-O-M-B-I-E-S einen Film aus, der mein Herz im Sturm erobert hat. In einem Farbschema irgendwo zwischen Pastell-Postkartenmotiv und Kaugummi-Verpackung gehalten und mit einer inszenatorischen Energie versehen, die einem Zucker-und-Koffeinschock gleicht, erzählt der Disney Channel Original Movie von der unmöglichen, gesellschaftlich verpönten Liebe zwischen einem menschlichen Cheerleader-Mädchen und einem von einer Football-Karriere träumenden Zombie-Jungen. Absurd, schrill, energiegeladen und superdeutlich in seiner Botschaft ist Z-O-M-B-I-E-S das uneheliche Kind zwischen der campigen Unschuld der High School Musical-Trilogie und dem feistem Fantasy-Camp der Descendants-Reihe. Herrlich.

2020 wurde der Film fortgeführt. Noch lauter. Noch bunter. Noch durchgedrehter. Und erstmals in der Geschichte des Disney Channels mit anamorphem Objektiv im kinoreifen Bildformat 2.39:1 gedreht. Z-O-M-B-I-E-S 2 wurde, wie schon sein Vorgänger, zu einem meiner liebsten Filme seines Jahrgangs. Meine Erwartungen auf Teil drei waren entsprechend hoch.

Hinsichtlich der Ambitionen zielt Z-O-M-B-I-E-S 3 nach oben. Es ist der Film mit dem höchsten Budget innerhalb der Reihe, mit gerüchteweise 20 Millionen Dollar im Rücken, und das sieht man ihm auch zu großen Teilen an. Weiträumigere Schauplätze. Mehr Schauplätze. Die Figuren machen viel mehr Make-up-Veränderungen und Kostümwechsel durch. Es gibt viel mehr Figuren, Punkt. Und Mensch, haut Regisseur Paul Hoen mit (gewollt) knallig-quietschigen Special Effects um sich!

Kein Wunder, dass Z-O-M-B-I-E-S 3 einen auf High School Musical 3: Senior Year macht und die Filmreihe in ein anderes Medium transportiert: Nach jeweils zwei TV-Premieren geht es dieses Mal nicht rüber ins Kino, sondern zu Disney+ (selbst wenn Z-O-M-B-I-E-S 3 weiterhin als Disney Channel Original Movie gelistet wird). Doch qualitativ geht Z-O-M-B-I-E-S 3 für mich leider nicht diesen Weg der Steigerung...

Alien-Invasion
Für Addison (Meg Donnelly) und Zed (Milo Manheim) stehen große Änderungen bevor: Ihr letztes Schuljahr endet bald, und sollte Zed das heiß ersehnte Sport-Stipendium erhalten, so kann er seiner Freundin auf's College folgen — und für alle Nicht-Menschen die Türen zur höheren Bildung aufsprengen. Doch der erhoffte, geordnete Abschied aus Seabrook gestaltet sich für das Grenzen überschreitende Traumpaar plötzlich viel chaotischer als gedacht. Denn die Ankunft von blauhaarigen Aliens stürzt das Städtchen in eine neuen Welle der Intoleranz: Menschen, Zombies und Werwölfe reiben sich gleichermaßen an der Ankunft dieser Neulinge. Nur die weiterhin ihre Identität hinterfragende Addison reagiert offenherzig...

Seabrook lernt einfach nicht dazu. Erst stören sich die Menschen an Zombies, die aus dem Ghetto rauswollen, dann ärgern sich Menschen und Zombies gleichermaßen über die Ankunft von Werwölfen, die in Wahrheit zuerst dieses Land besiedelt haben, dann jedoch von den Menschen in Reservate gescheucht wurden. Und jetzt raufen sich Menschen, Zombies und Werwölfe die Haare, weil Aliens in Seabrook aufschlagen. Das ist wenig originell, hat aber eine löbliche Methode, denn nicht nur Seabrook muss andauernd dazulernen...

Doch in der Umsetzung holpert diese Methode. Die Drehbuchautoren David Light & Joseph Raso predigen mit den Aliens erneut Toleranz, Verständnis und den Willen, sich in die Schuhe seines Gegenübers zu versetzen. Aber der Irrsinn ist futsch, dass Seabrook zugleich mit Hingabe und Irreverenz endlich die Augen über ein realweltlich überdeutlich gemeintes Pendant geöffnet bekommt. Es ist dieses Mal ein "Ja, hier, deutet es, wie ihr wollt, passt schon"-Rundumschlag. 

Vor allem aber gerät der "Wir führen schon wieder neue Figuren ein!"-Ansatz ins Holpern, weil sich die Filmschaffenden in der Umsetzung dabei übernehmen, all ihren Figuren gerecht zu werden.

Zu viel des Guten, zu wenig des Irren
Die Aliens platzen förmlich in Zeds und Addisons Vorstellungen dessen, wie ihr Schulabgang verlaufen wird, woraufhin sämtliche Storyentwicklungen massiv ausgebremst werden. Obwohl bereits zahlreiche Wege eingeschlagen wurden, hechten Light und Raso erst im letzten Drittel eilig durch die Charakterentwicklungen und Handlungsbögen.

Das bedeutet: Bei Z-O-M-B-I-E-S 3 drehen die Reifen auf der Stelle, bis es qualmt, und dann knallt der Film im Abschlussakt durch Konflikte, Herzschmerz, Freude, Enthüllungen und Irrwitz, um irgendwie die Story abzurunden. Ganz ohne Gefühl dafür, die ehrlichen Momente so atmen zu lassen, dass es den Figuren emotional gerecht wird, und nur mit einem Bruchteil der Spaßigkeit, die diese Reihe als Camp-Fest so genüsslich macht. Eine Reduzierung der Figuren, oder eine längere Laufzeit, hätte dem Film gut getan. Oder schlicht eine bessere Verteilung der großen Storymomente, denn während sich in der ersten Hälfte kaum etwas tut, aber der Dialogwitz, die Situationskomik und die herrlich-stolze Absurdität der Vorgänger wenigstens ansatzweise erreicht werden, überstürzen sich in der zweiten Hälfte zunehmend die Ereignisse, doch der Entertainment-Faktor bleibt auf der Strecke.

Dessen ungeachtet gelingt es Light & Raso durchaus, ihre Welt und ihre Figuren konsequent weiterzuspinnen und dabei eine hübsche Balance aus unerwarteten Wendungen und "Es kommt, wie es kommen musste" zu finden. Die Ideen sind da, aber sie hätten nochmal schön durchgeknetet werden müssen, bevor der Teig im Ofen landete. Oder so in der Art, wer wäre ich, in einer Kritik zu Z-O-M-B-I-E-S 3 meine Metaphern konsequent durchzudenken?

Hoen kann seine inszenatorische Irreverenz trotz Höher-schneller-weiter-Mentalität und Alien-Zusatz nicht erneut steigern, kreiert aber ein paar hübsch-quirlige Randmomente — Seabrook-High-Maskottchen Shrimpy ist ein echter Szenendieb! Und wenn Zed und Addison mit jugendlichem "Uns gehört die Welt"-Leichtsinn froh durch zig Gefahrensituationen tänzeln, komme ich nicht umher, hoch amüsiert und mit anerkennendem Grinsen im Gesicht mit der Zunge zu schnalzen.

Trotzdem wird der Film gen Schluss inszenatorisch bleiern. Wirklich paradox: Erst dreht der Film bildlich und klanglich frei, aber es passiert wenig. Dann überschlägt sich der Inhalt, aber der audiovisuellen Komponente geht die Puste aus. Das große, feierliche Finale mit Rückgriffen auf frühere Highlightszenen wirkt sogar absonderlich beengt in Szene gesetzt. Schade, denn die Szene hätte bei mir als Fan der Vorgänger allein schon aufgrund ihres Konzepts voll einschlagen müssen, statt mir nur ein sanftes Strahlen abzuringen.

Musik, Vielfalt und ein Fazit
An den einmal mehr eingängigen, positiv-verrückten Songs (mit immer größer werdenden Elektro-Einflüssen) können meine Kritikpunkte aber nicht rütteln. Ebenso wenig am Cast: Meg Donnelly und Milo Manheim sind geradezu mit ihren Figuren verschmolzen und glühen vor Spielfreude und Charisma, insbesondere, wenn sie die absurden tonalen Turnübungen meistern dürfen, die dieser Film von ihnen abverlangt. In Sekundenschnelle switchen sie zwischen ironischer Distanz, kindlicher Naivität, Campiness-Gravitas und herzlich-ehrlicher Amüsiertheit, und dennoch wirken ihre Figuren kohärent, nicht etwa wie Fähnchen im Wind.

Auch der altbewährte Neben-Cast scheint sich, dem Mangel an prägnanten Momenten, weiterhin wohl in seinen Rollen zu fühlen und hilft dabei, Z-O-M-B-I-E-S 3 durchweg in seiner eigenen, wirr-irren Welt zu verankern, Pacing-Probleme hin oder her. Unter den Alien-Neuzugängen wiederum bekommt High School Musical: Das Musical: Die Serie-Alumni Matt Cornett fast gar nichts von Belang zu tun, obwohl er einen beachtlichen Anteil der Laufzeit einnimmt, womit wir wieder beim "Zu viele Figuren, die irgendwie da sein müssen, aber nicht zur Geltung kommen"-Problem wären. 

Kyra Tantao als A-Li, die auf der Erde ihre aufbrausende und ungeduldige Seite an sich entdeckt, und Terry Hu als A-Spen, die erste nicht-binäre Figur in einem Disney Channel Original Movie, dürfen dem Film derweil etwas stärker ihre Stempel aufdrücken. Wie bei A-Spen Begeisterungsfähigkeit und Begriffsstutzigkeit gewaltig aufeinanderprallen, und Hu dabei ein stets zuvorkommendes, fast schon entschuldigendes Lächeln aufsetzt, hat bei mir für die größten Lacher abseits Shrimpy, Zed und Addison gesorgt.

Somit kommen wir zu meinem ernüchterten, dennoch versöhnlichen Fazit: Z-O-M-B-I-E-S 3 ist weder der Film, den ich wollte, noch der, den ich erhofft habe. Und selbst wenn er mit seinem Glitzer, seinen grellen Effekten und seiner schieren, fast aus den Nähten eines Disney Channel Original Movie platzenden Größe definitiv für viel Razzle Dazzle sorgt. So sorge ich mich, dass der Film aufgrund seiner Struktur, dem gedrosselten Witz und dem überhasteten Jonglieren mit all seinen vielen Figuren, schneller verblassen wird als seine Vorgänger. 

Und doch ist es ein lauter, schriller, stolzer, lieber, gesund-beknackter Film, der sich redlich abrackert, seine Vorgänger mit einem großen Finale zu feiern. Kurzweil ist gegeben, und ich kann Light, Raso und Hoen einfach nicht böse für diesen tolldreisten Versuch sein, sich zu übertreffen. Ein Mundwinkel hängt betrübt runter, weil die Drei sich übernehmen. Aber der andere schmunzelt.

Z-O-M-B-I-E-S 3 ist ab dem 15. Juli 2022 auf Disney+ zu sehen.

Mittwoch, 29. Juni 2022

Die Erlösung der Fanny Lye

©Alamode Film

Was lange währt, hat endlich Beachtung verdient: „Die Erlösung der Fanny Lye“ feierte seine Weltpremiere im Oktober 2019 und lief im Herbst 2020 in Deutschlad auf dem Fantasy Filmfest. Im Frühjahr 2021, wurd dem britischen Film, der Spätwestern-Erzählweise, enorme Gewaltspitzen und Historiendrama vereint, endlich eine reguläre deutsche Heimkino-Auswertung gegönnt. Und jetzt erhält er eine weitere Chance auf Aufmerksamkeit

arte zeigt das Historien-Thrillerdrama mit Freddie Fox (Paul W.S. Andersons Die drei Musketiere), Sex Education-Starlet Tanya Reynolds, Die Entdeckung der Unendlichkeit-Nebendarstellerin Maxine Peake und Game of Thrones-Veteran Charles Dance heute ab 23.10 Uhr, außerdem wird es in der Mediathek zu finden sein. Weshalb „Die Erlösung der Fanny Lye“ sehenswert ist, und weshalb ich fürchtn, dass dieses Kleinod dennoch viele Filmfans enttäuschen könnte, verraten ich euch in den folgenden Zeilen…

Risse im Puritanismus

Wir schreiben das Jahr 1657: Der dritte englische Bürgerkrieg liegt nun schon einige Jahre zurück. Das kurze Aufbegehren der frühdemokratischen Bewegung der Levellers ist weitestgehend ein Ding der Vergangenheit. Jene, die weiterhin für eine demokratische, freie Gesellschaft, eine Öffnung der Religion und diee Gleichstellung der Stände und Gender vor dem Gesetz kämpfen, werden gemeinhin als gefährliche Verführer und verabscheuungswürdige Sünder betrachtet… Eines Tages schlagen der charismatische Thomas (Freddie Fox) und seine Begleiterin Rebecca (Tanya Reynolds) auf dem Bauernhof des früheren Soldaten John (Charles Dance) auf. Da John, sein Sohn Arthur (Zak Adams) und seine Gattin Fanny Lye (Maxine Peake) in puritanischer Strenge leben, sind sie höchst misstrauisch gegenüber den zwei Fremden, die unbekleidet angekommen sind. Sie erklären, dass sie überfallen wurden und dringend Hilfe und Unterschlupf benötigten. Während John grantig bleibt und die Fremden mit Argusaugen beobachtet, wird das Weltbild Fanny Lyes auf den Kopf gestellt: 

Thomas betrachtet Rebecca als ihm gleichgestellte Person, statt als seine Untergebene. Und Rebecca vertraut Fanny Lye an, dass sie gar nicht verheiratet sind, und dennoch miteinander schlafen. Fanny Lye ist erschüttert – aber auch fasziniert, weshalb sie zu den Fremden hält. John wiederum erahnt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt – schließlich macht Thomas solchen ungeheuerlichen Blödsinn wie Arthur zum Spielen anzustiften ..!

Spürbare Genreeinflüsse

Es steht zu befürchten, dass Die Erlösung der Fanny Lye es schwer haben wird, sein Publikum zu finden. Das britische Poster weckt mit seiner Bildkomposition und der orangefarbenen Tönung deutliche Western-Konnotationen. Das deutsche Heimkinocover wiederum gibt Horrorkino-Vibes ab – und die FSK-Freigabe ab 18 Jahren sowie die Präsenz des Films auf dem Fantasy Filmfest dürfte diese Assoziation nur untermauern. Doch wer John-Ford-Western-Stimmung oder knallharte, schaurige Unterhaltung erwartet, wird bei Die Erlösung der Fanny Lye enttäuscht über eine ganz andere Tonalität stolpern.

Gewiss: Regisseur und Autor Thomas Clay übernimmt einige Lektionen aus dem Lehrbuch US-amerikanischer Spätwestern und des von Sergio Leone geprägten Italo-Westernkinos, also den Winkeln des Western-Genres, die sich mit drastischen Gewaltspitzen und immenser, erzählerischer Ruhe und Sorgfalt kritisch mit dem Erbe ihrer Vorgänger auseinandersetzen. Komplexe, listige Figuren, sich mit still anschwellender Spannung steigernde Konflikte und eine atmosphärische, spröde Bildsprache – das ist das filmische Erbe, an dem sich Clay bedient.
Trotzdem lässt sich Die Erlösung der Fanny Lye angesichts der Themen und des Settings nur schwerlich als Western vermarkten, und so prägnant und grafisch die Gewaltspitzen im Film sein mögen, so sind sie rare, bewusst drastische Markierungen der entstandenen Gefahr – nicht etwa das definierende Element des Films. In allererster Linie ist Die Erlösung der Fanny Lye ein feministisches Stück Historienkino, das mit seinen hervorragenden Dialogen und einer soghaften, komplizierten Figurendynamik besticht.

Packende Wortgefechte

Thomas Clay lässt nahezu den gesamten Film auf einer kleinen Farm im matschigen, abgeschiedenen Shropshire abspielen. Er und Kameramann Giorgos Arvanitis (Die letzte Mätresse) fangen diese spärlich eingerichtete Heimat der Titelfigur und ihres strengen Gatten in vernebelt-glanzlosen, kalten, doch aufgrund der Bildkomposition trotzdem sehr atmosphärischen Bildern ein – und verharren auf dem famos aufspielenden Cast, der sich in wortgewandten Dialogen misst. Charles Dance gibt eine eindringliche Darbietung als Mann seiner Zeit, der eine ultrastrenge Erziehung verfolgt, seine Frau als Dienerin betrachtet und ein harsches, strafendes Bild von Gott hat.
John ist eine kühle, grantige Präsenz, doch Dance findet nuancierte Wege, dieser antagonistischen Person Leben einzuhauchen: Er genießt sichtbar seine männlichen Privilegien, doch in religiösen Fragen schimmert in seinem Blick auch eine Verletzbarkeit auf, und die mitleidende Sorge, dass die zwei jungen Fremden (basierend auf allem, was ihm sein Leben lang gepredigt wurde) mit ihren radikalen, neuen Ideen wirklich mit dem Feuer spielen.

Tanya Reynolds wiederum begeistert als stille, doch mit großen, glänzenden Augen für die Lehren ihres Begleiters brennende Frau, die durch ihre sensible Art auch deutlich besser zu Fanny Lye durchdringt als der charmante, eloquente, aber auch ungeduldige und forsche Thomas. Dem verleiht Freddie Fox so viele charakterliche Widerhaken, dass zwangsweise Spannung aufkommt: Durch ihn wird Thomas zu einem listigen Propheten der Gleichberechtigung und religiösen Toleranz, der jedoch durch sein lüsternes Selbstbewusstsein und den diebischen Genuss, den er daran hat, Leute um den Finger zu wickeln, so wirkt, als ginge es ihm nicht allein um die Sache.

©Alamode Film

Tolle Leistung von Maxine Peake

Es ist jedoch konsequent Maxine Peake, die den restlichen Cast überschattet: Ihre Darbietung als treue, verschüchterte Hausfrau und Mutter, die unter der Fuchtel ihres Gatten steht und die Werte der Gesellschaft nicht hinterfragt, ist filigran, herzlich und mitreißend. Peake lässt Fanny Lye leise und intensiv mit den neuen Ideen ringen, die Thomas und Rebecca mitbringen – und es geht geradezu unter die Haut, wie diese Frau sich teils zu neuen Horizonten verführen lässt, teils intellektuell überzeugt wird, und sich auch ihre eigenen Gedanken macht.

Das führt zwangsweise zu Konflikten mit ihrem Gatten, aber auch mit Thomas und Rebecca – und dann schwebt über dem Ganzen auch noch das Damoklesschwert der doppelzüngigen, erzkonservativen Rechtsprechung zu jener Zeit … Untermalt wird das Geschehen mit einer von Thomas Clay selbst geschriebenen Musik – weil durch die von Wetterschäden geplagten Produktion kein Geld für einen anderen Komponisten über war. Clay entschied sich für einen Score frei von Subtilität: Jede dramatische Wende wird mit trötenden Hörnern angekündigt und zuweilen artet die Klangfarbe ins Folkrockige aus.

Das mag anachronistisch sein, dass sich aber akustisch mit voller Wucht frischere und feschere Elemente in Die Erlösung der Fanny Lye drängen, passt aber zum Film, in dem Fanny Lye durch Thomas' Worte in ein neues Zeitalter geleitet wird. Und da noch immer nicht sämtliche Probleme, die Fanny Lye durchleidet, aus der Welt geschafft wurden, kann eine klangliche Übertragung des Films ins Heute sowieso nicht schaden…

 

Fazit: Die Erlösung der Fanny Lye ist Historien-Spannungskino, das mit kühler Stimmung und langsam anschwellender Suspense vom quälend-schleichenden Prozess der Aufklärung handelt.