Mittwoch, 31. Mai 2017

Frantz


Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Ein verletztes Land, eines, in dem sich die Bürger durch den Versailler Vertrag gedemütigt fühlen. Ein wütendes Land, in dem auf Stammtischen Parolen geschwungen und Feindbilder geschaffen werden. In Mitten dieses verwirrten Deutschlands steht die Kriegerwitwe Anna (Paula Beer), die ihrem Verlobten hinterhertrauert. Dieser zog an die Front, kehrte aber nie mehr wieder. Seither lebt sie bei ihren wohlsituierten Schwiegereltern, die ebenfalls noch vom Verlust ihres geliebten Frantz gekennzeichnet sind. Eines Tages erhalten sie Besuch von einem schüchternen, jedoch neugierigen Franzosen. Der geheimnisvolle Fremde stellt sich als Adrien (Pierre Niney) vor, einen gebildeten Kunstliebhaber, der mit Frantz befreundet war und nun an seinem Grab um ihn trauern möchte.

Zwischen Adrien und Anna entsteht alsbald eine zarte Freundschaft, getragen davon, dass sie sich gegenseitig von Frantz erzählen, aber auch davon, dass sie sich ergänzen: Adrien möchte Deutschland besser kennenlernen, Anna ist im Gegenzug davon fasziniert, wie ihre neue Bekanntschaft von Paris und seinen Intellektuellenzirkeln spricht. Nach anfänglichen Berührungsängsten werden auch Frantz‘ Eltern mit Adrien warm, selbst wenn einige seiner Anekdoten kaum verheilte Wunen aufreißen. Im Dorf wiederum macht sich Adrien ohne sein Dazutun Feinde – er als Franzose hat doch sicherlich deutsche Söhne ermordet und sollte sich schön dahintrollen, wo er herkam. Dabei müssten die Einwohner Adrien gar nicht verteufeln, um ihn zu verjagen: Je heimischer es sich Adrien bei Frantz‘ Hinterbliebenen macht, desto mehr scheint etwas an ihm zu nagen, weshalb er sich eine baldige Heimkehr vornimmt …

Die sehr freie Adaption des Ernst-Lubitsch-Films Der Mann, den sein Gewissen trieb erzählt der französische Arthouse-Liebling François Ozon eingangs mit vielen Leerstellen: Er steigt kurz vor Annas und Adriens Kennenlernen in die Handlung ein und lässt diese in einem gemächlichen Tempo, begleitet von bittersüß gestimmter Musikuntermalung, ablaufen. Eine Einordnung, wie viel noch hinter Adriens Anekdoten steckt, ob er sie ausschmückt oder ob er mit intimen Details hinterm Berg hält, erfolgt zunächst nicht. Durch die visuelle Sinnlichkeit der in Pastellfarben gehaltenen Rückblenden gewinnt die Illustrierung der Monologe Adriens‘, was er mit Frantz in Paris so alles unternommen hat, eine nahezu romantische Stimmung – erst im weiteren Verlauf dieses Melodrams zeigt sich, dass Ozon nicht nach „schöne Vergangenheit“ und „triste Gegenwart“ trennt.

Ozon gewinnt auch den in einem sanften, schmeichelnden Licht gehaltenen Schwarzweißpassagen Schönheit ab, während nicht alle Farbbilder erfüllende Momente ablichten. Der Regisseur trennt viel mehr zwischen authentisch (das heutige Publikum kennt das Jahr 1919 praktisch nur aus Schwarzweißfotografien, also ist für uns das „echte“ 1919 monochrom) und verklärt – etwa beim gemeinsamen Picknick Adriens und Annas. Dieses besteht aus zermürbenden Gesprächsthemen, die Beiden reden aber in einem bemüht-säuselnden Klang miteinander, als wollten sie in Abgeschiedenheit eine unbeschwerte Situation heraufbeschwören.

Die elegische Inszenierung Ozons wird jedoch durch sehr schwerfällige, bemüht aneinandergereihte Dialogsequenzen erdrückt, sobald die Geschichte ihren ersten Wendepunkt erreicht hat: Wenn Adriens wahre Intention, Frantz‘ Familie zu besuchen, offengelegt ist, rücken keine neuen narrativen Leerstellen nach. Stattdessen bleiben nunmehr Fragen über Empfindlichkeiten offen; Fragen, wann die Protagonisten offen über ihre Gefühle reden – wie sich in ihnen Vergebung, Wut, Frust und Enttäuschung vermengen. Sie werden zwar redselig, umkreisen dabei in vielen Worten das, was sie wirklich bewegt.

Doch dieses „Reden, um nicht wahrhaftig zu werden“-Gefühl wird in den behäbigen Gesprächen weder von Skriptseite her, noch von den im Mittelpart mit dem melodramatischen Tonfall des Films hadernden Mimen gefühlsauthentisch ermittelt. Somit ist es erst wieder der ruhigere, nachdenklichere Schluss, in dem Ozon stilsicher eine kunstvolle Neubetrachtung von Der Mann, den sein Gewissen trieb formt. Übrig bleibt somit ein schöner, wenngleich seine emotionale Wirkkraft arg überreizender Film über die deutsch-französische Bruderschaft und all ihre sich auf beiden Seiten doppelnden, harschen Augenblicke.

Diese Kritik erschien zuerst bei Quotenmeter.de

Der Fluch des US-Meinungsdiktats


Disney und Paramount sorgten die vergangenen Tage in den (US-amerikanisch geprägten) Filmdiskursnetzwerken für ordentlich Trubel: Angeblich verteufeln beide Studios das Modell, Filme vorab den Kritikern zu zeigen und wollen es enorm eingrenzen oder sogar abschaffen. Denn in den Augen beider Studios hätte der Rottentomatoes-Wert von Pirates of the Caribbean - Salazars Rache und Baywatch den beiden Filmen an den US-Kassen massiv geschadet. Die Auswirkungen dieses Industriegeschnatters: Ein einhellig-galliges Echo "Wer beschissene Filme macht, muss sich nicht über miese Einspielergebnisse wundern".

Uff. Was für eine verwucherte Diskussionsplattform uns dies gibt. Also. Der Reihe nach.

Erstens: Wenn Disney und Paramount wegen Pirates of the Caribbean und Baywatch (in den Vereinigten Staaten) keine Vorabkritiken mehr dulden wollen, ist das verflixt doppelzüngig. Man kann sich nicht mit den positiven Kritiken für die letzten Marvel-Filme oder Star Trek Beyond (wo es noch hieß "Alle finden den Film toll, wieso guckt ihn denn keiner?") brüsten, um dann, wenn es mal schief läuft mit dem Kritikerfeedback, sofort empört die Brücke niederzubrennen.

Zweitens: Handwerkliche und narrative Qualität, woran auch immer sie bemessen wird, ist nicht automatisch mit finanziellem Erfolg gleichzusetzen. Diejenigen, die nun Disney und Paramount für ihre aktuellen Filme niederbrüllen sollen sonst mal die überschaubaren Einnahmen von Moonlight erklären oder den Umstand, dass die Hobbit-Trilogie, die kaum wer über die Herr der Ringe-Filme setzen würde, mit ihren Vorgängern (oder sind es Nachfolger?) wirtschaftlich auf Augenhöhe steht.

Drittens kommt hinzu, dass nicht alles, was US-Kritikern missfällt, automatisch und allgemeingültig schlecht ist. Kulturelle Differenzen können dazu führen, dass einige US-Komödien, die in ihrem Heimatland gefeiert werden, in anderen Ländern brutal bei der Kritik durchrasseln. Und umgekehrt: So einige in den Staaten abgestrafte Filme wurden in anderen Regionen hoch gelobt. Es ist nur unfassbar schwer, das zu quantifizieren, weil die vornehmlich durch US-Amerikaner generierten Rottentomatoes-Zahlen für alle leicht zugänglich sind, es aber kein "Rest der Welt"-Pendant gibt. Soviel zum galligen Echo auf das Gemunkel, dass Disney und Paramount wegen Rottentomatoes entnervt sind ... Wer gibt europäischen Kritikern eine den weltweiten Diskurs beeinflussende Plattform?!

Viertens muss man aber auch mal Disneys Verwunderung verstehen. Laut 'Deadline' hat Pirates of the Caribbean - Salazars Rache in Testvorführungen die besten Benotungen in der Geschichte dieser Filmreihe eingefahren. Das Echo auf der Cinema Con war gut bis sehr gut. Als das Social-Media-Embargo fiel, wurde das Cinema-Con-Echo wiederholt. Als dann das Kritiken-Embargo verging, und Rottentomatoes (sowie Metascore) aus ihren Relevanzpools Noten generierten ... Stand der Film hingegen plötzlich auf Augenhöhe mit Fremde Gezeiten, dem laut Rottentomatoes schwächstem Teil der Saga. Da darf auch mal eine "Was zur Hölle ist jetzt plötzlich passiert?!"-Reaktion entstehen.

Fünftens sollte die Lösung nicht sein, Rottentomatoes zu verbieten. Das war albern, als es 2016 DC-Hardcorefans vorgeschlagen haben, das ist auch dieses Jahr bescheuert, wenn Disney darüber nachdenkt. Eine Analyse, was aber im Pirates-Fall zu dieser Meinungsschere geführt hat, ist spannend und sollte gestattet sein. Ebenso wie bei Guardians of the Galaxy Vol. 2, der zwischen Social-Media- und Kritiken-Embargo als bester Marvel-Film aller Zeiten gefeiert wurde und danach als "gut, aber schwächer als der Vorgänger". Oder bei Alien: Covenant, wo der internationale Filmdiskurs extrem negativ ist, weshalb Fans des Films mit Anti-Hype-Backlash-Artikeln aufwarten, während der US-Mainstream-Kritiker-Konsens sehr positiv ausfiel. Wenn sich Rottentomatoes auf die Fahnen schreibt, ein Meinungsspiegel zu sein, wie schadet es, zu fragen, wie man ihn repräsentativ halten kann? Denn das ewige Nachkrähen des RT-Ergebnisses (egal ob positiv oder negativ) von Leuten, die kaum etwas im Kino sehen, darf doch ruhig einen Konsens festigen, statt ihn ganz neu zu erfinden?

Sechstens: Dass laut 'Deadline' vorliegenden Studien viele U30-Kinobegeisterte keine Kritiken lesen, aber den Rottentomatoeswert genau im Auge behalten und davon in Zweifelsfällen ihre Entscheidung abhängig machen, sollte alle Filmbegeisterten in Besorgnis stürzen. Denn dies ist eine den Diskurs und die popkulturelle Analyse tötende Tendenz. Eine Tinder-isierung des Filmkonsums. Da darf man noch so sehr von Disneys und Paramounts Überreaktion auf das zurückliegende (US-)Wochenende entnervt sein. Rottentomatoes sollte ein Werkzeug von vielen in der Kiste des Kinodebattierens sein. Und nicht der Vorschlaghammer.

Rogue One: A Star Wars Story


Rogue One – A 2016 Story
Eine Geschichte über Rebellion. Über die Rebellion einer wild durcheinandergewirbelten Gruppe von Haudegen, Träumern und Freidenkern unterschiedlicher ethnischer Herkunft – angeführt von einer Frau. Gemeinsam brechen sie auf, um sich gegen ein faschistoides Imperium zur Wehr zu setzen. Die Aussichten mögen gering sein. Aber es besteht wenigstens ein Funken von Hoffnung – und Rebellion entsteht aus Hoffnung.

In den Wochen des gebannten Wartens auf den Start dieser Rebellenerzählung wurde unter Filmliebhabern (vor allem im US-amerikanischen Raum) vermehrt auf die möglichen politischen Implikationen eingegangen. Der Weltkonzern Disney bewarb seine 200-Millionen-Dollar-Produktion im November und Dezember 2016 unter anderem mit dem Hinweis, dass es an der Zeit für eine Rebellion sei. Selbst wenn der Film noch vor Trumps Wahlsieg abgedreht war, fällt es schwer, beim angespannten politischen Klima innerhalb der Vereinigten Staaten keine Parallelen hineinzuinterpretieren.

Von Filmreportern darauf angesprochen, wie sehr sich Menschen, die vor den möglichen Umwälzungen im „Land of the Free“ Angst haben, in das vorab gezeigte Rogue One-Material hineinprojizieren, beschwichtigte Disney-Konzernboss Bob Iger auf der Weltpremiere: „Dieser Film ist nicht politisch!“ Er sei als bloße Unterhaltung gedacht.

Iger tat, was er in seiner Position als Generaldirektor eines globalen Unternehmens tun muss: Er gab auf einem Geschäftstermin eine Richtung vor. Er stellte mit autoritärer Haltung die Aussage in den Raum, nur Eskapismus zu produzieren und niemandem etwas Böses zu wollen. Man will ja keine potentiellen Geschäftspartner oder Kunden vergraulen. Somit stellte er sich, ganz gleich wie seine Absichten zu betrachten sind, schützend vor das damals jüngste Riesenprojekt seiner Firma. Bloß: Er als Generaldirektor hat wenig Einfluss auf die künstlerische Intention der von Disney vertriebenen Filme. Und selbst wenn er Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller in einer Person wäre, könnte er die öffentliche Wahrnehmung nur bedingt steuern.

Jeder Geschichtenerzähler trifft Entscheidungen, was er wann und wie erzählt. Dies ist, insbesondere bei Storys, die ein immenses Publikum erreichen, in gewissem Sinne ein politischer Prozess. Wurde dieser erstmal abgeschlossen, liegt es an den Rezipienten, wie sie die ihnen gebotene Narrative auffassen. Denkwürdige Filme schlagen zwangsweise Wellen. Da ist die Unterscheidung zwischen öffentlich behaupteter Intention, unterstellten heimlichen Absichten und wilder Interpretation der Kinogänger nebensächlich.

In diesem Sinne: Ja. Rogue One ist eine zeitlose Erzählung über Widerstand. Über den mit Willensstärke vollführten Kampf gegen Unterdrückung. Über den Wert von Zusammenhalt, basierend auf Idealen und Aufgeschlossenheit. Dass dies im Jahr 2016, in dem durch mehrere große Nationen ein Ruck des Populismus ging, einen freiliegenden, pochenden Nerv traf, liegt in der Natur der Sache. Dass die Drehbuchautoren Chris Weitz und Tony Gilroy ihr dreckiges Weltraum-Freiheitskampf-Abenteuer nicht mit bedeutungsschweren, steifen Monologen unterbrechen, nimmt vielleicht Dringlichkeit aus der Sache. Es stärkt dafür aber die eigentliche Geschichte – zumal sie auf beiden Seiten des Konflikts von Handlungsträgern erzählen, die etwas ruchloser oder nachsichtiger sind als ihr direktes Umfeld. Dies verleiht Rogue One eine thematische Mehrdimensionalität – die Erkenntnis, dass nicht alles Schwarz oder Weiß ist, sondern sich auf allen Seiten Charakterschweine und netter geartete Zeitgenossen finden, ist eine Erkenntnis, die nicht genug wiederholt werden kann.

Da die Autoren zudem auf durchsichtige Analogien bezüglich wahrer Ereignisse verzichten, was ihrer Erzählung ein knapp bemessenes Mindesthaltbarkeitsdatum aufdrücken würde, formen sie Rogue One zu einer allgemeingültigen Geschichte über Courage – statt nur kurz gedachte tagespolitische Statements zu setzen. Insofern: Ja, Iger liegt nicht so falsch. Rogue One steht über der heutigen Politik. Es ist ein Film über Grundsätze. Andererseits: Diese Grundsätze haben nicht gerade an Aktualität verloren. Insofern ist der Film schon politisch.


Rogue One – A Star Wars Reconfiguration
Grundsätze sind dazu da, irgendwann gebrochen zu werden. Aber mit Bedacht. Das ist die Essenz von Rogue One: Nach sieben Episoden, in denen das Schicksal des Skywalker-Clans beleuchtet und zudem der immerwährende Kampf der mächtigen Jedi gegen dunkle Mächte vorangetrieben wurde, bricht für die Star Wars-Reihe im Kino eine neue Ära an. Bisher gab es nur Videospiele, Bücher und Comics, die andere Themenschwerpunkte setzten – sowie die (in Deutschland auch auf der Leinwand gezeigten) Ewok-Fernsehfilme.

Rogue One ist daher ein ungewohntes Star Wars-Erlebnis. Der erste fürs Kino produzierte Realfilm, der nicht die Kernerzählung weiterspinnt – sondern enorm heranzoomt, um eine Story auszubreiten, die in einem intergalaktischen Geschichtsbuch bestenfalls eine Fußnote wert wäre. Um diese Anekdoten vom Hauptfaden des Star Wars-Franchises stilistisch zu unterscheiden, begeht die Produktionsschmiede Lucasfilm in diesem fast 135 Minuten langen, etwas anderen Kriegsfilm Stilbruch. Die zentralen Star Wars-Filme sind mit einer Episodennummer versehen und eröffnen mit einem Lauftext, der die Vorgeschichte anreißt. Rogue One trägt indes, wie voraussichtlich alle anderen Ablegerfilme, den Untertitel A Star Wars Story. Und lässt die ikonische, davonschwebende Texttafel aus.

Besonders strenge Puristen werden dies Rogue One verübeln. Dass der Star Wars-affine Komponist Michael Giacchino seine Filmmusik an der Stelle, an der sonst John Williams‘ harmonische Hymne ertönen würde, mit einem harsch-dumpfen Paukenschlag eröffnet, hat deswegen einen kessen Beiklang. „Ihr erwartet Tradition? Bumm! Kriegt ihr nicht!“ Gemeinhin ist Giacchinos Score, der erste zu einem Star Wars-Kinorealfilm, der nicht von Williams stammt, von Dissonanzen und verzerrten Pauken durchzogen, kühle Synthesizer-Klänge arbeiten wiederholt gegen sinfonische Melodien an. Es ist ein komplexer Score (zweifelsfrei komplexer als der bewusst altmodisch-schlichte zu Star Wars: Das Erwachen der Macht), jedoch einer, der das Erbe wahrt.

Wiederholt greift Giacchino Themen seines Vorbilds John Williams auf, ohne sich dabei so sehr in altes Material zu verwickeln, dass Rogue One zu einem akustischen „Greatest Hits“ verkommt. Giacchinos Kompositionen sind viel eigenständiger, als etwa James Newton Howards in Harry Potter-Reprisen erstickende Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind-Musik. So fügt sie sich sehr gut in die Inszenierung des Godzilla-Regisseurs Gareth Edwards: Die Bildsprache von Rogue One bedient sich an der klassischen Star Wars-Trilogie, doch auch an zahlreichen Kriegsfilmen verschiedener Jahrzehnte. So ist Greig Frasers (Zero Dark Thirty) Schnittarbeit weitaus weniger verspielt als die der sieben bisherigen, sich an alten Abenteuerfilmen orientierenden Star Wars-Kapitel. Fraser verfolgt einen schnörkellosen, effizienten Ansatz – das mindert den Spaßfaktor, erhöht aber die Immersion: Rogue One soll das Publikum mitten in eine ausweglos erscheinende Konfliktsituation versetzen und ihm erst zum Abschluss wieder gestatten, sich in Sicherheit zu wähnen, einen Unterhaltungsfilm zu betrachten.

Edwards setzt konsequent auf weite Kameraeinstellungen und ein verdrecktes, abgenutztes Produktionsdesign. Seine Helden, Anti-Helden und Schurken müssen sich durch weitläufiges Terrain und erdrückend große Räume schlagen. Die Action wiederum ist von der ganz alten Schule – es gibt hier keine Salto schlagende Jedi oder temporeiche Verfolgungsjagden. Spannung nährt sich bei den Scharmützeln, Gefechten und Raumschiffattacken primär aus den Momenten des Wartens zwischen Aktion und Reaktion – sowie vor allem aus den Konsequenzen.

Auch das wird manche Nörgler verärgern – gibt es doch für jeden Irren, der noch immer darum bangt, dass Disney aus Star Wars keine Winnie Puuh im Weltall-Reihe macht, auch jemanden, der Star Wars als reine Weltflucht wahrnehmen will. Das bleibt hier aus. Rogue One hat raue, durch das Geschehen mitreißende Actionszenen und diverse Momente, in denen Hoffnungsschimmer heftige Dämpfer abbekommen. Und keine pure Gute-Laune-Stimmung mit lässig-fetzigen Actionpassagen. Es ist stilistisch gesehen „Star Wars: Black Hawk Down mit einem amüsierten Hauch eines bunten Apocalypse Now“. Und nicht: Star Wars: Angriff der immens agilen Digitaleffektkrieger.


Rogue One – A Reshoot Story
Stil ungleich Essenz. Obwohl Edwards als Inspiration für Rogue One mehrere einschlägige Kriegsfilme nennt, darunter den viel zitierten Soldat James Ryan, und filmkundige Kinogänger die Einflüsse bemerken dürften: Tonal ist Rogue One weiterhin im Star Wars-Universum verankert – wenngleich der Anker recht locker sitzt. Blutspritzer, Gedärme und abgetrennte Köpfe müssen Verteidiger der expliziten Gewalt bei Edwards‘ Vorbildern suchen, ebenso wie Vulgärvokabeln. All dies wäre eigentlich nicht weiter der Rede wert – fünf von sieben Star Wars-Filmen endeten zuvor als Tragödien mit dezentem Silberstreif der Hoffnung am Horizont, und selbst die zwei Ausnahmen waren noch immer familienfreundlich.

Diese wurden allerdings zu Zeiten veröffentlicht, als es die heutige Internet-Diskussionskultur noch nicht gab. Sowie vor dem Kauf Lucasfilms durch Disney, dem einzigen Unterhaltungskonzern, von dem selbst Hinz und Kunz eine klar abgesteckte Meinung haben. Als im Sommer 2016 öffentlich wurde, dass ausführliche Nachdrehs zu Rogue One vorgenommen werden, brannte es in den einschlägigen Oasen zum Star Wars-Meinungsaustausch. Disney wolle alles verniedlichen, vereinfachen und aufhellen. Käme Rogue One, so wie er nun ist, bei der früheren Star Wars-Heimat Fox heraus, würde wohl niemand aufschreien: „Wieso ist er nicht brutaler, wurden da vielleicht ein paar Metzeleien weggebügelt?“ Aber da Star Wars nun dort wohnt, wo auch Micky Maus tollt, werden die üblichen Verdächtigen auch dem bis dato kompromisslosestem Star Wars-Film vorwerfen, dass er kompromittiert wurde.

Fakt ist, dass praktisch jeder Film ab einer gewissen Budgetgrenze von Beginn an Nachdrehs einplant. Revisionen gehören zum kreativen Prozess dazu (niemand verbietet es Schriftstellern, ihre Romane Korrektur zu lesen, oder verlangt von Programmierern, Games in einem Rutsch zu codieren). Wer das Geld hat, Filmsequenzen, die sich im Schneideraum als unrund herausgestellt haben, nochmal auf die Beine zu stellen, soll es auch dazu nutzen. Wer sich genügend mit der Filmhistorie befasst, weiß, wie viele Projekte durch das nunmehr verpönte „Okay, nochmal neu!“ gerettet wurden.

Dass die Rogue One-Reshoots ungewohnt lang waren und sich die Hollywood-Branchenportale darin widersprechen, welche kreativen Kräfte dieses Films wie intensiv an ihnen beteiligt waren, mag stimmen. Ebenso, dass die einen Quellen davon berichten, dass hauptsächlich Dialogpassagen zwecks inhaltlicher Verständlichkeit erneut angepackt wurden, und sonst nur das Finale geradlinigere Formen annahm, während andere Quellen davon sprechen, dass aus „kleineren zweiten Versuchen“ hinsichtlich Actionpassagen sehr wohl aufwändige Neudrehs wurden. Und ob während dieses Prozess nun die Gewalt gemildert wurde oder nicht, das wissen letztlich eh nur die Beteiligten.

Was zählt, ist das Ergebnis. Und dahingehend hat Rogue One die leider unvermeidlichen Zweifel nicht verdient: Der Star Wars-Ableger wirkt, anders als etwa der stilistisch schizophrene, wegen seiner Reshoots viel debattierte Suicide Squad, wie aus einem Guss. Ohne Medienberichte stünde die Frage „Wurde hier rumgepfuscht?“ nicht zur Debatte. Edwards kreiert durchweg eine schroffe Kriegsgeschichte vor dem fantasiereichen Hintergrund einer zerrissenen Galaxie, die durch gut eingesetzten, menschelnden Humor ein schlagendes Herz erhält. Dieses wiederum ist essentiell, um trotz der zwar moralisch mehrschichtigen, dennoch nur spärlich beleuchteten Hauptfiguren Suspense zu erzeugen. Wie soll das Publikum denn sonst bei dieser recht rauen Erzählung mitfiebern, die nur wenig Hoffnung kennt und sie daher zum begehrenswerten, entscheidenden Gut erhebt?

Rogue One – A Star Wars Flick
Für manche Filmliebhaber mag diese These einem Sakrileg gleichkommen. Dennoch: Charakterzeichnung war noch nie die große Stärke von Star Wars. Das Erschaffen pulsierender, faszinierender Welten? Klar. Mythenbildung? Ebenso. Eine ikonische Bild- und Klangsprache? Sowieso. Das Einführen (und Aufrechterhalten) denkwürdiger Wesen? Logo. Jeder, der jemals einen Star Wars-Film gesehen hat, wird irgendeinen Droiden, irgendein Aliengeschöpf oder eine Gerätschaft ins Auge fassen und als sein Lieblingselement entdecken. Cool aussehen – das schafft Star Wars seit 1977. Zu Herzen gehende, tiefgreifende Figurenzeichnung ist trotzdem ein anderes Paar Schuhe.

Fesche Archetypen finden in diesem Filmuniversum selbstredend ihren Platz – wie der kernige Schmuggler und Gelegenheitsheld Han Solo oder der imposante Fiesling Darth Vader. Wann immer es ums Persönliche und Zwischenmenschliche geht, zeigt sich das Franchise aber (mal deutlicher, mal beiläufiger) von seiner schwachen Seite. Daran ändert auch Rogue One nichts. Die Entdeckung der Unendlichkeit-Darstellerin Felicity Jones tut ihr Bestes, um der Rebellin Jyn Erso Aussagekraft zu verleihen: Als Tochter des Mannes, der mutmaßlich die mächtigste Waffe des Imperiums entworfen hat, hadert sie wiederholt glaubwürdig damit, was sie glauben und wie sie handeln soll. Jyns behutsamen Werdegang von der störrischen Einzelgängerin zur Rebellenanführerin stellt Jones angemessen, zuweilen sogar inspirierend dar. Dennoch funktioniert die Figur vornehmlich durch ihren Platz im Geschehens und Jones‘ Ausstrahlung – ihren inneren Konflikt entwerfen die Autoren letztlich nicht filigran genug.

Die restlichen Rebellen sind als Archetypen angelegt: Donnie Yen mimt einen blinden, an die Macht glaubenden Krieger mit blitzschnellem Reaktionsvermögen. Jiang Wen folgt ihm als schießwütiger Assassine auf Schritt und Tritt. Und Diego Luna legt seinen Part des Rebellen-Nachrichtenoffiziers bewusst bodenständig und alltäglich an: Als normaler junger Mann von nebenan, der in diese kriegerische Welt geraten ist und mit komplexen moralischen Entscheidungen zu tun hat. Jeder von ihnen wird aufgrund seines Typus Teile des Publikums kalt lassen und andere begeistern. Ausführungen? Gibt es kaum, braucht es kaum, wo es doch einen neuen, urkomischen Droiden gibt, der allen die Schau stiehlt. Nur Riz Ahmed versinkt als ehemaliger Pilot des Imperiums völlig im Tumult auf der Rebellenseite, auf die er gewechselt ist – dafür gibt Forest Whitaker als vom Krieg geschundener Veteran der Star Wars-Trickserien eine stark akzentuierte Performance ab.

Auf der Seite des Imperiums hinterlässt vornehmlich Ben Mendelsohn darstellerisch Eindruck: Als Militärdirektor Orson Krennic wird er sich ob seines überschaubaren Einflusses nicht unbedingt in der Star Wars-Schurkenriege nach ganz vorne schleudern. Jedoch ist Mendelsohn nicht abzusprechen, dass er blitzschnell zwischen manisch, unterkühlt, verhandelnd, enttäuscht und frustriert wechseln kann, ohne dass seine Rolle dabei fahrig wirkt. Schade, dass ihm durch Gastauftritte schon bekannter Figuren die Schau gestohlen wird – diese sind zwar narrativ flüssig genug in Rogue One eingebaut, dass sie nicht störend wirken. Trotzdem lenken sie den Fokus dieser kleinen, schmutzigen, aber entscheidenden Rebellengeschichte ab, ohne sie als „Ausblick auf die andere Seite des Konflikts“ bedeutsam zu kommentieren.

Ob nun inhaltlich solide begründeter Fanservice einem schärferen erzählerischem Fokus hätte weichen sollen, werden geneigte Kinobesucher sicher noch lange ausdiskutieren. Zumal die nächsten A Star Wars Story-Projekte erneut diesen Balanceakt versuchen werden. Rogue One gelingt es als Vorhut, trotz mancher Schlenker zwei Dinge gleichzeitig zu sein: Einerseits ist dieses mit starken Effekten bestückte Epos in sich geschlossen – zumindest mehr als in der heutigen Franchisewelt üblich. Edwards erzählt seine Anekdote von Anfang bis Ende, mit wenigen Handlungsfäden, die am Rand irgendwie rausfransen. Andererseits ist Rogue One ein stark auf Fans abzielendes Bonuskapitel, das die bisherige Star Wars-Saga ergänzt und vertieft.

Ja, der Einstieg in dieses Addendum ist sehr holprig, die ersten 15 Minuten über werden Figuren angerissen und vorläufig fallen gelassen, ohne dass sie greifbar werden. Das zieht sich und hat Auswirkungen auf das Pacing des gesamten ersten Akts. Und Star Wars-Novizen, die Probleme haben, alles hinzunehmen, was ihnen entgegengeschleudert wird, sollten lieber Episode IV oder VII als Einstieg wählen, um diesen speziellen Fall später nachzureichen. Sobald diese Story aber ins Rollen gekommen und die Rebellengruppe zusammengeführt ist, zündet sie – und sie hat viel Sprengstoff dabei. Dank ihrer Themen. Der Bildsprache. Dem Verhältnis zum restlichen Franchise. Und dank ihrer Archetypen.

Diese Kritik erschien zuerst bei Quotenmeter.de

Montag, 29. Mai 2017

Bias of the Caribbean: The Mystery of the Compass

Kleine Spoiler für Salazars Rache voraus!

Wie schonmal angedeutet: Es überfordert mich, wie die Pirates of the Caribbean-Filme offenbar einen Sweetspot treffen, der Leute, die weder Fans sind noch reguläre Popcornkinogänger, völlig aus der Bahn wirft. So komplex, dass die einen nicht mitkommen, so entertainmentbetont, dass die anderen überanalysieren und der Reihe Dinge vorwerfen, die sie anderen Filmreihen niemals vorwerfen würden.

Ein Paradebeispiel:


Es ist ein magischer Kompass und es wird erklärt, dass er im Betrugsfalle die größte Gefahr freilässt, die den Besitzer heimsuchen könnte. Jack hat vor vielen Jahrzehnten einen Schurken im Teufelsdreieck getötet, so dass dieser als an diesen Ort gefesselter Geist sein Dasein fristet. Jack betrügt den Kompass, also ist dieser Schurke wieder frei. Was ist an "Kompass befreit Gefahr" und "Magischer Ort erschafft übernatürliche Fieslinge" soooo kompliziert, dass es nicht verstanden wird, oder alternativ so an den Haaren herbeigezogen, dass es für eine Fantasy-Filmreihe zu albern ist?

Und wenn wir schon dabei sind: Wie macht der Eine Ring seinen Träger unsichtbar? Und wieso macht er einen zudem fies und süchtig? Sind Mittelerde-Bewohner so scharf aufs Unsichtbarsein? Würden sie auch durch einen Umhang aus der Harry Potter-Welt gemein? Macht der Eine Ring jeden süchtig? Und wie kann aus einem Hobbit ein Gollum werden? Sucht allein, wirklich? Wieso hat Bilbo für Ewigkeiten den Ring, wird aber kurz vor Beginn der Herr der Ringe-Trilogie erst so richtig von den Nebenwirkungen heimgesucht? Hätte Gandalf nicht früher handeln können? Schön, dass das Supersoldatenserum Captain America das ewige Eis überleben lässt, aber dass es ihn zudem im ewigen Eis nicht altern lässt, das ist schon sehr praktisch, oder? Wenn die Iron-Man-Rüstung nicht von innen gepolstert ist, müsste Tony Stark nicht längst ein Haufen Matsch sein, so oft, wie er mit diesem Teil bruchlandet? Sind Lichtschwerter nicht physikalisch unmöglich?

Wenn die Guardians of the Galaxy alle Universalübersetzer im Ohr tragen, wieso kann zunächst nur Rocket Groot verstehen? Wieso hat Mittelerde genau eine Geisterarmee und was passiert, wenn ein Zwerg es mit einer Menschenfrau zur Sache gehen lässt, kommt dann ein normalgroßes Wesen bei raus? Wieso akzeptiert die Gesellschaft nur geisterjagende Männer? Wer bin ich und was mach ich eigentlich hier?

Sonntag, 28. Mai 2017

Das Zwei-Szenen-Wunder

Achtung, seid gewarnt! Der nachfolgende Artikel enthält zahlreiche Spoiler zu Pirates of the Caribbean - Salazars Rache!


Wie schon an anderer Stelle geschrieben: Obwohl es nicht zwingend danach aussieht, als stünde uns ein sechster Pirates of the Caribbean-Film garantiert ins Haus, kann ich nicht aus meiner Haut und über ihn und seine Möglichkeiten zu spekulieren. Und ein Punkt, der sich natürlich aufdrängt, ist die Frage: Welche der neu eingeführten Figuren sollten unbedingt zurückkehren?

Ganz vorne für mich dabei: Die Hexe Shansa, gespielt von Golshifteh Farahani in einer ungeheuerlich cool-bizarren Aufmachung. Ich will diese irre gestaltete Figur einfach wiedersehen - und finde, dass sie großes Potential birgt. Nicht nur, weil Farahani eine sehr fähige Schauspielerin ist und somit sicherlich noch viel mehr aus ihrer Rolle holen kann, sollte man von ihr mehr als Exposition abverlangen. Sondern auch, weil die wenigen Augenblicke mit ihr in Salazars Rache suggerieren, dass ihre Fähigkeiten denen von Tia Dalma kaum nachstehen - und dass Shansas moralischer Kompass noch ein Stückchen kaputter ist als der von Naomie Harris' herrlicher Göttin.

Es spricht enorm für Farahanis Leinwandwirkung und die Leistung von Kostümdesignerin Penny Rose sowie dem Make-up-Team, dass Shansa solch einen Eindruck hinterlassen hat - nicht nur bei mir, sondern bei allen, mit denen ich bisher über den Film gesprochen habe. Denn, mit Verlaub: Am fertigen Film beurteilt ist es nicht der Verdienst des Drehbuchautors Jeff Nathanson. Hatte Tia Dalma in ihren wenigen Minuten in Die Truhe des Todes dank ihrer Sprachticks, ihrer Andeutungen und der Reaktionen, die sie bei anderen Figuren hervorrief, einen gut eingewobenen Platz im Film (und eine Auswirkung auf den Plot, den sie unerlässlich erscheinen ließ, statt wie eine markante, aber praktische "Du kommst aus der Plotecke raus!"-Karte), ist Shansa letztlich nur eine beeindruckende Randerscheinung in ihrem Film.

Oder ... vielleicht auch nicht. Eventuell versucht sich Nathanson an einem Spagat und nutzt Shansa als Miss Exposition-Plotmotor, für den Fall, dass die Reihe mit Salazars Rache endet, baut sie aber im Beckett- und Tia-Dalma-Stil für den sechsten Teil vor, sollte er folgen. Dann ist Nathanson zwar nicht ganz im Ted-Elliott-Terry-Rossio-Club angelangt, aber cleverer als ich im ersten Augeblick dachte.

Achten wir nochmal genau darauf, was in Salazars Rache so passiert, wenn Shansa ihre Kreise zieht: In ihrer ersten Szene werden klar Ratten als ihr tierisches Markenzeichen eingeführt. Noch bevor Shansa auftaucht, sehen wir eine Ratte in der Taverne herumkraxeln, wo Jack zuvor seinen Kompass abgegeben hat. Shansa lässt später im Gespräch mit Barbossa fallen, dass sie seine Feinde verflucht hat. Sie erläutert ihm gegenüber zudem, dass die Toten die See beherrschen und es weiser wäre, sich an Land zur Ruhe zu setzen. Erst, als Barbossa widerspricht und unmissverständlich betont, weiter ein Pirat bleiben zu wollen, gibt Shansa Barbossa Jacks Kompass. Später deutet Shansa für die britische Marine die Sternenkarte, die Carina hinterlassen hat.

Ist Shansa wirklich nur eine Ploterläuterung auf zwei Beinen? Oder verfolgt sie etwa einen Plan? Die Ratte in der Tavernenszene suggeriert, dass Shansa noch vor Barbossas Eintreffen wusste, den Kompass zu brauchen. Und dass sie den Kompass erst hergibt, als Barbossa festhält, nicht vor den Toten fliehen zu wollen, deutet darauf hin, dass sie durchaus willens ist, Barbossa in diese gefährliche Situation zu bringen. Barbossa begnügt sich nicht damit, Jack Sparrow an Salazar auszuliefern, sondern erklärt dem Geisterkapitän den Krieg - einen Krieg, in den auch die Marine dank Shansas Hilfe zieht.

Ist es möglich, dass die Hexe ihren Teil dazu beigetragen hat, Barbossas Ende zu besiegeln? Wenn ja, weshalb? Das könnte uns der nächste Pirates of the Caribbean-Film verraten ...

Freitag, 26. Mai 2017

Freitag der Karibik #44


Käpt'n Jack Sparrow ist ein Glückspilz und Pechvogel zugleich - und er hat das sonderbare Talent, sich in einem ständigen Überlebenskampf besonders mächtige Feinde zu schaffen. Damit hat er etwas mit Pirates of the Caribbean gemeinsam: Die ersten vier Filme spülten zusammen rund 3,7 Milliarden Dollar in die Kinokassen ein, zudem eröffnete die Filmreihe als epochale, schroffe und zuweilen finstere Erzählung Disney neue Horizonte. Statt sich somit jedoch einen felsenfesten Ehrenplatz im Disney-Imperium zu erarbeiten, haben die Pirates of the Caribbean dadurch nur Konkurrenten und Probleme erschaffen, die dafür sorgen, dass wir hier nun sitzen, am US-Starttag von Salazars Rache und kopfkratzend rätseln, ob es wirklich einen sechsten Teil geben könnte.

Die Familiaisierung des Jerry Bruckheimer: Jerry Bruckheimer galt jahrzehntelang als gigantischer Erfolgsproduzent - und das, obwohl er sich hauptsächlich auf den Markt für Jugendliche junge Erwachsene stützte. Mit Gegen jede Regel feierte er seine Premiere unter der Disney-Flagge, Fluch der Karibik wurde sein bis dorthin größter Erfolg - und so änderte er seine Marktstrategie. Hinfort war der Produzent von R-Rating-Actionfilmen, stattdessen schlug er fortan wiederholt in die Pirates of the Caribbean-Kerbe und machte extrem aufwändige Abenteuer, die zwar rauer und härter sind als der Disney-Durchschnitt, aber auch familientauglicher als sein früheres Schaffen. Und dann war da noch Duell der Magier, der kein "echter" Bruckheimer-Film war, sondern den ihm Disney als hinter den Kulissen bereits nahezu fertiges Paket aufgeschwatzt hat. Mit dieser Schiene fuhr Bruckheimer abseits der Piraten jedoch wenig erfolgreich und in der Medienpresse wurde er als der Hauptschuldtragende gezeichnet. Sein Verhältnis zu Disney verfinsterte sich, und somit ist nun jeder neue Pirates of the Caribbean-Film eine Zitterpartie: Kommen Disney und Bruckheimer überhaupt ausreichend miteinander aus, um gemeinsam einen Film zu verwirklichen?

Die Bombastisierung des Disney-Konzerns: Fluch der Karibik war 2003 nicht nur für Walt Disney Pictures eine ungewöhnliche Angelegenheit, sondern sogleich für den gesamten Konzern. Zwar verantwortete die Disney Company mit Armageddon und Co. durchaus die eine oder andere gigantische Unterfangung, dennoch hielt man sich dahingehend eher zurück. Realfilme waren das Zubrot eines Konzerns, der seine Mühen im Kinomarkt in Animationsfilme steckt und auch vornehmlich dadurch verdient. Fluch der Karibik eröffnete Disney die Welt der wirtschaftlichen Möglichkeiten aufwändiger Bombastunterhaltung, die nicht mehr als klassische Familienunterhaltung durchgeht, die man aber auch nicht vor älteren Kindern verstecken müsste. Und so holte sich Disney Marvel und Star Wars ins Haus, die an den Kinokassen ähnliche Zahlen schreiben wie die karibischen Piraten. Marvel läuft abseits Avengers etwas schwächer, dafür sind diese Filme deutlich günstiger produziert, Star Wars ist keine wirkliche Kostenersparnis, aber lässt die Kasse ordentlich klingeln. Und dann ist da noch der Merchandisingmarkt: Kinder spielen wohl viel lieber mit Lichtschwertern, riesigen Hulk-Händen und mit Figuren in coolen Rüstungen als mit gammligen, verdreckten Piraten ... Wenn Disney seinen die gesamte Kinoindustrie aufhorchen lassenden Startkalender absteckt, dann liegt die Priorität nicht in der Karibik ...

Donnerstag, 25. Mai 2017

Ein Untertitel für den ersten karibischen Fluch


Disney hatte in Deutschland eine Phase, in der die Titel seiner früheren Erfolge verschlankt sowie vereinheitlicht wurden: Aus Peter Pans heitere Abenteuer wurde Peter Pan, aus Dornröschen und der Prinz wurde Dornröschen und aus Pongo und Perdita wurde 101 Dalmatiner, ganz so, wie sich Aschenputtel auch hierzulande zu Cinderella transformierte.

Ich mutmaße, dass diese Ära weit hinter uns liegt und eine Rückkehr ausgeschlossen liegt. Im Filmdiskurs sind lokale Titel auf langer Sicht nicht mehr so mächtig, da eh die jüngere Generation an Filminteressierten flüssig zwischen lokalem und Originaltitel changiert. Achtet in Zukunft mal darauf, wenn Leute über Die Eiskönigin reden, wie oft der Film doch zu Frozen wird und wieder zurückwandert ... Bei den Pirates of the Caribbean-Filmen brauchen wir bekanntlich gar nicht erst damit anfangen.

Aber da wir uns neulich in eine Welt fantasiert haben, in der Disneys sehr kurzfristiger Plan, eine "... der Karibik" zu erschaffen, durchgezogen wurde, habe ich Blut geleckt und stelle die Frage: Was, wenn Disney Deutschland in zehn, zwanzig Jahren, wenn haptische Sammlungen ein Luxusgut sind und nur noch in superedlen Versionen erscheinen, denkt, man könnte ja mal bei den Piraten sieben, acht Seemeilen extra segeln. Und neben Bergen an Bonusmaterial auch ein hübsch gestaltetes Booklet dazulegt sowie eine optionale Bildspur, die auf eine vereinheitlichte, kohärente Reihenbetitelung setzt. Was sollte dann passieren?

Es gibt zwei Optionen, wenn Disney voll und ganz einheitlich vorgehen will. Der Weg, einfach Fluch der Karibik zum Reihentitel zu machen, Teil zwei seinen einst geplanten Untertitel zu geben, und den Erstling so zu belassen, wie er heißt, ist etwas krumm. Dann hätten alle Filme einen Untertitel, nur der erste nicht. Alternativ könnte man allen Filmen den Pirates of the Caribbean-Übertitel geben und dem zweiten Part zwecks Titelästhetik von diesem dämlichen Fluch der Karibik 2 befreien und zur Truhe des Todes verwandeln. Aber auch hier stellt sich die Frage: Was machen wir mit dem Original?

Denn Pirates of the Caribbean - Fluch der Karibik ist per se ein netter Titel, aber auch etwas redundant. "Piraten der Karibik: Fluch der Karibik" ... da muss schon die Betonung sehr bewusst auf den "Fluch" gelegt werden, um zu erklären: "Es geht immer um die Piraten aus der Karibik, und dieses Mal besonders um ihren Fluch". Bei den Narnia-Filmen hat Disney die Dopplung ja auch nie gestört. Oder sagen wir uns: Wenn schon, denn schon, und vereinheitlichen die Reihe so, dass sie quasi durchweg daraus besteht, dass der Original-Übertitel bestehen bleibt und der Untertitel übersetzt wird?

Ich ahne es: Ich verwirre euch so sehr, wie die Storyfäden der PotC-Saga den Großteil der US-Kritiker. Also kommen wir einfach zu meinen Hirngespinsten in drei Ausführungen.

Version 1: Fluch der Karibik als deutscher Übertitel
  • Fluch der Karibik -Die Piraten der Black Pearl
  • Fluch der Karibik - Die Truhe des Todes
  • Fluch der Karibik - Am Ende der Welt
  • Fluch der Karibik - Fremde Gezeiten
  • Fluch der Karibik - Tote Männer erzählen keine Geschichten
Version 2: Es wird durchweg zur Pirates of the Caribbean-Saga, aber wir wollen den so gut eingebürgerten deutschen Titel behalten, Dopplung hin oder her
  • Pirates of the Caribbean - Fluch der Karibik
  • Pirates of the Caribbean - Die Truhe des Todes
  • Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt
  • Pirates of the Caribbean - Fremde Gezeiten
  • Pirates of the Caribbean - Tote Männer erzählen keine Geschichten
Version 3: Sorry, Fluch der Karibik, wir werden dich alle in Erinnerung behalten, aber wir machen das nun auf die amerikanische Titelart!
  • Pirates of the Caribbean - Der Fluch der Black Pearl
  • Pirates of the Caribbean - Die Truhe des Todes
  • Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt
  • Pirates of the Caribbean - Fremde Gezeiten
  • Pirates of the Caribbean - Tote Männer erzählen keine Geschichten
Eure Präferenzen und Ideen? Außerdem sind weiter gerne Spinnereien zur "... der Karibik"-Betitelung gesehen, das macht ja schon irgendwie Spaß ...

Mittwoch, 24. Mai 2017

Directors of the Caribbean: The Search for the Next One


Wie es sich für Fans einer Filmreihe gehört, kann die Spekulation über den nächsten Film nicht früh genug beginnen. Selbst wenn es im Fall Pirates of the Caribbean knifflig aussieht. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass es in naher Zukunft mit den Piraten weiter geht. Disney und Jerry Bruckheimer sind sich einfach nicht mehr so grün wie einst. Disney hat mit Marvel und Star Wars zwei riesige, enorm profitable Franchises in der Hand und haben es somit nicht mehr "nötig" in See zu stechen. Zumal die Pirates of the Caribbean-Filme von Natur aus verflixt teuer sind. Und dann ist da noch die Depp-Frage.

Aber sind wir einfach mal kurz optimistisch. Einfach aus dem Spaß an der Freud an der Spekulation. Für mich steht fest: Wenn es weiter geht, wünsche ich mir ein Drehbuch von Ted Elliott & Terry Rossio (den Autoren der ersten vier Filme) oder von Jeff Nathanson, der mich bei meiner Erstsichtung von Salazars Rache zwar mehrfach ins Schwitzen gebracht hat, aber letztlich bewies, die Logik, Tonalität, Sprache und Mythologie dieser Reihe verstanden zu haben. Nur ... wer soll dieses Drehbuch inszenieren? Hier meine Ideen ...
  • Bill Condon: Hat eine gute Beziehung zu Disney. Weiß, mit visuellem Pomp umzugehen. Beherrscht eine Pirates of the Caribbean-taugliche Farbpalette (siehe: die Tavernenszenen in Die Schöne und das Biest). Von ihm könnte ich mir einen Film vorstellen, der mehr in Richtung "prunkvolles Piratenabenteuer" geht.
  • Scott Derrickson: Kann übernatürliche PG-13-Blockbuster (Doctor Strange), hat offenbar ein Händchen für kreative Effektsequenzen und ist (ähnlich wie Gore Verbinski) "an odd duck". Von ihm könnte ich mir einen Teil vorstellen, der die düster-fantastische Ader der Reihe auf interessante Weise weiterverfolgt. Zudem bekommt man viel Spektakel für vergleichsweise niedriges Budget.
  • Fede Alvarez: Der Don't Breathe-Regisseur weiß, sehr klug mit seinem Budget umzugehen (ich prognostiziere, dass das ein sehr wichtiger Aspekt sein wird: Disney wird bei einem etwaigen sechsten Film mit Sicherheit maximal Salazars Rache-Summen ausgeben wollen). Er choreografiert visuell interessante Szenen und dirigiert die Klanglandschaft beeindruckend. Kann selbst ohne explizite Gewalt enorm Spannung schüren, seine Gewaltspitzen werden sehr kreativ sein. Er hat Vorlieben, die dem Grundstock der Reihe zukommen: Gore Verbinski ließ einen Hauch Tanz der Teufel in das Geschehen einfließen, Alvarez hat das Evil Dead-Remake gedreht, das eine rockige Attitüde mitbrachte: Ohne trashy zu werden, machten dessen Gewaltexzesse riesigen Spaß. Das ist der Verbinski-Funke, den ich mir liebend gern nochmal in etwas anderer Form gebe.
  • Christopher McQuarrie: Wenn wir die "unterhaltsame, schnelle, spannende Setpieces stehen im Fokus"-Route gehen sollten.
  • Peyton Reed: Wenn Disney/Bruckheimer danach ist, das Verhältnis "düstere Teile" zu "Abenteuerspaß-Filme mit gelegentlich dunkleren Phasen" auszugleichen, dann traue ich dank Ant-Man Peyton Reed eine originelle Fortführung der Reihe zu.
  • Joe Wright: Wenn man ihm verbietet, zur Inspiration Baz-Luhrmann-Filme zu gucken, könnte er was visuell spannendes machen. Wright wäre eine dringende Empfehlung, sollte der nächste Teil stärker charaktergesteuert-dramatisch werden. Und, hey, Joe Wright hat ja zu gewissen Schauspieltalenten einen guten Draht, von denen ich mir in Teil sechs viel Leinwandzeit wünschen würde, wenn wir hier gerade eh schon träumen ...
  • Lorene Scafaria: Hat den "Hey, mit der arbeite ich gern nochmal zusammen"-Bonus, den auch Joe Wright mitbringt, und ist ein Talent darin, verzettelte Tonalitäten zu einem schönen Ganzen zu weben. Und ich mag es, wie sie trockenen Wortwitz in Szene setzt. Keine Ahnung, ob sie Action kann, aber, frei nach der Marvel-Studios-Schule: "Wir wollen Regisseure, die die Figuren verstehen. Wenn sie Hilfe bei der Action brauchen, wir kennen da die Richtigen ..."
  • Andrea Arnold: Hat schonmal mit Kaya Scodelario zusammengearbeitet, hat einen starken visuellen Stil und schafft es, lange Filme so zu erzählen, dass sie sich kurz und knackig anfühlen. Bei ihr wirken selbst garstige Figuren interessant (und so manche Pressevertreter haben ja offenbar Probleme, mit Disneys Piraten mitzufiebern, gleichwohl würde ich sie kein Stück verharmlost sehen wollen). Nur ihre Vorliebe zum Academy-Ratio-Bildformat müsste sie bitte ausnahmsweise zurückstecken.
  • Lone Scherfig: Ist sehr gut darin, komplexe, widersprüchliche Tonfälle so zu verweben, dass der Film nicht auseinander klafft, sondern ein stimmiges, emotionales Hin-und-Her ergibt. Ich liebe die Pirates of the Caribbean-Filme ja, weil sie albern-dreckig-frech-epochal-bombastisch-düster-clever-bescheuert-actionreich-dialoglastig sind. Also braucht's solch ein Talent.
  • Julie Taymor: Ich habe eine komplizierte Beziehung zu ihr, aber sie wäre definitiv eine Wahl, bei der ich sagen würde: "Oh, das wird spannend." Anders als bei diversen anderen Namen auf dieser Liste würde ich mir aber einen kontrollierenden Einfluss von Studioseite aus wünschen, damit sie sich nicht in Ideen verrennt, die nicht so ganz aufgehen.
  • Joachim Rønning & Espen Sandberg: Ich mag es ja, wenn Filmreihen eine gewisse Symmetrie oder sonstige handwerkliche Logik mit sich bringen. Daher ist meine Idealvorstellung für die ersten sechs Pirates of the Caribbean-Filme: Nach der zusammenhängenden Gore-Verbinski-Trilogie folgt eine etwas losere Trilogie von wechselnden, fähigen Regisseuren. Bevor wir für PotC 6 aber irgendeinen lahmen "Journeyman" bekommen, eine talentierte, aber desinteressierte Person oder gar eine völlige Nulpe, würde ich ohne mit der Wimper zu zucken sagen: "Okay, ist die Reihe hinter den Kulissen halt was krumm geraten und nach drei Mal dem selben Regisseur und einem einmaligen Ausflug machen es die Kon-Tiki-Jungs zwei Mal." Sie sind Fans der Reihe, talentiert, haben für Salazars Rache weniger ausgegeben als Rob Marshall für Fremde Gezeiten und zudem gefällt mir, was sie geleistet haben. Also: Bevor alle Stricke reißen, nehme ich sehr gerne die Beiden nochmal!
Und, was sind eure Vorschläge?

Dienstag, 23. Mai 2017

Bias of the Caribbean: The Curse of Disney's Happiness


2016 war ein äußerst seltsames Jahr in der Historie des digitalen Filmdiskurs. Die Diskrepanz zwischen den von Rottentomatoes gelisteten Kritikern und den emsigsten Zirkeln an Social-Media-Filmdiskutanten lag häufig weit auseinander und selten häuften sich derart Filme, wo der Kritikerkonsens dermaßen harsch in Kommentarsektionen zerlegt wurde. Es wurde fast schon zum Online-Running-Gag, und die Reaktionen der DC-Fans, die Warners jüngsten Schub an Verfilmungen mochten, auf die weitestgehend negativen Kritiken sorgten mehrfach für Schlagzeilen. Von der ganzen Ghostbusters-Chose will ich gar nicht erst anfangen ...

2016 wurde auch die (von manchen Leuten tatsächlich ernst gemeinte) Verschwörungstheorie populär, Filmkritiker würden in ihren Urteilen gelenkt. Vor allem Disney würde mit seinen tiefen Taschen dafür sorgen, Kritiker dahin zu schmieren, alles von Marvel toll und ausgewählte Filme der Konkurrenz (vor allem Warner/DC) doof zu finden. Ähnliche "Alles nur eine abgekartete Sache"-Theorien erfreuten sich ebenfalls einer gewissen Beliebtheit.

Keine haltlosen Vorwürfe, lieber Dynamiken nachvollziehen
Enttäuschung durch an den Haaren herbeigezogene Verschwörungstheorien zu kompensieren ist, gelinde gesagt, arm. Und haltlos. Und es hilft niemandem. Es erschwert eher noch das Führen eines Filmdiskurses. Es gibt kein Schmiergeld und es sich einzureden, raubt nur die Möglichkeit, seine Filmpassion weiter auch durch das Genießen spannender Kritiken und Analysen zu verschönern (die man im riesigen Meer des Angebots ja einfach nur finden muss).

Nun nehme ich meine Branche aber nicht einfach auch aus egoistischen Gründen in Schutz. Schließlich widerspreche ich auch oft genug dem Kritikerkonsens. Es ist allen geholfen, von diesem sonderbaren Gedanken wegzukommen, ein hoher Rottentomatoes-Wert ist ein Status, den sich ein Film erarbeiten muss. Und wir müssen davon wegkommen, Kritiken so verbissen hinzunehmen. Natürlich gibt es Fälle, denen anzumerken ist, dass sich da jemand beim Schreiben sehr wichtig genommen hat und versucht, der Leserschaft etwas vorzuschreiben. Meist ist dem aber nicht so. Kritiken sind Einschätzungen, Orientierungshilfen, Diskussionsmotoren. Und als solche auch nicht zwingend in Stein gemeißelt - alteingesessene Publikationen blicken daher auch gerne Mal zurück, wenn ein Kultklassiker anno dazumal von ihnen verrissen oder ein legendärer Flop gefeiert wurde.

Vor allem sind auch Mitglieder des Kritikerzirkels nur Menschen, keine Filmkunstanalyseroboter. Und als solche können wir auch mal von Eigendynamiken oder Kontexten mitgerissen werden. Was auch völlig okay ist. Schließlich schreiben wir ja primär auch für andere Menschen, nicht für irgendwelche Rottentomatoes-Algorithmen - und somit sind die Adressaten von Kritiken ebenfalls Teile von Dynamiken und Kontexten - vor allem aber auch im Idealfall mündig und des selbstständigen Denkens fähig. So dass sie eine negative Kritik auch mal mit einem "Wow, find ich geil!"-Gedanken niederlegen können.

Der Kontext verändert nicht zwingend die Noten, aber sicher die Akustik
Wenn also etwa in unserer modernen Welle an aufwändigen, ambitionierten Superheldenfilmen ein Werk daherkommt, dass eher durchschnittlich ist, dann mag es zwischen den ganzen Genrekollegen enttäuschend sein. Selbst wenn sich das Kinopublikum 1985 noch nach solch einem Film alle Finger geschleckt hätte. Und so passioniert La La Land sein mag, so clever im Einfädeln seiner Referenzen in seine eigene Story, so mitreißend die Songs: Als praktisch ironiefreies Musical, das nicht im Videoclipstil daherkommt und genauso wenig ein Märchen erzählt, ist der Film heute einfach viel erfrischender und andersartiger als es 1950 der Fall gewesen wäre.

Eine ausführliche Kritik kann den Kontext dafür liefern. Und selbst wenn sie es nicht explizit klar macht, so lässt sie vielleicht den Interessenten beim Lesen genug Raum für Selbstrelexion, um zu erkennen: "Ja, Mittelmäßigman ist wirklich nicht schlecht. Er sieht nur im Vergleich zu den restlichen Superheldenfilmen des Jahres eher mies aus." Rottentomatoes hingegen ... kriegt das nicht gebacken und generiert aus den gesammelten Kritiken eine Zahl. Punkt, Ende, Aus.

Verwirrende Meinungsscheren und variierende Erwartungen
Das Abschneiden von Pirates of the Caribbean - Salazars Rache sorgte dieser Tage bei nicht wenigen Filmliebhabern für Verwirrung: Sowohl nach der Preview auf der Branchenexpo als auch nach dem Ende des Social-Media-Embargos war der Konsens sehr positiv. Von einem nötigen frischen Wind war die Rede, der plötzlichen Lust nach weiteren Filmen und einem rundum feinen Abenteuer. Und nun: Mickrige 34 Prozent bei Rottentomatoes. Wie kommt sowas nur zustande? Sind die Kritiker denn alle verrückt geworden?

Nein, das nicht. Rottentomatoes führt nicht über jede einzelne Kritik Buch, die im englischsprachigen Web veröffentlicht wird. Entertainment-Reporter, wie die diversen Leute von Collider, Slashfilm und Co., die zum positiven ersten Reaktionsschub beigetragen haben, werden von Rottentomatoes ignoriert. Und sind eher Teil der Zielgruppe, die solch ein Fantasy-Abenteuer-Komödien-Spektakel loben werden als die etwas diversere Gruppe, die Rottentomatoes berücksichtigt. Hinzu kommt, dass manche einschlägige Portale unterschiedliche Redakteure zur Cinema Con schickten und die Kritik verfassen ließen (auch wenn das Optimismusgefälle schon extrem ist).

Und dann zählt Rottentomatoes halt einfach anders. Weil es unbenotete Kritiken eine Wertung draufpackt. Ich habe mir nach der Pressevorführung im Zug nach Hause in meine Notizen unter anderem geschrieben, dass Salazars Rache allem Humor zum Trotz für Disney-Maßstäbe ein sehr sadistischer, fieser, gemeiner, dreckiger Film ist. Ich finde sowas klasse. Wäre ich rottentomatoesrelevant, könnte das Portal dem Kontext meiner Kritik vielleicht entnehmen, dass die Review bitte als "fresh" zu werten ist, aber bei vielen anderen Kritikern könnte das eher negativ klingen - was dem Pirates of the Caribbean-Zielpublikum schnuppe sein dürfte. Aber es kostet de Film ein paar Prozentpunkte.

Was mich zu einer Feststellung führt: Die (für Rottentomatoes nennenswerten) US-Kritiker scheinen ein ordentliches Problem damit zu haben, wenn ein Film unter der Disney-Flagge segelt, aber gar nicht die muntere, fröhlich-bunte Weltflucht liefert, die sonst mit diesem Namen verbunden wird. Wie viele Kritiken zu Gore Verbinskis Pirates of the Caribbean-Fortsetzungen beinhalteten Variationen von "zu düster", "zu ernst" oder "nicht lustig genug". Dinge, die Gareth Edwards Godzilla, einem Herr der Ringe oder einem Daniel-Craig-Bond von der schreibenden Zunft nicht so leichtsinnig vorgeworfen werden. Oh, aber ein Disney-Seefahrer-Fantasyepos, das hat bitte fluffig, bunt und nett zu sein.

Aber nehmen wir nicht mein Geschwafel für bare Münze. Und schauen auf die Zahlen, die ja als so wichtig erachtet werden.  Nimmt man sich die wenigen Disney-Filme (also astrein, klassisches Disney, nicht Marvel, Star Wars und Co.) mit einem PG-13-Rating, also einer höheren US-Jugendfreigabe als sonst vom Studio gewohnt, zeigt sich ein klares Bild.

Fresh (PG-13):
Fluch der Karibik (2003): 79%
Saving Mr. Banks (2013): 78%
The Finest Hours (2016): 63%

Rotten (PG-13):
Pirates of the Caribbean - Fluch der Karibik 2 (2006): 54%
John Carter (2012): 51%
Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt (2007): 45%
Prince of Persia - Der Sand der Zeit (2010): 36%
Pirates of the Caribbean - Salazars Rache (2017): 34%
Pirates of the Caribbean - Fremde Gezeiten (2011): 32%
Lone Ranger (2013): 31%

Nun werden manche sagen: "Disney macht halt einfach oft miese Filme". Andere werden den einen oder anderen dieser Filme in Schutz nehmen. Und einen Kausalzusammenhang kann ich hiermit nicht belegen, das ist mir klar. Ebenso ist mir bewusst, dass Korrelationen nicht zwangsweise etwas belegen. Interessant finde ich es dennoch: Fluch der Karibik, der für Disney in Sachen "mutigerem" Entertainment als Eisbrecher fungierte (und ironischerweise nicht mit dem Disney-Logo beginnt, sondern es am Ende versteckt) ist "fresh". Saving Mr. Banks, der von der Entstehung eines Disney-Films handelt, steht ebenfalls sehr positiv dar. Und The Finest Hours ... verwirrt mich. Tun wir ihn als Ausnahme ab. Der Rest, alle Piratenepen, die ja laut manchen Kollegen doch bitte einfach nur Komödien sein sollten, Gore Verbinskis zuweilen sehr garstiger Westernritt, die Pirates-Wüstenantwort Prince of Persia und John Carter, der seinen Helden in einer Szene unter einem Berg von Leichen vergräbt ... sie alle sind also schlecht. Schon ein hübscher Zufall.

Vielleicht ist da tatsächlich diese Eigendynamik, die zum Zuge kommt. Die alteingesessenen US-Kritiker rechnen damit, dass Disney ihnen leichten Familienspaß liefert. Dann bekommen sie etwas ganz anderes serviert, und sie reagieren entsprechend darauf. In einer Langkritik kann sich aus diesem Clash zwischen Wunsch und Filmprodukt was spannendes ergeben - oder auch ein Beispiel für voreingenommene Perspektiven, die einem Film die Chance nehmen, gerecht besprochen zu werden. Kommt immer drauf an. Rottentomatoes differenziert da nicht. Und da können noch so viele Social-Media-Vorabkritiken von jüngeren Kritikern, die das "härtere" Disney nicht so verwunderlich finden, Salazars Rache loben. Deswegen muss man aber nicht gleich Sturm laufen und das Gekeile von 2016 im Namen der Piraten fortführen oder seinen Glauben an die Filmkritik aufgeben.

Vielleicht hat aber auch einfach Warner Bros. dieses Mal den größeren Betrag Schmiergeld gezahlt. Das wäre natürlich unerhört ...

Ich verzichte mal darauf, die Ironie zu kennzeichnen. Ich vertraue euch!

Montag, 22. Mai 2017

"Pirates of the Caribbean – Salazars Rache": Ein Film, so viele Meinungen ...


Es ist endlich wieder so weit: Nach Jahren des Wartens öffnet sich das nächste Kapitel der Pirates of the Caribbean-Saga. Die Pressevorführung des fünften Teils dieser Disney/Bruckheimer-Reihe war für mich eine ziemlich aufreibende Angelegenheit, immerhin geht es mit meinem Lieblings-Filmfranchise weiter. Und vielleicht kennt ihr dieses Gefühl von euren jeweiligen Topfavoriten: Der neue Eintrag in die Reihe fühlt sich im ersten Moment immer etwas fremd an, ganz gleich, wie gut man ihn im ersten Moment einschätzt. Schließlich lebte man zuvor einige Zeit in einer Welt, in der die vorhergegangenen Filme eine in Zement gemeißelte Einheit bildeten. Und jetzt ist da plötzlich ein neuer Film mit dabei ... Und im Falle von Pirates of the Caribbean – Salazars Rache kommt noch hinzu: Ich habe den Film ja nicht einfach für mich allein geguckt, sondern im Auftrage meines Filmkritikerjobs. Ja, ja, ich kann wirklich nicht klagen, schließlich konnte ich die Produktion daher noch vor dem Kinostart sehen. Dennoch fügt dies eine weitere Dimension der Distanzierung zum Geschehen hinzu.

Und so kommt es, dass in meinem Kopf eine Vielzahl an Beobachtungen, Perspektiven und Meinungen herumschwirrt, die ich zu diesem Piratenabenteuer festhalten kann. Aber wozu hat man seine eigene Seite, wenn man sie nicht für solch eine unkonventionelle Rezension nutzt?

Die Feststellung, die ich an die Gegner der Reihe richten möchte: Zunächst einmal ... Leute, was stimmt mit euch nicht? Wie könnt ihr nur Pirates of the Caribbean nicht mögen? Aber, gut ... So sehr ich dem neuen Film ein stattliches Einspielergebnis gönne: Ihr wärt bei Salazars Rache im Kinosaal fehl am Platz. Man muss die anderen Filme nicht gesehen haben, um der Handlung zu folgen (es sei denn man ist von der Art "Ich weiß, dass es vorher Filme gab, also stelle ich bei jeder Kleinigkeit übergenaue Fragen, um zu erfahren, was ich vielleicht versäumt habe!"), allerdings stützt Drehbuchautor Jeff Nathanson, obwohl er neu zur Reihe hinzugestoßen ist, ein Gros des emotionalen Rückgrats darauf, dass wir die Figuren bereits kennen und lieben gelernt haben. Und obwohl Salazars Rache seine eigene Grundstimmung hat (so wie auch alle Teile zuvor), so setzt er sich ganz klar aus den typischen Pirates of the Caribbean-Zutaten zusammen (wie halt die anderen vier Filme). Wer also bislang nicht einen einzigen Film dieser Saga mochte, wird auch hier auf Elemente stoßen, die bisher für Abneigung sorgten. Ich mein, klar, es gibt immer Leute, die als lebende Ausnahme die Regel bestätigen, trotzdem würde ich dazu tendieren: Gebt lieber erstmal den bisherigen Teilen noch eine Chance, als vertrauensselig in den fünften zu gehen.

Die geerdete (Landgang-)Meinung: Visuell pompöses Piratenabenteuer mit einigen erstaunlichen Specialeffects und superaufwändigem Produktionsdesign sowie starken Kostümen. Mit Disney-Grenzen testendem, ultraräudigem Dialogwitz und sehr sympathischen Neuzugängen zum bisherigen Pirates-Cast. Die Musikuntermalung ist schmissig, schön und eingängig, wenngleich de neuen Motive eher rar gesät sind. Depp ist im ersten Drittel in ein paar Szenen "off", wird aber nach und nach zum guten, alten Käpt'n Jack. Der Action fehlt Gore Verbinskis Wahnsinn, jedoch ist sie trefflich geschnitten und abwechslungsreich. Das Storytelling ist ungewohnt schlicht für die Reihe, dafür mit emotionalem Rückgrat: Lauter, schräger, düsterer als Teil 1, schneller als der vierte Teil, bescheidener und stringenter als zwei und drei. Wer wenigstens irgendeinen der bisherigen Pirates of the Caribbean-Filme mochte, sollte erneut ins Kino, denn auch wenn Salazars Rache wohl bei wenigen zum Favoriten werden dürfte, so hat er das Zeug dazu, sich in vielen Herzen als guter Rang zwei oder drei innerhalb der Saga zu platzieren.

Die Fan-Perspektive: Eine sadistische, passionierte Verneigung vor der Reihe. Der Filmkanon wird von Nathanson sowie den Regisseuren Joachim Rønning und Espen Sandberg mehrfach in Frage gestellt, woraufhin sie mit etwas Abstand zurück rudern, mit einem fiesen Grinsen im Gesicht: "Nein, wir haben eben kein Loch in Figurenentwicklung und Kontinuität geschossen. Reingefallen!". Das erweiterte Universum … äh … wird anerkannt, aber es wird Diskussionen geben, die es über (mögliche) Ungenauigkeiten zu führen gilt. Der Film hat dafür mehrere dicke, saftige Fanservice-Momente. Wenn es der letzte Teil sein sollte, ist’s ein sehr würdevolles Ende.

Ich, ganz privat, als jemand, der dieses Franchise ganz, ganz nah am Herzen trägt: So bin ich noch nie in einer Pressevorführung durch Himmel und Hölle gegangen. Was für ein Glück, dass ich relativ abgeschottet saß und mich daher niemand hat sehen oder hören können. Gigantische Momente der Freude wechselten sich mit intensivster Besorgnis ab. Mehrmals täuschte der Film an, eher ein "Ok, das ist was für Gelegenheitsfans und Popcornkinogänger, aber das, was ich suche, ignoriert er"-Projekt zu sein, nur um mich dann vollauf zu entschädigen. An mehreren Stellen war ich kurz vor der Resignation, nur um mich dann mit aller Macht zurückzuhalten und nicht laut klatschend, aus dem Sessel hüpfend meine Freude zu proklamieren: "Ja! Ja! Danke, wie genial!" Aber, nur um es noch einmal ganz sicher festzuhalten: Es wird (kaum) wem so ergehen wie mir! Aber ich, mit meiner intensiven, emotionalen Bindung zu der Reihe, ihren Themen, Figuren und Musikstücken war nach diesem ersten Salazars Rache-Seherlebnis außer Atem und brauchte etwas, um wieder runterzukommen. Und, wow, was freue ich mich auf die entspannte(re) Zweitsichtung, wenn ich mich zurücklehnen und in den Saal horchen kann, ob irgendwo ein Menschlein sitzt und so hörbar mitleidet und mitjubelt wie ich beim ersten Mal. Ich, als wer, der die irrsinnige, aberwitzige, überambitionierte Seite der Reihe mag, werde ihn auf Dauer trotz dieser unfassbar intensiven Erfahrung beim ersten Gucken nicht so feiern wie meinen Lieblingsteil. Aber, hey, meinen liebsten Pirates of the Caribbean mögt ihr da draußen im Durchschnitt nicht so sehr wie ich, da ist das nur ausgleichende Gerechtigkeit. Nur das Kopfzerbrechen, wie ich den Piratenspaß gern fortführen würde, das wird mich in den nächsten Tagen und Wochen beschäftigen.

Ab den Abendstunden am 24. Mai könnt ihr euch ebenfalls auf Pirates of the Caribbean – Salazars Rache einlassen. Ich würde empfehlen, eher auf 3D zu verzichten, es sei denn, ihr seid 3D-Fans, habt ein gutes 3D-Kino in eurer Nähe oder seid innige Fans und die 2D-Optionen sagen euch zeitlich nicht so sehr zu. So oder so: Habt Spaß. Und: Trinkt aus, Piraten, Yo-Ho!

Die glorreichen Sieben


Seit nunmehr 15 Jahren zehrt der US-amerikanische Filmemacher Antoine Fuqua von der äußerst positiven Reaktion auf seine dritte Langfilmregiearbeit, Training Day. Der Polizistenthriller mit Ethan Hawke und Denzel Washington, der in moralische Abgründe blickt, erntete nicht nur positive Kritiken, sondern generierte zudem beachtliche Einnahmen an den Kinokassen. Darüber hinaus wurde Training Day mit einem Academy Award für Denzel Washingtons Darbietung als Hauptdarsteller bedacht, obendrein erhielt Hawke eine Oscar-Nominierung als Nebendarsteller.

Seither wird Fuqua in Promomaterialien stets ehrfürchtig als „Regisseur von Training Day“ bezeichnet – was jedoch nicht nur an den Wellen liegt, die der Thriller schlug, sondern auch daran, dass Fuqua keinen waschechten Nachfolgekracher lieferte. Der Bruce-Willis-Kriegsfilm Tränen der Sonne ging kurz nach Training Day unter. Die Rückmeldungen auf das Jerry-Bruckheimer-Schlachtengemälde King Arthur fielen zumeist bescheiden aus, auch die restlichen Fuqua-Projekte der 2000er-Jahre hinterließen kaum einen Eindruck. Dieses Jahrzehnt war etwas gnädiger mit Fuqua, war der Actioner Olympus Has Fallen doch immerhin ein umstrittener Achtungserfolg, ebenso wie das die Geister scheidende Boxerdrama Southpaw. Im filmischen Diskurs reichten aber auch sie nicht an den preisgekrönten Copthriller heran.

Zwischendurch verwirklichte Fuqua jedoch noch den lose auf einer Fernsehserie basierenden Kinofilm The Equalizer. Weltweit nahm Fuquas erneute Zusammenarbeit mit Denzel Washington etwas weniger als 200 Millionen Dollar ein. Zusätzlich zum respektablen Ergebnis hat der harte Actionthriller auch eine gelungene Umsetzung aufzuweisen: Fuqua funktioniert wohl einfach am besten, wenn Washington vor seiner Kamera steht. Diese Tendenz bestätigt sich nun durch den kernigen Action-Western Die glorreichen Sieben, in dem das Regisseur-Schauspieler-Gespann die Vorlagen nur als grobe Orientierung nimmt und sein eigenes, stimmiges Ding durchzieht.

Antihelden schlagen zu
Amerika, kurz nach dem Bürgerkrieg: Im Wilden Westen gilt das Gesetz des Stärkeren, und als stärker gilt derjenige, der sich entsprechend zu verkaufen versteht. Das Städtchen Rose Creek befindet sich daher völlig unter der Kontrolle des ruchlosen Geschäftsmanns Bartholomew Bogue (Peter Sarsgaard). Als Emma Cullens (Hardcore-Darstellerin Haley Bennett) Gatte durch die Schergen Bogues über den Jordan geschickt wird, reißt ihr der Geduldsfaden: Sie nimmt all ihren Mut sowie all ihr Hab und Gut zusammen, um den Kopfgeldjäger Sam Chisolm (Denzel Washington) anzuheuern. Dieser soll Bogue in seine Schranken verweisen.

Da selbst der todesmutige Chisolm weiß, allein keine Chance zu haben, stellt er eine Bande von Revolverhelden zusammen, um sich gegen den Tyrannen zur Wehr zu setzen. Vom trickreichen Josh Farraday (Chris Pratt) über den legendären Scharfschützen Goodnight Robicheaux (Ethan Hawke) und dessen nahkampferfahrenen Weggefährten Billy Rocks (Byung-Hun Lee) hin zum selbstgerechten Jäger Jack Horne (Vincent D’Onofrio) und dem Outlaw Vasquez (Manuel Garcia-Rulfo) sowie zum schweigsamen Ureinwohner Red Harvest (Martin Sensmeier): Die uneingespielte Truppe nimmt die Herausforderung, Bogue aus Rose Creek zu vertreiben, an – koste es, was es wolle.

Legte Die sieben Samurai von Akira Kurosawa größeren Wert auf die Dynamik innerhalb der titelgebenden Figurengruppe, hatte John Sturges‘ US-Remake Die glorreichen Sieben von 1960 eine gewisse Grazie aufzuweisen und kommentierte, dass seine heroischen Titelhelden möglicherweise eine Selbstmordmission eingehen. Fuqua wiederum geht in eine wieder andere Richtung und nimmt das grundlegende Konzept, um es mit seiner für ihn typischen Mischung aus Zugänglichkeit und Derbheit anzupacken: Auch wenn sein Die glorreichen Sieben kein deprimierender, grimmer Western wie etwa Erbarmungslos ist, so lebt dieser Film davon, dass er eine raue Epoche zeigt und diese als Spielwiese für handgemachte Action nutzt. Herzstück des Films ist daher die fast ein Viertel der Gesamtlaufzeit einnehmende Verteidigung der Stadt, die Fuqua mit einer Vielzahl an trickreichen Pferdestunts und punktgenau inszenierten, abwechslungsreich choreografierten Schießereien spickt.

Doch auch zuvor verschmilzt er vor abgewetzten Setbauten in weiteren Scharmützeln den Pomp moderner Blockbuster mit einer Old-School-Western-Attitüde. Zwischen den Actioneinlagen wird diese Auf-den-Tisch-hau-Version des Die sieben Samurai/Die glorreichen Sieben-Motivs von markigen Dialogen getragen: Peter Sarsgaards Schurke erläutert genüsslich seine kapitalistische Weltsicht und klingt dabei viel eher wie ein Terrorist, Chris Pratt paart in seinen Sequenzen sein magnetisches Charisma mit einer abgeschmackten Bitternis und wenn sich alle Sieben versammelt haben, so atmet deren kurzweilig-grantige Interaktion den Geist klassischer Westernhaudegen – nur mit einer schrofferen Grundeinstellung: Diese glorreichen Sieben sind Antihelden durch und durch, und Fuqua legt darauf Wert, in deren Weltsicht zu versinken, statt sie zu erläutern.

Tonalität statt Figurenzeichnung
Zweifelsohne: True Detective-Autor Nic Pizzolatto und Richard Wenk bleiben in ihrem Skript bei der Charakterarbeit stur an der Oberfläche. Allein Washingtons Rolle hat eine konkrete Motivation, dem überschaubaren Wüstendorf zu helfen, mit einem nennenswerten inneren Konflikt ist lediglich Ethan Hawkes Figur versehen. Mehr Gewicht wird der Grundstimmung der hier entworfenen Filmwelt sowie einem mit Fallstricken gespickten Handlungsverlauf beigemessen – am besten versinnbildlicht durch Chris Pratts Josh Farraday, der sich seinem Umfeld gegenüber mit perfider Freude als freundlicher Scherzkeks ausgibt, es in Wahrheit jedoch faustdick hinter den Ohren hat. Während die Diskrepanz zwischen Schein und Sein bei Farraday zu amüsantem Effekt sehr offensichtlich ausgespielt wird, zieht sich dieses Element wie ein roter Faden durch Fuquas Die glorreichen Sieben: Ohne sogleich eine dramatische Western-Dekonstruktion zu kreieren, schafft der Shooter-Macher ein Bild des Wilden Westens als Zeit und Ort der Behauptung. Erst einmal eine Richtung eingeschlagen, gibt es kein Zurück mehr, da sonst das vorgegebene Durchsetzungsvermögen leiden würde.

Vor dem Hintergrund, dass nicht das Innenleben der Figuren Priorität hat, sondern die Mentalität ihrer Epoche, lassen sich die Nachlässigkeiten in der Charakterzeichnung noch verzeihen. Mit Sarsgaards schmierigen Antagonisten hat der Plot auch so eine funktionierende Antriebsfeder, des Weiteren hält die knackige Dramaturgie der Actioneinlagen Die glorreichen Sieben trotz der übersichtlichen Story am Laufen. Das Schlechteste kommt bei Fuqua zum Schluss: Nach rund zwei unsentimentalen Stunden handgemacht-staubiger, herber Western-Optik inklusiver althergebrachter Stuntarbeit beendet der Regisseur seinen tonalen Rücksturz in eine frühere Kinoepoche mit einem rührseligen Erzählkommentar und klinischen Digitalbildern. Diese auf den allerletzten Metern erfolgende Inkonsequenz dämpft die kompromisslose Grundstimmung von Fuquas gewollt ungalanter Die glorreichen Sieben-Neuauflage.

Fazit: Rau, actionreich und auf reizvolle Weise altmodisch: Fuquas Die glorreichen Sieben schickt sich zwar nicht an, in den Kinoolymp aufzusteigen, allerdings ist dem Training Day-Regisseur ein knackiger, kerniger Action-Western gelungen, dem die Stimmung mehr Wert ist als die Figurenzeichnung.

Diese Review erschien zuerst bei Quotenmeter

Freitag, 19. Mai 2017

Freitag der Karibik #43


Disney und seine internationalen Titel. Jahrzehntelang lief alles (nahezu) makellos. Und mittlerweile kommt kaum ein Film des Disney-Konzenrs raus, ohne in einigen wichtigen Märkten (darunter verflixt oft: Deutschland) aus "lizenzrechtlichen Gründen" umbenannt zu werden. Jüngstes Opfer: Der hammerschwingende Avenger Thor, dessen zweiter Film von Thor - The Dark World zu Thor - The Dark Kingdom mutierte. Nun wird aus Thor: Ragnarök in Deutschland tatsächlich Thor: Tag der Entscheidung. Schwach, Disney. Sehr schwach.

Unumstrittener König des Titelchaos ist in Deutschland aber (auch ohne Lizenztrubel) die Pirates of the Caribbean-Saga, die hierzulande bekanntlich aus Fluch der Karibik, Pirates of the Caribbean - Fluch der Karibik 2, Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt, Pirates of the Caribbean - Fremde Gezeiten und Pirates of the Caribbean - Salazars Rache besteht.

Beinahe wäre alles anders gelaufen. Die ersten Verleihmaterialien sprachen vom zweiten Teil als Schatz der Karibik - eine Entscheidung, die wohl noch fiel, als der deutschen Dependence Disneys keine inhaltlichen Details zugespielt wurden.

Der Gedanke, das letzte Wort einer Filmreihe als wiedererkennendes Merkmal zu nutzen, ist riskant - ich tu mich schwer, mich in eine Welt zu denken, in der die PotC-Reihe hierzulande als "die Karibik-Saga" bekannt wird. Aber spielen wir das Gedankenspiel aus Trotz einfach mal durch - und helfen Disney Deutschland anno 2005 mit dem Wissen von heute, Schatz der Karibik akkurater zu betiteln.

Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl // Fluch der Karibik
Pirates of the Caribbean: Dead Man's Chest // Teufel der Karibik
Pirates of the Caribbean: At World's End // Schlacht der Karibik
Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides // Gezeiten der Karibik
Pirates of the Caribbean: Dead Men Tell No Tales // Rache der Karibik

Das wären meine Vorschläge. Und wie würdet ihr Disney in einer Welt aushelfen, in der man sich in den "... der Karibik"-Gedanken verbissen hat?

Freitag, 12. Mai 2017

Freitag der Karibik #42


Das Pirates of the Caribbean-Franchise hat ein Problem. Ein Luxusproblem, das zahlreichen anderen Franchises dieser Größtenordnung fremd sind: Seine öffentliche Wahrnehmung dreht sich um eine einzelne Performance - Johnny Depps Darstellung des verwegenen, chaotischen Piratenkapitäns Jack Sparrow. Star Wars hat sich längst zu einem ganzen Kosmos an vielen, unterschiedlichen Aspekten gewandelt, die auch Gelegenheitszuschauer als Grund herausstellen, sich in diese Filmwelt zu begeben. Das Marvel Cinematic Universe hat eine Heerschar an Figuren zu bieten, die sich beim Stammpublikum um den Ehrentitel "Publikumsfavorit" prügeln. Die James-Bond-Filme genießen ihren Sonderstatus, dass bei ihr eine Umbesetzung des Protagonisten nicht nur geduldet, sondern praktisch erwartet wird. Die Transformers-Reihe dreht sich mehr um ihre Special Effects und Michael Bays Krachbumminszenierung als um irgendwelche Figuren- und Besetzungsfragen. Und bei Fast & Furious gibt es ebenso wenig die eine, zentrale Rolle, um die sich alles drehen muss.

Für das Fortbestehen der Pirates of the Caribbean-Saga drängt sich somit eine Frage auf: Sollte Disney sie eines Tages zusammen mit Käpt'n Jack Sparrow in den Ruhestand schicken? Oder kann sie aus dem langen Schatten von Johnny Depps Paraderolle herauswachsen? Respektive: Sollte Disneys dies zumindest versuchen?

How Do You Solve a Problem Like Johnny?
Oder alternativ: Braucht es überhaupt eine Lösung? Im Frühjahr 2016 sah es durchaus so aus. Johnny Depp war aus den Negativschlagzeilen nicht mehr rauszukriegen und Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln legte eine wirtschaftliche Bruchlandung hin. Aber dies scheint nunmehr passé zu sein. Ja, als Depp im kalifornischen Disneyland als Jack Sparrow Gäste überraschte, ließen es sich diverse Reporter nicht entgehen, anzumerken, dass dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, den Depps Image nunmehr darstellt. Eine deutlichere Antwort, ob die im Raum stehenden Vorwürfe gegenüber Depp sich auch mit piratigem Rum-Salzwasser-Gemisch nicht fortwaschen lassen, werden die Einspielergebnisse und Publikumsreaktionen geben. Bislang sieht es aber so aus, als würden Zuschauerinnen und Zuschauer, unabhängig von ihrer Meinung zu Depp, wenigstens Jack Sparrow verzeihen: Das US-Tracking spricht aktuell von einem 90-Millionen-Dollar-Startwochenende. Das wäre über Teil eins, weit unter Teil zwei und drei sowie auf Augenhöhe mit Teil vier.

Iger hatte dies schon vor einem Jahr vorhergesagt: Er mache sich wegen Pirates of the Caribbean keine Sorgen, erklärte er in einem Interview. Denn der Star des Films sei Käpt'n Jack, nicht Johnny Depp. Und die Hollywood-Erfahrung lehrt, dass weit mehr Menschen zwischen Kunst und Künstler trennen, als es Onlinedebatten mutmaßen ließen. Michelle Rodriguez wurde vor bald zehn Jahren dasselbe vorgeworfen wie Depp. Und seither spielte sie im erfolgreichsten Film aller Zeiten und zwei Milliarden-Dollar-Hits mit. Und anders als im Falle Depp gibt es deshalb keine "Hot Take"-Artikel zu lesen.

Zugegeben: Rodriguez ist sowohl in Avatar als auch den Fast & Furious-Filmen ein kleines Rädchen, während Depp die Aufmerksamkeit in den Pirates-Filmen auf sich zieht. Zudem ist Depp ein ganz anderes Star-Kaliber, so dass kritische Artikel eine andere Klickstärke haben als bei Rodriguez. Und als Disney-Filme werden den Pirates-Produktionen ungleich höhere moralische Standards angedichtet als James Camerons Bombastwerk und den Universal-Actionern. Dennoch: Disney scheint bei Salazars Rache noch nicht in Zugzwang zu sein. Was aber nicht bedeutet, dass Disney sich ausruhen sollte.

Erstens: Depp wird nicht jünger, die Pirates-Filme aber nicht ruhiger. Irgendwann wird er zu alt oder steif für die Rolle sein. Zweitens: Die Negativberichte über Depp werden zwar leiser, nicht aber weniger. Und "Trennung zwischen Schauspieler und Rolle" hin oder her, ein Multi-Milliarden-Franchise daran hängen zu lassen, dass die Masse dieser Person zumindest in einer Rolle wohlgesonnen bleibt, ist ... riskant. Wirtschaftlich. Und auch künstlerisch. Ich als Fan würde keinen siebten Teil mit offenem Ende haben wollen, nur um dann im Kalten stehen gelassen zu werden, weil der Film floppt und daher keine Fortsetzung folgt. Kurzum: "Mit Depp als Hauptverkaufsargument lustig weiter machen, bis es nicht mehr gelingt" ist keine Option. Über kurz oder lang muss die Sparrow-Saga ein rundes Ende finden. Für Disneys wirtschaftliches Wohl, ja. Vor allem aber, weil es diese großartige Figur verdient hat, nicht verheizt zu werden.

Der Symmetrie zu Liebe wäre ein sechster Teil nett. Zwei Trilogien, in denen Jack Sparrow zwar nicht der klassische Protagonist ist, wohl aber die Hauptfigur. Nur bleibt weiter die Frage offen: Danach weiter machen, oder es bleiben lassen?

Bring Me A New Horizon
Klar. Die vorsichtige Variante wäre, Pirates of the Caribbean mit dem Ende des Jack-Sparrow-Handlungsfadens abzuschließen. Wäre natürlich besser als ein offenes Ende, aber ganz eigennützig muss ich festhalten: Das wäre verflucht schade, würde es doch eine Menge ungenutzten Potentials liegen lassen. Pirates of the Caribbean ist mehr als die Sparrow-Show. Es ist eine faszinierende, spannende Abenteuerwelt des wahrgewordenen Seemannsgarns, die schaurige Inhalte und coole, lustige Action mit einer rockigen Attitüde zu bombastischem Kinovergnügen formt. Die Reihe hat schon jetzt viele exzentrische, reizvolle Figuren zu bieten - und sie könnte auch ohne Jack weitergehen. Man muss es nur richtig anpacken.

Daher muss Disney nach Teil fünf dringend Entscheidungen treffen. Sollte es einen sechsten Film geben, bringt es nichts, in ihm womöglich die Sparrow-Saga zu beenden, dann PotC sieben, acht Jahre ruhen zu lassen und dann ein neues Abenteuer rauszuhauen, und zu erwarten, dass das Publikum die neuen Figuren schon schlucken wird, ist äußerst riskant. Und ebenso wenig sollte eine explizite Staffelstabübergabe erfolgen. Bei Indiana Jones hat das bekanntlich auch nicht funktioniert.

Star Wars hat es hervorragend vorgelebt: Starke neue Figuren einführen, die fantastische Welt
und Mythologie betonen, die wir alle in dieser Reihe erleben können, und mit alten Bekannten ein Gefühl der Familiarität erzeugen. Vielleicht können in Teil sechs Pintel und Ragetti zurückkehren (die in Teil fünf allen Berichten zufolge erneut aussitzen) und so wieder stärker in Erinnerung zurückgeholt werden, ehe sie in Teil sieben die Sidekicks einer neuen Protagonistin werden? Vielleicht bleibt auch wer aus Salazars Rache an Bord?

Und je nachdem, wer weiß: Vielleicht schreiben wir Sparrow nicht ganz raus. Sondern geben ihm hie und da eine Gastrolle. Eventuell auch nicht. Die Story muss das diktieren.

Als Test, wie groß der Markt ist, könnten gute, Sparrow-freie Materialien (Comics, Romane, Videospiele) dienen. Ja. Genau. Den ganzen Star Wars-Kram halt. Das will ich für meine geliebten Piraten.

Ich weiß, ich verlange viel. Ich will klare Zäsuren und dennoch mehr. Aber es ist wert, es zu versuchen: Pirates of the Caribbean ist im Hollywood-Angebot zu einzigartig, die Tonalität und Mythologie der Reihe zu spannend, um die Saga als Jack-Sparrow-Story zu beenden. Und wenn es doch so sein soll: Hey. Danke Disney. Wenigstens ein rundes Ende.

Sonntag, 7. Mai 2017

Mahana – Eine Maori-Saga


Zurück zu den Wurzeln: Der 66-jährige Regisseur Lee Tamahori verantwortete unter anderem Pierce Brosnans grelles James-Bond-Abenteuer Stirb an einem anderen Tag, den saudummen Extremsport-Actioner xXx 2 – The Next Level und den schrägen Biopic-Thriller The Devil’s Double. Seinen Durchbruch feierte er zuvor aber mit dem Drama Die letzte Kriegerin über eine Māori-Familie im gegenwärtigen Auckland, die unter einem gewalttätigen Vater leidet. 22 Jahre später erzählt der neuseeländische Filmemacher erneut eine dramatische Familiengeschichte, in der ein herrischer Māori-Patriarch Streit und Leid verursacht. Mahana – Eine Maori-Saga spielt allerdings nicht im Heute, sondern in den Sechziger-Jahren – wobei die Sechziger-Jahre des neuseeländischen Nordosten wie ein Relikt aus deutlich länger vergangenen Tagen anmuten, von einigen Popkulturstücken abgesehen, die es aus dem Rest der Welt dorthin verschlagen haben.

Seit drei Generationen hat der gestrenge, stets seinen Willen durchsetzende Tamihana Mahana (Temuera Morrison) das Sagen über seine Familie. Obwohl die Māori neben den Weißen Bürger zweiter Klasse darstellen, verfügt der Mahana-Clan über ein weitläufiges Anwesen und wird gesellschaftlich wenigstens ob herausragender Fähigkeiten im Schafscheren respektiert. Mit der Māori-Familie der Poata befinden sich die Mahanas derweil in einer tief verwurzelten Fehde, die Tamihanas pubertierender Enkel Simeon (Akuhata Keefe) allerdings hinterfragt. Der unerbittliche Tamihana entwickelt aufgrund dieser anklingenden rebellischen Ader einen Groll auf Simeon, welcher wiederum seinem Großvater immer häufiger die Stirn zeigt, so dass es zu einer Zerreißprobe innerhalb des Clans kommt …

Tamahoris in einer Laufzeit von zügigen 104 Minuten erzählte Leinwandadaption des Romans "Bulibasha: King of the Gypsies" von Whale Rider-Autor Witi Ihimaera nimmt die Lebenssituation und Kultur der Māori nicht in den Fokus. Statt explizit von den Unterschieden zur weißen neuseeländischen Bevölkerung in den Sechzigern zu erzählen und einen scharfen Fokus auf die Folklore dieses indigenen Volks zu legen, stellt ein gemeinhin verständlicher Konflikt den Kern dieses Dramas dar: Das Aufeinanderprallen einer eigensinnigen, jungen Generation, die nach individuellen Entscheidungen und Unabhängigkeit greifen möchte, und einer straff organisierten älteren Generation, welche den Patriarchen als niemals in Frage zu stellende Autorität versteht.

Solche Auseinandersetzungen sind kulturübergreifend und wurden im Medium Film bereits zahlreich thematisiert – wobei sich das zeitliche Setting von Kulturkreis zu Kulturkreis unterscheidet. Hollywood ließ derartige Differenzen bereits mehrmals im Wilden Westen stattfinden, deutsche Filmemacher nutzten wiederholt Nachkriegsdeutschland als zeitliche Kulisse. Nachvollziehbar ist das Aufbegehren der liberalen Jugend in all diesen Konstellationen, und in guten Erzählungen wird zudem die Position der despotischen Familienoberhäupter wenigstens plausibel dargestellt. So auch in Mahana – Eine Maori-Saga. Obschon Drehbuchautor John Collee und Regisseur Tamahori nie auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen, dass Tamihana ein narzisstischer, ungeduldiger Widerling ist, so streuen sie in den Handlungsverlauf zumindest Argumente dafür, weshalb Tamihana das alte Dagobert-Duck-Motto „Härter als die Härtesten und schlauer als die Schlauesten“ verfolgt.

In der eng umkämpften wirtschaftlichen Nische, in denen sich die Māori im Schweiße ihres Angesichts behaupten dürfen, benötigt es Unbarmherzigkeit, um wenigstens einen Bruchteil des Komforts der weißen Bevölkerung zu erreichen. Seine Gräueltaten entschuldigt dies keineswegs und ebenso wenig seine Verweigerung gegenüber dem Fortschritt – aber es hebt Tamihana über den Status eines reinen, allein von der Freude an der Perfidität angetriebenen Schurken empor. Verstärkt wird diese Wirkung durch Temuera Morrisons magnetisches Spiel: Eiskalte Blicke und eine bedrohlich-ruhige, durchdringende Stimmlage machen den Patriarchen zu einem kraftvollen Dickschädel. Morrison legt ihn somit gewissermaßen als weniger cholerischen, dafür in seinem Handeln umso abgeklärteren „Vorfahren im Geiste“ seiner Die letzte Kriegerin-Rolle an und zieht sowohl Hass als auch Ehrfurcht auf sich.

Akuhata Keefe dagegen agiert im die ganze Familie durchrüttelnden Zwist mit seinem Leinwand-Großvater unaufgeregt: Mit natürlichem, unforciertem Spiel stellt er die Weltsicht sowie die Entscheidungen des Patriarchen ohne Pathos oder aufwiegelnd-kämpferischem Beiklang in Frage. Dadurch rutscht Mahana – Eine Maori-Saga nie ins Melodramatische ab – dass Tamahori gelegentliche, leichtgängigere Passagen wie einen Schafscherwettbewerb angemessen locker inszeniert, verleiht dem Familiendrama zusätzliche Atempausen. Diese setzt der Regisseur äußerst geschickt: So ist der von zwei Jahrmarktkommentatoren hoch engagiert besprochene Schafscherwettbewerb, der so auch in einem kuriosen Disney-Sportfilm vorkommen könnte, die Ruhe vor einem emotionalen Sturm, in dessen Zuge Simeons Großmutter abscheuliche Geheimnisse offenbart.

Nicht nur in diesem Moment kommt das kulturelle Setting dieser Maori-Saga zum Fruchten. Denn selbst wenn Tamahori es nie in den Vordergrund rückt, so könnte dieser Film nicht ohne es funktionieren. Der Regisseur fängt die innere Dynamik eines Māori-Clans beiläufig ein, garniert das Familiendrama nebenher mit Einblicken in die Māori-Folklore und er verzichtet bei Szenen in der Māori-Sprache auf Untertitel – was symptomatisch für Tamahoris Vorgehen ist. Kinogänger ohne Vorkenntnisse sollen sich den Sinn aus dem Kontext erschließen, was angesichts der zugänglichen Narrative ohne Weiteres möglich ist. Und in dieser Tonalität skizziert Tamahori auch das Bild dessen, dass Māori-Männer über Generationen hinweg zu kriegerischen Aggressoren erzogen wurden – wodurch sich die Charakterzeichnung Tamihanas verdichtet und seine Untaten noch schockierender werden. Denn selbst wenn Tamahori auf explizite Aufnahmen verzichtet, suggeriert er, mit welcher Selbstverständlichkeit Tamihana wohl agiert.

Von Kamerafrau Ginny Loane in einer den Schauplätzen angebrachten Bildsprache (rustikale Farben, altmodisch-ruhige Kameraführung) eingefangen, stellt Mahana – Eine Maori-Saga ein Programmkino-Fundstück dar, das es verdient hätte, mehr Aufmerksamkeit zu erhalten: Es erzählt die aufreibende Geschichte einer Familie im Umbruch, bringt seinem Publikum die Kultur der Māori näher und vollführt dies in einer zugänglichen, die Dramatik des Stoffes aber nie untergrabenen, Weise. Großer Stoff, ganz klein und fein vermittelt.