Samstag, 31. Oktober 2020

Relic

Wann immer Leute rummaulen, Popcorn-Kassenschlager wie Avengers || Endgame würden das Kino zerstören, kriege ich einen inneren Schreikrampf. Denn diese Statements zeigen sich vollkommen ignorant gegenüber der Realität des Standorts Kino: In einer Ära, in der sich Millionen und Abermillionen von Menschen einreden, Filme seien umsonst, wenn sie als Teil einer monatlichen Flatrate angeboten werden, wurde der "Dafür gehe ich ins Kino"-Impuls zahlreicher Personen nun einmal kleiner. Das ist eine Entwicklung, die schon vor dem Aufkommen des Marvel Cinematic Universe begonnen hat. Man schaue sich bloß einmal die sinkende Erfolgskurve von Dramen und Komödien mittleren Budgets in den USA an, wo Kabelfernsehen und Netflix deutlich früher und stärker Einfluss auf das Kinokonsumverhalten hatten als in Westeuropa. 


Filme wie Avengers || Endgame sind nicht der Untergang des Kinos, sondern deren Notnagel, den es benötigt, solange Otto und Anna Durchschnittskonsum denken "Ach, ich hab keine Lust, Geld auszugeben und vor die Tür zu gehen, ich schau was auf Netflix". Und ein Umdenken wird angesichts der Nachrichtenlage 2020 so rasch nicht eintreten. Aber es gibt noch einen Grund, weshalb das MCU nicht den Untergang des Kinos bedeutet: Zahlreiche "Verbrecher" nehmen die Gage für ihren "Verrat an der Kunst", um Filme zu finanzieren, die sonst nicht gemacht worden wären oder zumindest weniger Verbreitung gefunden hätten. So haben die Brüder Joe & Anthony Russo ihre satten Marvel-Gehälter genommen, um AGBO zu gründen, ein Label, das seither unter anderem die großartige Gesellschaftssatire Assassination Nation vertrieben hat und (gemeinsam mit Jake Gyllenhaal) Relic mitfinanzierte, das feinfühlige, gefühlvoll-schaurige Regie- und Drehbuch-Langfilmdebüt von Natalie Erika James.


Und als sensible Grusel-Auseinandersetzung mit Mutter-Tochter/Enkelin-Mutter-Großmutter-Dynamiken, in denen Verständnis und Einfühlungsvermögen bedeutendere Komponenten sind als Terror, Twists, Schrecken und blutige Konflikte ist Relic kein Stoff, der mal eben finanziell gestemmt, umgesetzt und der Masse zugänglich gemacht wird, noch dazu auf diesem Niveau. 


Als Kay (Emily Mortimer) von den Nachbarn ihrer Mutter Edna (Robyn Nevin) besorgniserregende Nachrichten erhält, fährt sie prompt mit ihrer Tochter Sam (Bella Heathcote) in ihr altes Elternhaus: Edna sei nicht mehr ganz sie selbst. Nachdem sie vor wenigen Monaten beinahe einen fatalen Haushaltsunfall hatte, sei es kürzlich zudem zu einem weiteren schrägen Vorfall gekommen. Und nun ist sie auch noch spurlos verschwunden. Kay und Sam gehen schon vom Schlimmsten aus, als sie im Haus mitten im Wald ankommen. Tatsächlich finden sie es leer vor, Wände und Lebensmittel sind bereits von Schimmel befallen. Überall sind Notizzettel, teils mit simplen Alltagserinnerungen, teils mit ominösen Anweisungen. Als Edna plötzlich wieder auftaucht, voller blauer Flecken, von denen sie selber nichts zu wissen behauptet, überkommen Kay und Sam große Sorgen: Geht hier mehr vor als Demenz? Sie wissen nur eines: Edna braucht ihre Familie. Und zwar jetzt! Aber kann Edna das akzeptieren ..?


Wer bei Relic den Psychoterror von Hereditary erwartet oder geisterhaften Grusel, der nebenher auch das Thema Demenz behandelt, ist bei Relic an der falschen Stelle. Natalie Erika James verzichtet vollkommen auf Jumpscares, nennenswerte Gewaltausbrüche oder eine verschachtelte Mythologie. Es gilt keinen Fluch zu entschlüsseln, einen übernatürlichen Schurken zu bezwingen oder durch literweise Ekeleffekte zu waten. James stellt ihr Publikum nicht einmal vor ein verschachteltes Rätsel, sondern legt schon früh im Film inszenatorisch die Karten auf den Tisch: Ihr Film ist eine einzige, große (genreesk überspitzte) Analogie auf das Gefühl, seine (Groß-)Eltern beim Älterwerden zu erleben, und auf alle Gedanken und Gefühle, die damit einhergehen. 


Dadurch, dass James sämtlichen Plotmechanismen, die mit einer verkopften Verarbeitung dieses Themenkomplexes einhergehen würden, gar nicht erst anpackt, sondern früh und zielstrebig den Pfad einschlägt, assoziativ ihre Emotionen in bewegte Bilde zu kanalisieren, gibt es keine Nüsse zu knacken. Keine Ebenen kaputt zu analysieren, um Relic erst einmal auf den Grund zu gehen. So deutlich, wie Ednas Kondition ist, ist auch die Frage, worauf Relic hinausläuft. Und das ist hier durch und durch positiv gemeint. Es bahnt den Weg für eine herzlichere Geschichte. Und tiefer verborgene, existenziellere Befürchtungen.


James kreiert mit Relic eine sehr kunstvolle, berührende filmische Konfrontation mit dem Gespenst namens Altern, und die nachtschwarz-melancholische Weise, wie sie damit verbundene Ängste in Filmbilder und unerklärliche Geschehnisse überträgt, bohrt tiefere Löcher in die Seele als es die meisten Fließband-Geisterschocker tun. Zumal James die unmissverständliche Parabel, die sie erzählt, damit ausschmückt, dass sie den Grusel emotional nuanciert verankert.


Kay und Sam durchlaufen sowohl Ängste um Edna ("Was, wenn ihr was passiert?"), als auch Ängste vor Edna ("Was macht sie da nur?") und um/vor sich selbst ("Was, wenn ich auch so werde ... oder schon bin?"), die Emily Mortimer und Bella Heathcote gleichermaßen genregemäß (was diesem einfühlsamen Horrorfilm weiterhin eine beklemmende Grundstimmung verleiht) wie berührend-feingliedrig zur Schau stellen. James derweil beweist in Sachen Bildgestaltung, Kameraführung und (vor allem im Finale) zusammen mit ihrem Editing-Duo Denise Haratzis & Sean Lahiff im Schnitt schon bei ihrem Langfilmdebüt großes atmosphärisches Verständnis des Mediums, indem sie ein "irrationale Wahrheiten" visualisiert, also das Innenleben unmittelbar nach außen kehrende Bilder schafft.


Fazit: Relic ist waschechter Old-School-Grusel nach Schule des frühen, dunkelemotionalen Schauerkinos. Nichts für Fans des schnellen Schocks - und zugleich einer der betrüblich-schönsten Filme des Jahres.

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Hexen hexen

 Robert Zemeckis meldet sich zurück im Fach des Familiengrusels: Der Zurück in die Zukunft- und Falsches Spiel mit Roger Rabbit-Regisseur nähert sich nur selten dem schaurigen Fach, doch mit Der Tod steht ihr gut hat er einen der besten Filme aus der Sparte "Tim-Burton-Filme, die Tim Burton nie gemacht hat" abgeliefert, die es so zu finden gibt. Und auch wenn seine Weihnachtsgeschichte so ihre Makel hat (einige gar eklatante), so ist die Motion-Capturing-Tour-de-Force mit Jim Carrey reizend familienfreundlich-gruselig geraten. Insofern war ich vorfreudig-neugierig auf Zemeckis' Hexen hexen, die neuste Adaption der Roald-Dahl-Geschichte, die 1990 bereits von Nicolas Roeg (Wenn die Gondeln Trauer tragen) verfilmt wurde. 


Die Story dreht sich um einen Waisenjungen, der bei seiner liebevollen Großmutter lebt, die über großes Vorwissen über Hexen verfügt und ihren Schützling sofort in ein opulentes Seebad-Hotel verfrachtet, als sich abzeichnet, dass Hexen es auf ihn abgesehen haben. Denn Hexen greifen üblicherweise nur Kinder vom unteren Ende der Sozialleiter an - sie würden doch nie in ein Luxushotel gehen ... Aber ausgerechnet jetzt bittet die Hoch-Großmeisterhexe der Welt ihre Weggefährtinnen aus allen Teilen des Erdballs in genau dieses Hotel, um unter falscher Identität bei einem Kongress einen Plan zu schmieden, wie sie alle Kinder der Welt in Mäuse verwandeln und zerquetschen können ... 


Ich habe die Rezeption von Roegs Hexen hexen gespaltener in Erinnerung als sie nun mit einem Blick auf Aggregatorseiten wie Rottentomatoes wirkt: Mit Respekt für die praktischen Effekte, aber Verständnis für Roald Dahls überaus kritische Sicht auf den Film (vor allem auf sein gegenüber der Vorlage abgeschwächtem Ende) und viel Schulterzucken für Passagen, in denen Hexen hexen auf der Stelle tritt, schien mir die erste Adaption gemeinhin mehr als Film wahrgenommen, der zwar recht harsch für einen Kinderspaß war, aber erzählerisch halt dennoch unausgegoren ist. Doch der sehr positive Rottentomatoes-Konsens und die völlig aus dem Nichts gekommene, urplötzlich-unabdingbare Liebe für die erste Verfilmung, die nun aus den sozialen Netzwerken trieft, machen mir offensichtlich, dass ich da eher eine Minderheit als Teil der Mehrheit bin. 


Doch ich muss der aktuell so deutlichen Liebe für Hexen hexen von 1990 in einer Hinsicht deutlich widersprechen. Es geht um das Hexen-Make-up von Anjelica Huston.


Das Hexen-Make-up Hustons wird derzeit herumgereicht als strahlendes Beispiel dafür, was 1990 alles richtig war in Hollywood und was heute im auf Computereffekte setzenden Hollywood alles falsch liefe, denn Huston sei ja noch gruselig gewesen. Sagen zumeist Leute jenseits der 30 oder gar 40, die es vermissen, sich als Grundschulkind aufgrund von Bergen von Schminke zu ängstigen. Aber selbst ich als jemand, der einen gut gemachten, praktischen Effekt enorm zu schätzen weiß, würde dem entgegnen: Ja, Hustons Hexenform ist beeindruckende Handwerkskunst. Aber ich finde sie nicht mehr gruselig. Wenn ich sie mir als Erwachsener anschaue, sehe ich etwas, bei dem ich sofort an die Stunden an Arbeit denke, die da wohl reingeflossen sind. Ich respektiere diese Leistung sehr, doch sie ist zu sehr Hexen-Klischee-Abarbeiterei, als dass sie mir irgendeine Form von Schauer entlocken würde. Dafür ist es zu karikaturesk-grotesk. Und ich wage zu behaupten, dass es selbst der Kernzielgruppe des Films so heute in weiten Teilen geht, da entstellte, absurde Anblicke nunmehr in der Popkultur viel weiter verbreitet sind. Hässlich ist heute nicht mehr automatisch angsteinflößend.


Egal, wie viele die visuelle Grundentscheidung hinter Zemeckis' Hexen hexen hinterfragen, muss ich grundsätzlich sagen: Der Cast Away-Filmemacher verfolgt da einen guten Impuls, wenn er sich bei der Absurdität des Hexendesigns zurücknimmt. Anne Hathaway als Hexe lässt mir deutlich eher einen Schauer über den Rücken laufen, wenn ihre dezent zu großen Augen in die Kamera starren und sich ihr Lächeln langsam über die Breite dehnt, die ein Menschenlächeln haben dürfte. Die "Uncanny Valley" hat angerufen, eine ihrer Bewohnerinnen ist ausgebüxt ... 


Das Problem ist jedoch: Zemeckis weiß offenbar nicht, was er da an der Hand hat. Im fertigen Film enthüllt er Hathaways volle Hexenform viel zu früh, er zeigt mehrmals, wie sie mutiert und sofort wieder in menschliche Form zurück schwenkt und so den Schrecken wieder zurücknimmt. Er gewöhnt sein Publikum durch kleine, stetige Tropfen an das visuelle Grauen und Unwohlsein - und das ist symptomatisch für den kompletten Film. Zemeckis' Version ist auf dem Papier näher an der Buchvorlage und garstiger. Doch in der Umsetzung dämpft Zemeckis diese Härte, Schaurigkeit und Gemeinheit unentwegt dadurch ab, dass etwa einige besonders garstige Anblicke extrem cartoonig und schlacksig animiert sind. Oder aber der Schnitt konterkariert sie. Oder aber die in Mäuse verwandelten Kinder schneiden Grimassen, als stünden sie für ein DreamWorks-Animation-Poster Modell, was in seiner aggressiven "Bin ich nicht hip?"-Art allem kurz zuvor aufgebautem Flair die Fallhöhe nimmt. Ähnliches gilt für Alan Silvestris Score, bei dem auf jede Minute mit dunkler Märchenatmosphäre fünf Minuten kommen, die so klingen, als hätte Zemeckis ihm gesagt: "Hey, gib mir deine Avengers | Infinity War-Entwürfe, das kam doch gut an?!"


Dessen ungeachtet bleiben mir Chris Rocks sehr launigen (aber quantitativ etwas übertriebene) Erzählkommentare positiv in Erinnerung, das routiniert-warmherzige Spiel von Octavia Spencer als liebende Großmutter sowie natürlich Anne Hathaway, die ihre in Ocean's 8 und Glam Girls begonnene "Ich übertreibe maßlos und habe Spaß daran"-Saga mit ansteckender Freude fortführt. Leider reicht das nicht, um das (auch der Vorlage geschuldete) Auf-der-Stelle-treten abzuschütteln oder das Gefühl, Zemeckis hätte seinen eigenen Stoff nicht so ganz erfasst.


Aber: Hey, wenigstens bekommen wir den Film (kurzzeitig) im Kino zu sehen (anders als die USA), und für einen Kinonachmittag mit jüngeren Kindern, die sich gruseln wollen, ist dieser Hexen hexen noch immer annehmbares Herbstkino!

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Musikalisches Immergrün – Die besten Disney-Songs der Dekade (Teil XIII)

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Platz 15: Ich bin Vaiana ("I am Moana") aus Vaiana

Musik von Mark Mancina, Opetaia Foa'i und Lin-Manuel Miranda, Text von Opetaia Foa'i und Lin-Manuel Miranda (dt. Text von Tommy Amper)


Mit Ich bin Vaiana finden die drei musikalischen Stimmen aus Vaiana zusammen: Score-Komponist Mark Mancina, Musicalstar Lin-Manuel Miranda und der preisgekrönte Musiker Opetaia Foa'i, der zum Projekt hinzugezogen wurde, um einen authentischen südpazifischen Touch zu erhalten. Inhaltlich ist das Lied derweil quasi zugleich Staffelstabübergabe und Motivationslied: Zunächst singt Vaianas Großmutter dieses Lied der Ahnen für Vaiana, dann adaptiert sie es im Gedenken an ihre Oma und voller Stolz für sich selbst. Rührend und mit gesundem Pathos ist Ich bin Vaiana eine wunderschöne Powerballade!


 

Platz 14: Ways to be Wicked aus Descendants 2

Musik und Text von Sam Hollander, Josh Edmondson, Grant Michaels und Charity Daw


Müsste ich jemandem erklären, was der Disney Channel in den 2010er-Jahren so fabriziert hat, ich würde wohl zuallererst obiges Musikvideo zu Ways to be Wicked vorführen, dem Introsong zu Descendants 2. Denn ich wüsste keinen Clip, der kompakter zusammenfasst, wofür Disney-Channel-Eigenproduktionen dieses Jahrzehnts stehen: Extrem von Elektropop und anderen modernen Einflüssen geprägte Musik, ein junger Cast an Schauspiel-Gesang-Tanz-Dreifachtalenten, knallige Farben, Musikvideo-Sounddesign, Schul-Geschichten, pubertierende Hauptfiguren und Konzepte, die mit einem Fuß in klassischen Disney-Gefilden stehen, und mit dem anderen irgendwie flippiger, bunter oder schräger sein wollen. 


Und darüber hinaus macht mir Ways to be Wicked einfach absurd viel Spaß. Wikipedia sortiert ihn als Dance-Rock ein, äh, ja gut, meinetwegen, ich würde es dagegen als "Disney-Introsong auf kennyortegasche Disney-Channel-Logik nach vier Dosen Energy Drink, wild in einer knallig gefärbten Kunstlederjacke von einer Lautsprecherbox zur nächsten springend" bezeichnen. Aber gut, das wird wohl kein geläufiges Genre. Die Nummer ist ein gigantischer Fake-out, die eine ganz andere Story für den auf sie folgenden Film anteasert, und zugleich doch inhaltlich kohärente Etablierung von Mals Dilemma, ein laut und wild voranpreschendes Stück Zuckerschock, die kitschig-alberne, ungeheuerlich liebenswerte Disney-Channel-Vision dessen, was wohl Punk-Attitüde wäre. Gaga und genau richtig so.


Platz 13: Lost in the Magic aus Disneyland Paris

Musik von Mark Hammond, Text von Carolyn Gardner


Seit 1989 arbeitet Vasile Sirli für Disney. Seither hat sich der Rumäne zum Musikalischen Direktor des Disneyland Paris aufgeschwungen. Anfangs verfasste er auch selbst unzählige der Songs, die während Shows oder Paraden unseres europäischen Disneylands ertönt sind - und während dieser Phase entstanden auch die für mich größten Original-Ohrwürmer, die "mein Heimatpark" so zu bieten hat. Die Paradensongs nach Sirlis aktiver Zeit direkt an der musikalischen Front sind zwar auch allesamt für unzählige unvergessliche Momente zuständig (*versoffene Piratenstimme an*"Magic Everywhere!!!"*versoffene Piratenstimme aus*), jedoch dauerte es bis zum 25-jährigen Jubiläum des Disneyland Paris, bis sich ein neuer Paradensong so sehr in mein Herz, meinen Verstand und meinen Gehörgang gebohrt hat, dass ich ihn mir auch außerhalb der Tore des Pariser Disneylands immer wieder anhöre. 


Der frühere A*Teens-Produzent und Arrangeur mehrerer Alan-Menken-Kompositionen lässt im Paradensong Lost in the Magic beide Welten seines früheren Schaffens wundervoll kollidieren und erschafft eine poppige, knallige Kollision aus einem neuen klanglichen roten Faden und den zahlreichen Disney-Stücken, durch die er sich hier schlängelt. Dieser Paradensong setzt auf eine sehr künstliche, aber auch sehr kräftige Klangkulisse, die das Marschieren der Tänzertruppen und Disney-Figuren vor Ort vortrefflich begleitet und auch in den eigenen vier Wänden zumindest bei mir für ordentlich Laune und Energie sorgt. Mit Lost in the Magic fühle ich mich beim Staubwischen, Wäscheaufhängen oder Fenster- und Bodenputzen als wäre ich bei einer magischen Parade und lasse in Gedanken großartige Erinnerungen wieder aufleben.



Platz 12: Mutter weiß mehr ("Mother Knows Best") aus Rapunzel

Musik von Alan Menken, Text von Glenn Slater (dt. Fassung von Thomas Amper)

Während Rapunzel gemeinhin auf Lieder setzt, die durch Pop und Soft Rock inspiriert sind, so baten die Regisseure Byron Howard und Nathan Greno das Songwriter-Duo Alan Menken & Glenn Slater darum, auch eine broadwayeskere, klassischere Nummer zu schreiben. Und so bekam Mutter Gothel eine Schurkennummer spendiert, in der sie mit selbstdarstellerischer Genüsslichkeit all die Gefahren aufzählt, die Rapunzel angeblich außerhalb ihres Turms erwarten. Gespickt mit passiv-aggressiven Attacken, getarnt als Fürsorge, die Rapunzel kleinhalten und gefügig machen sollen, ist Mutter weiß mehr in seiner beiläufigen Garstigkeit sehr sondheimesk. Die Lyrics der Hauptversion dieses Songs reichen leider weder im Original noch in der deutschen Synchro an Sondheim-Größe heran, jedoch ist Gothel einer der wenigen Disney-Fieslinge, denen eine Reprise vergönnt ist – und die baut sich melodisch wie textlich wundervoll-fies auf. Gepaart mit dem ominöseren, kraftvolleren Arrangement ist es die Reprise, die Mutter weiß mehr in meinem Ranking auf diesen Platz schiebt. 

Platz 11: Wann fängt mein Leben an? ("When Will My Life Begin?") aus Rapunzel

Musik von Alan Menken, Text von Glenn Slater (dt. Fassung von Thomas Amper)

Der Eröffnungssong von Rapunzel ist zugleich ihr „Ich will“-Lied, wobei sich Rapunzel ihren Sehnsüchten nicht von Beginn an durch und durch klar ist: Zunächst listet das blonde Langhaar all das auf, womit es sich seine Zeit im Turm vertreibt. Und das in einer munteren, mild-flotten Art, die Andrew Lloyd Webbers Evita auf den Blumenkinderrock von Joni Mitchell treffen lässt. Das Arrangement lässt die Akustikgitarre klar in den Vordergrund treten, doch auch die Percussion ist deutlich und zunächst flippig. Erst, wenn Rapunzel allmählich aufgrund der Monotonie ermüdet und sich ihre Sehnsucht herauskristallisiert, an ihrem Geburtstag die alljährlich den Nachthimmel erleuchtenden Lichter von ganz nah zu erleben (oder gar generell mehr von all dem da draußen mitzubekommen, sollte Mutter es denn gestatten), wird die Melodie langsamer und die Streicher werden deutlicher.

Wann fängt mein Leben an? drückt Rapunzels Dilemma (sie kennt nur ein Leben, ist weitestgehend komfortabel damit, fühlt sich dennoch eingepfercht, aber aufgrund ihrer Ziehmutter hat sie Angst vor dem Unbekannten, so dass sie sich nicht im Klaren ist, ob, und wenn ja, wann sie ein Leben im Freien führen will/wird, geschweige denn ein Leben der freien Entscheidungen) auf den Punkt genau aus – und war laut Alan Menken der erste Song, der für Rapunzel geschrieben wurde. Diese Nummer bestätigte die Disney-Legende darin, den Weg einzuschlagen, die Musik im Film durch Mitchell beeinflussen zu lassen, und wurde auch im Score zu Rapunzels Leitmotiv.

Für Wann fängt mein Leben an? wurden zwei Reprisen verfasst, wobei die erste es nur auf den Soundtrack geschafft hat, während die zweite den Wendepunkt im Film markiert, an dem sich Rapunzel aus dem Turm hinaus wagt. Anfangs zögerlich, hüpft diese Reprise geradezu in immer freiere, forschere, frohere Klanggefilde und mündet in ein großartiges Gänsehaut-Crescendo. 

Dienstag, 6. Oktober 2020

Musikalisches Immergrün – Die besten Disney-Songs der Dekade (Teil XII)

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Platz 20: My Year aus Zombies - Das Musical

Musik und Text von Hannah Jones, Jack Kugell und Matt Wong


Wie sieht ein klassischer "Happy Village"-Song aus, in einer Filmwelt, die comichaft, auf keusche Art campy, mit Retro-Ästhetik versehen und von hip-modernen Einflüssen durchzogen ist? In einem Film, der Rassismus sowie Klassismus anklagt, dies aber via einer Romeo-und-Julia-Geschichte über einen Zombie und eine menschliche Cheerleaderin? Noch dazu auf dem Disney Channel? Nun, ganz einfach: So! My Year lässt Musical-Zeitlosigkeit mit modernen Einflüssen kollidieren, all dies übermäßig fröhlich, bis es selbstsicher-albern wird, aber nicht direkt eine Persiflage darstellt, selbst wenn die dazugehörige Szene mehrmals gezielt bis ganz nah an die Grenze herandüst. Ich find's überaus faszinierend und vergnüglich.


Platz 19: Wir kennen den Weg ("We Know the Way") aus Vaiana

Musik von Opetaia Foa'i, Text von Opetaia Foa'i und Lin-Manuel Miranda (dt. Text von Tommy Amper)


Wir kennen den Weg ist zwar nicht weiter der erste Song im Film, war aber der erste Song, den Mark Mancina, Opetaia Foa’i, und Lin-Manuel Miranda für Vaiana geschrieben haben und zudem ist es der erste Song, den viele Fans und Pressemitglieder zu Gehör bekommen haben. Und es war auch ein echt starker Vorgeschmack für das, was Vaiana zu bieten hat: Mit starker Percussion und von Fernweh, Stolz und Abenteuerdrang versehenen Lyrics ist Wir kennen den Weg eine extrem schöne Feier der seefahrenden Vorfahren unserer Titelfigur. In einer frühen Filmfassung eröffnete das Lied übrigens den Film und zeigte unter anderem die Geburt Vaianas.


Platz 18: Cruisin' for a Bruisin' aus Teen Beach Movie

Musik und Text von Mitch Allan, Jason Evigan, Jason Charles Miller und Nikki Leonti


Die Retronummer in Teen Beach Movie: Protagonist Brady und Protagonistin Mac sind in Bradys Lieblingsfilm gelandet, und es gibt für Brady nichts, das schöner wäre, als mitzuerleben, wie die grease-ige Rockerbande im Lieblingsschuppen der chilligen Surfer landet und eine Rockabillynummer zum Besten gibt, in die er schon immer mal einsteigen wollte. Dass Brady wirklich da einsteigt, war im Film eigentlich nicht geplant, aber weil Brady-Darsteller Ross Lynch die Choreo zum Song beherrschte und voller Passion hinlegte, wurde die Szene umarrangiert. Der Song selbst ist einfach richtig schön kaugummigroovy und riesiges Vergnügen.

Platz 17: Ich geb' dir, was du willst ("I'll Get You What You Want (Cockatoo in Malibu)") aus Muppets Most Wanted

Musik und Text von Bret McKenzie (dt. Version: Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)


Schurkensong, Bret-McKenzie-Style: In Muppets Most Wanted ersetzt ein böses Double Kermit in der Muppet-Truppe, und zerstört das Teamwork und den Teamgeist sowie die besondere Chemie in deren Show, indem er einfach allen unentwegt das gibt, was sie wollen. Um eine grantelnde Miss Piggy milde zu stimmen, äußert Constantine in Kermit-Verkleidung eine Nummer im Stil von Lionel Richie, Michael McDonald und den Doobie Brothers. Mit Groove, Flair, Disco-Funkel-Funkel und (urkomisch geratener) Bemühung, sexy zu sein, gibt er Miss Piggy immer absurdere Versprechen. Sehr, sehr lustig, doppelbödig und echt groovy!

Platz 16: Der Einband kann täuschend sein ("A Cover Is Not The Book") aus Mary Poppins' Rückkehr 

Musik von Marc Shaiman, Text von Scott Wittman und Marc Shaiman (dt. Text von Nina Schneider)


Bei meinem ersten Anschauen von Mary Poppins' Rückkehr war noch Stellt euch das nur mal vor ganz klar mein Lieblingslied aus dieser späten, späten Mary Poppins-Fortsetzung. Die Melodie der Tauchfahrt-Begleitnummer hat mich einfach mehr mitgenommen. Aber als Gesamtszene betrachtet hat mich schon während der Pressevorführung mit weitem Abstand Der Einband kann täuschend sein mehr gepackt. Viel mehr! Sehr, sehr viel mehr. Noch während des ersten Anschauens dieses Rob-Marshall-Filmmusicals habe ich mich in diese Szene schockverliebt. Emily Blunt, die eh schon super in dieser Rolle ist, blüht förmlich auf, während sie Mary Poppins spielt, die nun in Velma-Kelly-Bob eine Cockney-Vaudeville-Dame spielt, die zusammen mit Laternenanzünder Jack kleine (oft anzüglich angehauchte) Geschichtlein zelebriert. Chicago trifft Walt Disney Pictures, und Marshall inszeniert das mit Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Geschmack. Lin-Manuel Miranda spielt besser als im restlichen Film, das bewusst künstliche Bühnenbild ist wunderschön und die Zeichentrickfiguren lassen mein Herz höher schlagen. Eine Bombenszene, die mich kurz glauben ließ, Mary Poppins' Rückkehr könnte mein Lieblingsfilm 2018 werden. Leider brach der Film danach brutal ein, aber die Szene selbst blieb in meinem Herzen, weshalb ich die Szene immer und immer wieder geguckt habe - was wiederum mein Ansehen des Songs vergrößerte. Die darin nacherzählten Geschichten stammen übrigens allesamt aus Travers-Büchern.

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