Sonntag, 27. Dezember 2015

Die schlechtesten Filme 2015 (Teil I)

Es ist wieder so weit: Das Kinojahr 2015 ist (so gut wie) vorbei, und als großer Filmliebhaber nehme ich mir die gemäßigte Zeit zwischen den Jahren, um über die großen Rückschläge nachzudenken. Über Produktionen, die fürstlich langweilen. Über Storys, die verärgern. Und über Werke, bei denen einfach alles schief zu gehen scheint. Vor allem aber geht es darum, welche Filme bei mir große Antipathien wecken.

Daher sei an dieser Stelle, wie schon in den Jahren zuvor, gesagt: Diese Liste müsste ich eigentlich "Meine Hassfilme 2015" betiteln, nur ist das so eine ungelenke und aggressive Überschrift, dass ich mich davor scheue. Zutreffend wäre es aber. Diese Filme sind nicht zwingend die handwerklich schlechtesten des Jahres (dann würden sich hier C-Filme aus der Videotheken-Grabbelkiste tummeln), sondern die Streifen, deren Mängel mich frustrieren, nerven, ärgern oder in Verzweiflung stürzen.

Platz 25: SPECTRE (Regie: Sam Mendes)

Und schon muss ich noch einmal unterstreichen, dass dies eine höchst subjektive Liste ist, die sich darum dreht, wie sehr mich die hier genannten Filme verärgern. Denn in einer rein nach dem Filmlehrbuch gebürsteten Liste handwerklich misslungener Produktionen dürfte SPECTRE nicht zu den 25 schlechtesten Werken des Jahres gehören. Dafür ist die Kameraarbeit von Hoyte van Hoytema zu malerisch und Léa Seydoux macht dafür zu viel aus ihrer unterentwickelten Rolle. Aber: Aufgrund des dramaturgisch fehlgeleiteten Drehbuchs empfiehlt sich SPECTRE durchaus für den einen oder anderen Verriss. Und da mir zudem, von der spektakulären, stimmungsvollen Prolog-Sequenz abgesehen, nicht eine einzige Actionszene in SPECTRE zusagt, drängelt sich Daniel Craigs vierte Bond-Mission leider auch in meine persönliche Filmfrust-Liste 2015. Plottwists, die keine sind, ein verschenkter Christoph Waltz, ein völlig uninteressant eingesetzter Dave Bautista und die erschreckend schale Inszenierung der typischen Bond-Tropoi, nachdem Mendes in Skyfall noch den Nagel auf den Kopf getroffen hat, haben es dann letztlich ermöglicht, SPECTREs Drängelei in meine Flopliste durchgehen zu lassen.

Platz 24: Project Almanac (Regie: Dean Israelite)

Found Footage kann außerhalb des Horrorgenres Wunder wirken. Josh Tranks Debütfilm Chronicle ist für mich ein Paradebeispiel dafür, was der Found-Footage-Überbau leisten kann, wenn er nicht dazu genutzt wird, effizient (oder einfach nur billig) Suspense aufzubauen und kleine Jump Scares zu ermöglichen. Daher habe ich dem Konzept hinter Project Almanac durchaus Potential zugeschrieben: Eine Gruppe Jugendlicher gerät an eine Zeitmaschine und filmt sich dabei, wie sie diese Erfindung nutzen, um Spaß zu haben, Liebesprobleme auszubügeln und ihren Lebensweg auszubessern. Doch diese Michael-Bay-Produktion krankt an einem unausstehlichen Hauptdarsteller, sowie an einem Storytelling, das große Probleme damit hat, so Schwerpunkte zu setzen, dass die Geschichte an Spannung und Flair gewinnt. Hinzu kommen vermeidbare Logikprobleme und dieses schale Gefühl, das nach der Sichtung übrig bleibt: "Wo sind die letzten Minuten Lebenszeit hin, und wie kriege ich sie zurück?"

Platz 23: Chappie (Regie: Neill Blomkamp)

District 9-Regisseur Neill Blomkamp erarbeitet sich eiligen Schrittes den Ruf eines One-Trick-Ponys: Der Genrefilmer hat ein starkes Auge dafür, der ungeordneten, ausgebleichten, schmutzigen Großstadt Johannesburg ein charakterstarkes, faszinierendes Aussehen zu verleihen. Vor diesem Setting, das Blomkamp wie kein Zweiter beherrscht, drei Mal hintereinander eine Klassenkampf-Geschichte zu erzählen, ist trotzdem allein schon aus Prinzip ermüdend. Wäre Chappie allerdings eine clevere Auseinandersetzung mit den von Blomkamp angerissenen Ideen über Künstliche Intelligenz sowie die Frage bezüglich Erziehung versus Herkunft, so ließe sich die Monotonie in Blomkamps Schwerpunktwahl verzeihen. Da Chappie aber als Film genauso tumb ist wie seine Hauptfigur, und obendrein auch in Sachen Action seinen Möglichkeiten hinterherhinkt, bleibt von Blomkamps Sci-Fi-Actionthriller-Pseudodrama nur eins positiv in Erinnerung: Die von Hans Zimmer komponierte Hintergrundmusik, die mit Intensität gegen den schlechten Film anspielt, so als hätte der Oscar-Gewinner mal wieder gesagt: "Ach, was soll's, den Film kann niemand retten, aber wenigstens ich hätte gern Spaß ... Zeit für dröhnende Genialität!"

Platz 22: Zu Ende ist alles erst am Schluss (Regie: Jean-Paul Rouve)

Bevor mein Stammkino Sneak Previews eingeführt hat, war ich dem Konzept der "Überraschungs-Vorpremiere" nicht sonderlich angetan. Mittlerweile bin ich Sneak-Stammbesucher. Doch zwischendrin habe ich vorgeführt bekommen, weshalb ich lange vor dieser Idee zurückgeschreckt habe: Da freut man sich auf einen ungewöhnlichen Kinoabend. Und was bekommt man vorgesetzt? Eine seelenlose Fließband-Tragikomödie, die sich in einer nachdenklich markierten Stimmung suhlt, aber letztlich alle Probleme mit müden, kleinen Witzlein weglacht. Einige der Darsteller haben Charisma und einzelne Running Gags sind ganz süß. Das reicht jedoch nicht, um über die gähnende Langeweile hinwegzutäuschen, die sich hier breit macht.

Platz 21: Self/less - Der Fremde in mir (Regie: Tarsem Singh)

Das passiert wohl, wenn ein Regisseur keinen Mittelweg kennt: Tarsem Singh musste sich in seiner bisherigen Kino-Karriere wiederholt der Kritik aussetzen, seine Regiearbeiten seien zu schräg, zu schrill, zu überdreht. Mit Self/less überkorrigiert Singh den Kurs und driftet ins Beliebige, Nichtssagende ab. Sämtliche philosophischen Fragen dieser Körpertauschgeschichte werden nach wenigen Minuten über Bord geworfen, um einen Thriller von der Stange zu erzählen. Bloß, dass Singh die entstehende Verfolgungsjagd zwischen Ryan Reynolds als wieder jung gewordener Millionär mit der Spannung eines schlaffen Gummibandes übermittelt. Bloß eine Szene sticht aus diesem grau-grauen, drögen Thriller heraus: Eine präzise geschnittene, kreativ vertonte, atmosphärische, belebende Montagesequenz, die den Protagonisten am Startpunkt eines neuen Lebens in New Orleans zeigt. Singh hat den Dreh raus. Nun muss er diesen Dreh nur für eine Laufzeit von mehr als einigen wenigen Minuten durchziehen.

Platz 20: Regression (Regie: Alejandro Amenábar)

Ein Historiendrama über gesellschaftliche und juristische Missstände, dass für rund 80 Minuten seiner Laufzeit so tut, als sei es ein sich langsam entfaltender Psychothriller, der sich wiederum orientierungslos an der Bildsprache und Dramaturgie von Horrorfilmen bedient: Regression könnte mit einem konzentrierten, tief schürfenden Drehbuch vielleicht eine packende Box-in-einer-Box-in-einer-Box darstellen. Aufgrund eines auf der Stelle tretenden, effekthascherischen Skripts und einer mühselig-erzwungenen Regieleistung ist Regression dagegen ein lascher, uninspirierter Film, der weder die grauen Zellen herausfordert, noch Gänsehaut erzeugt. Und Emma Watson wirkt darstellerisch so verloren wie nie zuvor. Sie kann es doch so viel besser!

Platz 19: The Gunman (Regie: Pierre Morel)

Nach einem angestrengten Prolog, der The Gunman so gerne Gewicht verleihen und diesen Actioner zu einem Werk mit Aussagekraft über heutige Kriegsgebiete machen würde, entwickelt sich Pierre Morels 40-Millionen-Dollar-Produktion zu einem vollkommen austauschbaren Stück Fließbandware. Obwohl: Das stimmt nicht. Auf Skriptseite mag dies der Fall sein, doch mit einem stoisch-gelangweilten Sean Penn in der Hauptrolle und Morels schwerfälliger Inszenierung ist The Gunman zu lahm, um als Fließband-Actionfilm durchzugehen. Von zwei lichten Momenten abgesehen (Stichwörter: Flammendes Bad und Duell mit Magazinen) ist The Gunman das, was wohl aus Jason-Statham-Filmen werden würde, wenn man so dumm wäre, sie mit Baldrian, Kamillentee und No-Name-Schlafmitteln außer Gefecht setzen. Und ihnen dann den Humor rausoperiert.

Platz 18: Blackhat (Regie: Michael Mann)

Michael Mann macht mir allmählich Sorgen: Der Thriller-Experte hat seinen letzten brillanten Film vor elf Jahren abgeliefert, und zwar mit dem mörderischen Nacht-Trip Colleteral. Public Enemies war in Ordnung, dafür sind Miami Vice und Blackheat übergroße, in körniger Digitalästhetik gehaltene Schlaftabletten. Zwar ist es löblich, dass Mann versucht, Hacking akkurat darzustellen, statt in typischer Hollywood-Manier. Aber ohne eine zündende Story und mit Figuren, die so flach sind, dass man durch sie hindurch ganz altmodisch eine Tageszeitung lesen könnte, ist authentisches Hacking nicht gerade ein Spitzenargument, um sich so einen undenkwürdigen Film anzuschauen.

Platz 17: Escape From Tomorrow (Regie: Randy Moore)

"Prätentiös" ist ein Begriff, der in Verrissen viel zu häufig genutzt wird. Aber auf Randy Moores mit Guerilla-Filmemachertaktiken in Walt Disney World und Disneyland gedrehter Schwarz-Weiß-Horrorfilm trifft dieses Label makellos zu. Schlechte Computereffekte und billig konzipierte Schreckmomente gehen hier Hand in Hand mit pubertär gedachter Satire, derbem Overacting und einer gehässigen Attitüde, die jedoch unter Konfusion darüber zu leiden scheint, wo eigentlich ihr Ziel liegt. Ich bin offen für gezielte, profunde, einfallsreiche Disney-Parodien und alternativ für Eltern-Horror, der inneren Tumult gegen das äußere Glück anspielen lässt. Escape From Tomorrow ist aber derartiges Kuddelmuddel, dass dieses berüchtigte Projekt bestenfalls als ungewollte Komödie funktioniert.


Platz 16: American Sniper (Regie: Clint Eastwood)

American Sniper ist (abgesehen von einer klar als solche erkennbaren Baby-Puppe, die für ein echtes Kleinkind einspringt) mit Abstand der Film im ersten Teil meiner Flop-Liste 2015, der technisch den größten Eindruck hinterlässt. Joel Cox und Gary D. Roach leisten als Cutter preiswürdige Arbeit: Wann und wie sie schneiden, lässt das Adrenalin hochkochen und wertet auch die Erzählweise enorm auf. Darüber hinaus sind Tonschnitt und -abmischung großartig: Der Kriegslärm rüttelt wach, brennt sich in die Gehörgänge, ist aber dennoch mehr als nur klangliche Dissonanz. Man merkt, dass hier Experten genau darüber nachgedacht haben, wann was wie herumtönt. Bradley Cooper agiert überdurchschnittlich gut als der titelgebende Spitzen-Scharfschütze Chris Kyle und Tom Sterns Kameraarbeit ist versiert - wenngleich im Zusammenspiel mit Eastwoods Regieführung teils arg pathetisch. Und hiermit erreichen wir die kritischen Aspekte dieses Dramas: American Sniper handelt von einer grantigen, vorurteilsbelasteten Persönlichkeit, der durch Pathos, Heldenverehrungskitsch und lasche Argumente der ihr politisch gegenüberstehenden Figuren keine komplexe, differenzierte Betrachtung zugutekommt. Sondern einseitiges Flaggenschwingen. In seinen besten Momenten ist American Sniper nur konservativ geraten, in seinen schlimmsten aber (aufgrund inszenatorischer Ausrutscher in diffizilen Szenen) verlogen und hetzerisch.

Demnächst findet ihr hier bei SDB-Film meine Flop 15 der Kino- und Videotheken-Filme 2015. Seid gespannt!

Samstag, 26. Dezember 2015

Men & Chicken


Na, das hat aber gedauert: Zehn Jahre ließ Anders Thomas Jensen die Filmwelt auf seine neue Regiearbeit warten. Jetzt meldet sich der Däne, der schon Blinkende Lichter, Dänische Delikatessen und Adams Äpfel auf die Leinwand brachte, endlich zurück – und bleibt sich dabei nach all den Jahren in einem nicht unerheblichen Punkt treu. Wieder einmal spielt Mads Mikkelsen eine zentrale Rolle, und das, obwohl der dänische Schauspielgott seit Jensens Regiearbeit aus dem Jahr 2005 einen gehörigen Karriereschub erlebte und neuen internationalen Ruhm genießt. Von Eitelkeit aber keine Spur: Mikkelsen unterwirft sich hier völlig der absurd-boshaften und zugleich aufgeweckten Geschichte, die zwar nicht unbedingt als Jensens mitreißendste Skriptarbeit in Erinnerung bleiben wird, aber sehr wohl eine ganz eigene Faszination entwickelt ...
Die Brüder Gabriel (David Denick) und Elias (Mads Mikkelsen) könnten unterschiedlicher nicht sein – abgesehen von einer mehr (bei Gabriel) oder minder (bei Elias) erfolgreich wegoperierten Hasenscharte. Während der schüchterne, gebildete Evolutionspsychologe und studierte Philosoph Gabriel halbwegs sicher im Leben steht und empathisch ist, mangelt es Elias an Geduld, Zurückhaltung und Bücherwissen. Dass er zudem wie besessen davon ist, mehrmals täglich zu masturbieren, und sein fehlendes Glück bei Frauen mit Prahlerei kompensiert, macht Elias für Gabriel endgültig zu einem anstrengenden Verwandten.
Als die Brüder via Videobotschaft von ihrem Vater erfahren, dass sie nur adoptiert sind und verschiedene Mütter haben, machen sie sich trotzdem gemeinsam auf, ihren leiblichen Vater kennenzulernen. Dieser soll längst biblisches Alter erreicht haben und ein berüchtigter Wissenschaftler sein, der sich auf die schwach besiedelte Insel Ork zurückgezogen hat. Auf der kargen Insel angelangt, bricht eine Überraschung auf Elias und Gabriel herein: Sie haben drei Halbbrüder. Gregor (Nikolaj Lie Kaas), Franz (Søren Malling) und Josef (Nicolas Bro) leben von der restlichen Bevölkerung abgekapselt, sehen schräg aus und haben extreme Launen. Aber wegen seiner Sehnsucht, seinen leiblichen Vater zu treffen, lässt sich Elias nicht verscheuchen …
Das Kinopublikum ist gut beraten, es Elias gleichzutun und dem schweren Einstand zum Trotz eine kleine Portion Geduld mitzubringen. Denn ehe sich Men & Chicken voll entfaltet, mutet diese genussvoll-absonderliche Erwachsenenfabel wie eine stumpfsinnige Hinterwäldlerkomödie an, in der Gabriel als einzig zurechnungsfähige Figur einen dauerwichsenden Bruder, verquere Inselbewohner und seine neu entdeckte, schräge Familie zu erdulden hat. Zwar verkürzt geschliffener Dialogwitz die nicht ganz ausgefeilten ersten Minuten (Elias' Umgang mit seinem Date setzt Maßstäbe für spätere Wortwechsel im Film), dennoch gibt sich Anders Thomas Jensen zum Einstieg von einer arg rüpelnden Humorseite. Nachdem Gabriel und Elias aber eine erste Nacht im gewaltigen, abgeranzten Ex-Sanatorium verbracht haben, das ihre Halbbrüder Heimat nennen (und als Tennisplatz, Käserei sowie Bauernhof nutzen), kommt Men & Chicken aber endlich in Gang.
Nicht, dass diese obskure Geschichte mit einem Schlag zügiger erzählt werden würde – sehr wohl aber mit viel mehr Einfühlungsvermögen. Wobei das vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Viel mehr lebt sich Jensen nach der ersten Übernachtung bei der irren Sippschaft allmählich in deren Gepflogenheiten ein. Und so gewinnt Men & Chicken einerseits an Dimension, was die Charakterzeichnung der drei Ork-Originale anbelangt. Mit Treuseligkeit und Neugierde, umfassendem Bücherwissen und unerwarteter Sportlichkeit oder mit einer tief, tief unter der herrischen Oberfläche versteckten Verletzlichkeit entwickelt jeder im dysfunktionalen Trio einen eigenen Charakter mit reizvollen Widerhaken. Gleichwohl geht mit der voranschreitenden Laufzeit eine wachsende Anzahl an grotesken, teils abscheulichen Details einher. Dass sich die Brüder mit Nudelhölzern und ausgestopften Tieren verprügeln, ist nämlich noch das Normalste an ihnen.
Jensen balanciert seine Zuneigung zu den Außenseitern und seine Faszination fürs Makabere sowie Schräge aus, indem er seiner pechschwarzen, vor Ideen platzenden, gemächlich erzählten Geschichte eine verstört-verträumte Atmosphäre verleiht. Dazu tragen überzeichnete Situationskomik und die unwirkliche Musik ebenso bei wie die abstrus-assoziative Weise, wie Men & Chicken seine Gedanken über Zivilisation, Sozialisation und biologischer Veranlagung anreißt (besonders pfiffig: Jensens Einbindung der Bibel!). Für einen Film, der fast so viel Hintersinn enthält wie amüsanten Irrsinn, ist diese doppelbödige Sippschaft-Chronik ungewohnt leichtgängig und unverkopft erzählt. Damit geht zwar auch einher, dass die zur Verständigung aufrufende Botschaft gen Schluss etwas schwammig wird, jedoch wissen die Albernheit, Bitternis, und Unkorrektheit vermengenden Pointen zweifelsohne dafür zu entschädigen.
Obwohl das ganze Ensemble gute Leistungen abgibt, sind es an vorderster Front die Verantwortlichen für Szenenbild, Produktionsdesign und Kostüme, die eine gesonderte Nennung verdient haben: Beim Anblick der abgeranzten Villa bekommt man glatt Angst, sich Herpes, Tetanus, Typhus und sonstwas einzufangen. Und wenn sie schattig ausgeleuchtet wird, erhält sie zudem eine Ausstrahlung wie ein uriges Horrorfilmhaus. Trotzdem wächst sie einem ans Herz – mit all ihren durchgeknallten Details ist sie zu interessant, als dass man sie in den Szenen an anderen Schauplätzen nicht vermissen würde.
Schlussendlich ist Men & Chicken ein willkommen andersartiges, bizarres Stück dänisches Kino, das in aller Seelenruhe ein schwarzhumoriges Familiendrama erzählt und dieses mit den grotesken Qualitäten einer skurrilen Böse-Nacht-Geschichte anreichert. Das wird vielleicht selbst manchen Jensen-Anhänger verprellen, ist aber vom lahmen Anfang abgesehen so passioniert und besonders geraten, dass es sich lohnt, über seinen Schatten zu springen. Denn dieser Wahn hat Respekt verdient!

Ich seh Ich seh



Wenn der zu Recht gefeierte österreichische Regisseur Ulrich Seidl (Paradies-Trilogie) einen Film produziert, der sich zwischen Familienhorror und Psychothriller verorten lässt, ist Obacht geboten. Möchte man meinen. Insbesondere, wenn es sich dabei um das Spielfilm-Regiedebüt der Journalistin, Drehbuchautorin und Seidl-Lebensgefährtin Veronika Franz handelt. Möchte man meinen. Und dass Elefantenhaut-Macher Severin Fialas ebenfalls Regie führte und am Skript mitwirkte, kann ja auch nur Gutes heißen. Möchte man meinen. Letzten Endes entpuppt sich Ich seh Ich seh aber als gewaltige Mogelpackung. Was sich angesichts des Plots dieses Alpengrauens nur schwerlich einer bitteren Ironie entbehrt.

Nach einer schweren Gesichtsoperation kommt die Mutter der Zwillinge Lukas und Elias zurück in ihr geräumiges, kühl eingerichtetes Haus, das sich abgeschieden in einem grünen Bergidyll nahe eines Sees befindet. Doch Wiedersehensfreude will nicht so recht aufkommen. Erstens, weil Mami mit ihrem Verband und den verquollenen Augen gruselig aussieht. Zweitens, weil sie so viele Regeln aufstellt. Drittens, weil sie mit einem ihrer Jungs nicht mehr spricht. Den Brüdern gefällt das gar nicht und der von Mama nicht ignorierte Sohn bietet sich als Sprachrohr an. Aber das sei keine Lösung, so die Mutter. Der Lausbub soll sich doch selber entschuldigen! Den eingeschworenen Zwillingen kommt aufgrund des Verhaltens der Heimgekehrten ein grausamer Verdacht: Vielleicht ist das gar nicht ihre Mutter, sondern jemand oder gar etwas anderes ..?

Was niemand Ich seh Ich seh nehmen kann: Franz und Fialas sowie deren Kameramann Martin Gschlacht (Immer nie am Meer) haben ein Auge für starke Bilder. Wenn die Zwillinge im Prolog durch die Natur rennen, auf einem wabbeligen Weg entlang hüpfen und ein schwarz-grüner Waldsee mit seiner spiegelglatten, dreckigen Oberfläche die Leinwand erfüllt, trieft Ich seh Ich seh vor Atmosphäre. Und das Haus, in dem sich der Großteil dieses rapide zerbröckelnden Idylls abspielt, ist wie geschaffen für solch eine Geschichte. Bei Sonnenlicht offenbart sich, wie leer und klinisch es ist, bei Nacht verschluckt die Dunkelheit alles um die handelnden Figuren herum. Die Einrichtung, die so prägnant in Szene gesetzt wird, zeugt derweil von einem versierten Auge für ausdrucksstarke Bilder – für all zu ausdrucksstarke Bilder, um genau zu sein.

Der Innenarchitekt der schwer verbundenen, fürs Fernsehen arbeitenden Mutter muss psychopathische Neigungen haben – diese schwingen zwar im Einklang mit einem erlesenen, zeitgemäßen Geschmack. Aufdringlich sind sie trotzdem. Von überdimensionalen, verwaschenen Fotografien, die keinen klaren Blick auf die Gesichter der Motive erlauben, bis hin zu einer Treppe, die dem römischen Gott Janus gewidmet sein könnte: Schein, Sein, Dopplungen und Irrtümer werden in Ich seh Ich seh auf visueller Ebene sehr minutiös und edel, allerdings ebenso unverhohlen und penetrant ausgedrückt. Stilistisch werden Erinnerungen an Michael Hanekes US-Remake von Funny Games wach, nicht nur wegen der unpersönlichen Weiß-Töne, die das Haus prägen und die von den Zwillingen zuweilen getragen werden. Sondern auch dank der Diskrepanz zwischen geordnetem Schauplatz und eskalierenden Ängsten und Taten. Nur, dass Hanekes Funny Games, ganz gleich ob Original oder Remake, eine viel durchdachtere, kompromisslosere und dennoch komplexere Botschaft vermittelt als Ich seh Ich seh.

Überhaupt lässt sich daran ein wiederkehrender, überaus kritischer Aspekt dieser Seidl-Produktion erkennen: Franz und Fiala beherrschen es offensichtlich, bei großen Meistern haargenau abzugucken. Die Kamera schwebt wiederholt durch die Villa, wie es in Stanley Kubricks Shining vorgemacht wurde. Gute-Nacht-Lieder offenbaren einen schauderhaften Beiklang, wie in Wes Cravens Nightmare – Mörderische Träume. Die gebotenen Einblicke ins österreichische Gemüt könnten aus einem 'echten' Ulrich-Seidl-Film stammen, würden sie sich nicht auf ein simples „Traue nicht dem Anschein!“ beschränken. Der Schoß der Familie ist kein sicherer Hort – wie uns seit Jahrzehnten endlose Filme bescheinigen. Und dass Insekten und surreale Traumsequenzen (inklusive unverzichtbarer Arthouse-Nacktszene, denn ungeschminkte Frauenkörper im Mondlicht sind bedeutungsvoll!) genutzt werden, um die Nerven des angespannten Publikums zu malträtieren, ist auch längst Standard. Ich seh Ich seh verbindet all dies, versäumt es aber, diesem sturen, haltungslosem Abhaken von Stilmitteln und Motiven eine profunde, eigene Note zu verleihen.

Der Trumpf im Ärmel der mit Regisseure, deren Stil so rüberkommt, als würden sie mit Samthandschuhen ein Brecheisen anfassen und dann dem Publikum ihre Intentionen einbläuen, ist Susanne Wuest als bittere, entnervte und herrische Mutter. Die Mimin muss für weite Teile der Laufzeit allein mit ihrer Stimmlage und ihren Augen arbeiten, und sie versteht es formidabel, trotz dieser Einschränkung Wut, Erschöpfung und eine emotionale Distanz zu ihren Leinwandkindern zu vermitteln. Letzteres absolviert Wuest, ohne sich zu sehr von den Zwillingen abzuwenden, so dass die Frage „Ist sie die echte Mutter?“ zumindest auf darstellerischer Ebene lange im Raum zu hallen vermag. Auch Elias und Lukas Schwarz agieren so gut, wie es das hochtrabende, doch nichtssagende Drehbuch ihnen erlaubt – ganz frei von den Unsicherheiten oder der Affektiertheit vieler gleichaltriger Schauspieler.

Dass die Figurendynamik und somit die Spannungskurve von Ich seh Ich seh schneller in sich zusammenbricht, als man „Ich sehe was, was du nicht siehst ...“ sagen kann, liegt wahrlich nicht an diesen drei Akteuren. Sondern an der Story, die meilenweit unter dem Niveau der ansehnlichen, wenngleich arg verkopften sowie identitätsarmen Aufmachung liegt. Wer die Auflösung nicht bereits 80 Meilen gegen den Wind wittert (respektive 80 Minuten vor Abspann erahnt), muss sich wohl aktiv gegen das Offensichtliche gewehrt haben. Der Tempo- und Subgenrewechsel von Ich seh Ich seh kommt nach seinen aggressiven Vorzeichen leider nur lasch daher, selbst wenn nach dieser Wende die Handlung zumindest ergiebigere Reizpunkte liefert als zuvor.

 Wenn Ich seh Ich seh dann im Finale mit einer albernen, dramatisch gemeinten Pause (aber glücklicherweise ohne panisch hallender Musikuntermalung) das offene Geheimnis lüftet, darf sich der Zuschauer durchaus fragen, wie ein so altes Klischee nur so selbstgefällig neu verpackt werden konnte. Zumal die Plausibilität des Films bis zur überreizten Wendung arg davon abhängig ist, wie sehr das Publikum willens ist, das Verhalten wahlweise der Mutter oder der Kinder blind abzukaufen. Da Ich seh Ich seh sich nicht völlig einem Fokus verschreibt, bleiben nämlich beide Seiten zu ausführlich, als dass sie mittels eines gezielten Informationsmangels befremden könnten, aber gleichwohl zu undefiniert, als dass sie sich aus der Klischeekiste befreien könnten. Für einen Film, der sich mittels fremder Federn als so geistreich schmückt, ergeben die Taten der Figuren erschreckend wenig Sinn – so dass das Ergebnis nicht nervenaufreibend ist, sondern an den Nerven sägt. Einzig wenn es um körperliche Folter geht, reißt Ich seh Ich seh seinen schmerzlichen inhaltlichen Schwächen zum Trotz mit. Zu dokumentarisch und echt sieht das Leid auf der Leinwand aus, um als Betrachter nicht wenigstens einmal mitschreien zu wollen. Ansonsten provoziert Ich seh Ich seh aber eher folgenden Aufschrei: Wieso?

 Fazit: Dieser Film sollte viel lieber Schon gesehen Schon gesehen heißen! Denn auch wenn Ich seh Ich seh wie Kunst aussieht, ist es nur eine C-Horrorgeschichte wie sie bereits zigfach erzählt wurde.

Minions



2010 lernte die Kinowelt einen Meisterdieb kennen: Glatzkopf Gru, Dreh- und Angelpunkt des Überraschungshits Ich – Einfach unverbesserlich. Und was für eine dicke Überraschung auf den Verleih Universal Pictures sowie die Produktionsschmiede Illumination Entertainment hereinbrach! Bei Kosten von geschätzt 69 Millionen Dollar nahm die Geschichte, wie der mit dickem Akzent sprechende Ganove lernt, drei Waisenmädchen in sein Herz zu schließen, weltweit über 540 Millionen Dollar ein. Doch Gru musste sich im Fahrwasser dieses Erfolgs die öffentliche Zuneigung teilen. Nicht etwa nur mit den Waisen Edith, Margo und Agnes. Sondern vor allem mit einer ganzen Bande von kleinen Rabauken, die auf gewisse Weise noch größere Diebe sind als er. Die Minions, Grus brabbelnde, gelbe Schar an Handlangern, erwiesen sich als echte 'Scene Stealer' und rissen nicht nur jeden einzelnen Moment an sich, in dem sie vorkamen, sondern auch ungezählte Herzen im Publikum.

Kein Wunder, dass nicht nur eine Fortsetzung zu Ich – Einfach unverbesserlich in Angriff genommen wurde, die mit mehr als 970 Millionen Dollar Einspielergebnis regelrecht einschlug. Nein, auch ein Ableger sollte die Latzhose tragende goldene Kuh weiter melken. Dass Illumination Entertainment mit seinen bisherigen, Minion-losen Werken ohnehin weitaus weniger Erfolg feierte (Hop – Osterhase oder Superstar?: 184 Mio., Der Lorax: 348,8 Mio.) als mit den glubschäugigen Chaoten, dürfte dem Unterfangen zusätzlich Priorität verliehen haben. Doch ganz egal, wie sehr hinter den Kulissen nun kühl kalkuliert wurde oder nicht: Millionen von jungen und junggebliebenen Filmfreunden werden der Trickschmiede von Chris Meledandri für ihren Entschluss danken.

Denn auch wenn die heutzutage nahezu unvermeidliche Flut an Trailern viel zu viele gute Gags vorweggenommen hat – mit Minions ist ein erfrischender, unbeschwerter und unbekümmerter Kinospaß für jedes Alter gelungen. Wobei ganz klar festgehalten werden muss, dass die Regisseure Pierre Coffin und Kyle Balda in diesem Spin-Off  nahezu ausschließlich auf Gags setzen. Die süße, warme Herzlichkeit von Ich – Einfach unverbesserlich sucht man hier vergeblich, genauso wie einen stringenten Plot. Stattdessen reiht das Skript von Brian Lynch (Der gestiefelte Kater) unermüdlich drei, vielleicht vier Storys zusammen.

Zunächst dreht sich alles um die Herkunft der Minions: Sie gehören zu den frühen Außenseitern der Evolution und suchen seit der Zeit der Dinosaurier nach einem abscheulichen Meister, dem sie dienen können. Durch ihre überschwängliche Art und eine tüchtige Portion Missgeschick erweisen sich die wandelnden Ü-Ei-Spielzeugkapseln aber eher als tödliche Stolpersteine für ihre jeweiligen Chefs denn als nützliche rechte Hand. Als sie eines Tages im Namen eines gewissen kleinwüchsigen Franzosen eine wichtige Schlacht vermasseln, fliehen sie vor seinem stinkwütenden Heer ins Exil. Dort bauen sie sich ihre eigene Zivilisation auf – und stehen einige Zeit später kurz davor, vor Langeweile zu sterben. Also brechen die drei Minions Kevin (groß, hätte gern das Sagen), Stuart (einäugig, sucht den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit) und Bob (freundlich, ängstlich, dümmlich) auf, um den gemeinsten Bösewicht der Welt zu suchen. Nach einem Abstecher ins New York des Jahres 1968 verschlägt es sie zu einer Fieslingsveranstaltung, wo sie bei der Superschurkin Scarlet Overkill (Sandra Bullock im Original, Carolin Kebekus in der dt. Synchro) anheuern …

Ähnlich wie schon Die Pinguine aus Madagascar will Minions ein wilder, urkomischer Ritt sein – und lässt zwecks höherer Gagdichte solche Fragen wie effizientes Storytelling hinten anstehen. Und so lange die visuellen Einfälle sowie die Situationskomik in rasanter Frequenz auf einen niederprasseln (und das ist für den Großteil des Films der Fall!), stört es nur in geringem Maße, dass die einzelnen Abstecher der Minions nur lose miteinander verbunden sind. Spannung kommt so zwar nicht im Geringsten auf und anders als bei den Ich – Einfach unverbesserlich-Filmen wird es durch diese abgehackte Erzählweise schwer, so richtig in diese bunte, weichgezeichnete Welt abzutauchen. Jedoch ist der Optimismus der Minions zu ansteckend und die Diskrepanz zwischen ihrem Sein (unbedarft, tollpatschig) und ihrem Wollen (gemein und gefährlich) zu wonnig, um nicht dennoch mehrmals bis über beide Ohren zu grinsen – sofern man keine Allergie auf diese Brabbelbuben entwickelt.

Wenigstens waren die Filmemacher so vorausschauend, die überschaubare Wandlungsfähigkeit der Hauptfiguren durch eine breite Palette an Humor auszugleichen. So lange es familienfreundlich und frei von Zynismus bleibt, lässt sich praktisch alles in Minions vorfinden: Einfallsreiche Popkulturreferenzen (Disney-Kenner werden einen Heidenspaß an der Darstellung Orlandos in den 60ern haben), dynamischer Schwachsinn, temporeiche Cartoon-Slapstickgewalt, visuelle Verrücktheiten und tatsächlich auch Wortwitz – was gerade bei dem Kauderwelsch der Banenenliebhaber nicht unbedingt zu erwarten stand.

Technisch ist Minions klar über seinen Vorgängern anzusiedeln. Jünger der anderen Hollywood-Computeranimationsstudios dürfen zwar wie bei den Vorgängern über das milchige Licht debattieren (oder sie lassen es bleiben, da es zum Design und Feeling der Illumination-Filme passt), aber die detailreichen Hintergründe und ausdrucksstarken Figuren sprechen für sich. Hinzu kommt, dass Minions das womöglich beste 3D seit Gravity aufweist: Regelmäßige Pop-Up-Effekte und eine weit in die Leinwand reichende Tiefe machen den ulkigen Tricktumult der laffen Geschichte zum Trotz zu einem Erlebnis – 3D-Interesse natürlich vorausgesetzt. Der Jukebox-Soundtrack ist ebenfalls eine Klasse für sich – was in den 60ern Rang und Namen hatte, lässt sich hier antreffen und wird zumeist auch pointiert genutzt. Darüber, dass Scarlet Overkill nach ihren fetzigen ersten Szenen an Klasse und Einprägsamkeit verliert und auch der finale Wettkampf nicht vor Originalität platzt, kann die Musik dennoch nicht hinwegtrösten. Jedoch: Wenn sich Kevin, Stuart und Bob kabbeln, Scarlets Gatte Herb (Jon Hamm / Sascha Rotermund) in gebotener Beatnik-Lässigkeit über die Leinwand wippt oder wieder einmal die „Bananaaaaa!!!“ gefeiert wird – mit der nötigen Einstellung, sich berieseln zulassen, ist das Gebotene ein netter Filmspaß!

Fazit: Die Minions überschatteten alles in den Ich – Einfach unverbesserlich-Filmen, doch die Ich – Einfach unverbesserlich-Filme lassen sich nicht so einfach von Minions überschatten. Dafür ist die Story einfach zu beliebig. Den narrativen Mängeln und einer enttäuschenden Schurkin zum Trotz ist Illumination Entertainment jedoch ein flotter, verrückter, freundlicher Haufen an lose verbundenen Sketchen gelungen – in brillantem 3D!


Freitag, 25. Dezember 2015

Die Liebe seines Lebens - The Railway Man


Fragwürdige deutsche Filmtitel gibt es in rauen Mengen. Mal bestehen sie aus albernen Wortschöpfungen, mal aus reißerischen Umschreibungen des eigentlichen Filminhalts. Solch einen irreführenden Titel wie Die Liebe seines Lebens hat Kino-Deutschland jedoch schon lange nicht mehr gesehen. Was wie eine kitschig-seichte Romanze – potentiell für die Rosamunde-Pilcher-Zuschauerschaft – verkauft wird, ist in Wahrheit ein psychologisches Drama. Eins über die Traumata, die Kriegsgefangenschaft und Folter bei Opfern und Tätern hinterlassen können, und darüber, wie schwer es fällt, Rachegelüsten abzuschwören.

Im Zentrum steht Eric Lomax. Oder wie ihn der englische Original- sowie der hiesige Untertitel bezeichnen: The Railway Man. Sein ganzes Leben widmete der Schotte den schnaufenden Dampfrössern, weshalb er letztlich die gesammelten Fahrpläne Großbritanniens in seinem Gedächtnis abgespeichert hat. Eines Morgens im Jahr 1983 begegnet er bei einer seiner schier endlosen Zugfahrten quer durchs Land der äußerst freundlichen ehemaligen Krankenschwester Patricia (Nicole Kidman). Die beiden kommen schnell ins Gespräch, die Funken sprühen, und der wandelnde Fahrplan wird vorübergehend aus seinem Trott gerissen. Nicht lange, nachdem sie Eric zu ihrem Mann genommen hat, fallen Patricia jedoch beunruhigende Seiten an dem einstigen Soldaten auf. Er wird von Albträumen geplagt, ist zunehmend unkonzentriert und fühlt sich häufig verfolgt – der Alltag hat Eric wieder, und somit sein Trauma aus Tagen in japanischer Kriegsgefangenschaft …

Jonathan Teplitzkys Regiearbeit lässt sich ihre Zeit, ehe sie sich ihrem eigentlichen Thema nähert. Eingangs wirkt alles so, als handle es sich bei Die Liebe seines Lebens zwar nicht um einen Pilcher-Film, sehr wohl aber um eine gemächliche, leicht verschrobene, ur-britische Liebesgeschichte. Die in ruhigen, statischen Bildern erzählte Romanze zwischen einem Exzentriker und einer verständnisvollen Frau, die mit beneidenswerter innerer Stärke überrascht, bricht aber nach und nach auf. Von aufwändigeren Kamerafahrten und intensiveren Farben begleitet, prasselt das kurzzeitig verdrängte Kriegstrauma des von Colin Firth so eindringlich und berührend gespielten Ex-Militärfunkers auf das Liebesidyll ein. Die Zwangsneurosen werden stärker, Firths Performance wird kühler und gleichzeitig ungezügelter – der eigentliche Film beginnt. Und dieser umfasst diverse längere Rückblenden auf das Gefangenenlager, in dem Lomax und seine Freunde zum Bau der (auch in Die Brücke am Kwai thematisierten) berüchtigten 'Todeseisenbahn' durch Thailands Dschungel getrieben werden.
In den Rückblenden gelingt Sam Reid eine hervorragende Leistung: Er macht als junger Eric Lomax zwar klar erkennbar, dass es sich bei ihm um dieselbe Person handelt, wie sie in der Rahmenhandlung von Colin Firth gespielt wird. Und dennoch agiert er nahezu gegensätzlich zum erwachsenen Lomax, der mit seinem Trauma verwachsen ist – er ist agil, voller Energie und nicht etwa in sich gekehrt, sondern offen sensibel. So zeichnet sich ein komplexes Bild des Protagonisten; eines, das mit voranschreitender Laufzeit immer stärkere Gefühle weckt.

Dabei verzichtet der Film glücklicherweise auf so manches Klischee: Statt wie in vielen vergleichbaren Filmen üblich, sind die Rückblenden in Die Liebe seines Lebens nicht in Sepiatönen gehalten und weichgezeichnet. Stattdessen brennen Regisseur Teplitzky und Kameramann Garry Phillips in lebendigen Bildern und mit einer kräftig-verschwitzten Farbästhetik die Exotik Thailands auf die Leinwand. Ein forscher Kontrast zum Understatement der Großbritannien-Sequenzen, der dem sonnendurchfluteten Urwald durchaus seine attraktiven Seiten anerkennt – wären da nicht die grausamen Methoden, mit denen die Kriegsgefangenen behandelt werden. Angstschweiß, Staub und Blut machen aus dem Thailand, wie es Lomax erlebt, einen Schreckensort. Aber dank der versierten Performances sowie dank der auf unangebrachte Symbolik verzichtenden Inszenierung versprüht er nie den geißelnden Pathos, wie er Angelina Jolies ähnlich gelagertes Drama Unbroken durchzieht.
Diese nah am Protagonisten und seiner Gefühlswelt orientierte Herangehensweise durchdringt auch das Skript. Ist Unbroken primär eine Jesus-Parabel und erst sekundär ein Einzelschicksal, verhält es sich beim Drehbuch von Frank Cottrell Boyce und Andy Paterson ganz anders. Die Erzählung lässt den Betrachter auf zwei Zeitebenen miterleben, wie Lomax gebrochen wird, zu wem sich dieser geschundene Soldat entwickelte und wie ihn Rachegedanken noch tiefer in die emotionale Zerrüttung ziehen. Dadurch, dass sich diese Geschichte ausführlich und mitreißend entfaltet – und letztlich in einen elektrisierend-rührenden Schlussakt mündet – bewegt das Drama intensiver als seine namhaftere Genrekonkurrenz. Was wiederum dazu führt, dass die handlungsimmanente Versöhnungsdebatte glaubwürdiger und effektvoller vermittelt wird. Wer bei der Filmsichtung vorsorglich an die Taschentücher gedacht hat, darf sich da glücklich schätzen.
Fazit: Stark gespielt, hochemotional und dennoch unaufdringlich: Die Liebe seines Lebens ist ein Schuld-und-Sühne-Drama, das bewegt, statt zu belehren.

Donnerstag, 24. Dezember 2015

A Very Murray Christmas



Weihnachtszeit. Zeit für Besinnlichkeit. Und Familiensinn. Zeit des Kommerzdenkens. Und des festlichen Exzesses. Und der verdrießlichen „Kann das nicht alles bald vorbei sein?“-Mentalität. Und noch so vieles mehr: Die Weihnachtszeit ist eine emotionale Zeit, in der sich Höhen und Tiefen einen Schlagabtausch liefern. Ob gewollt oder nicht: Das Netflix-Weihnachtsspecial A Very Murray Christmas kondensiert die zahlreichen Aspekte eben jener besonderen Tage auf weniger als 60 Minuten Laufzeit. Daher ist das erste Fernsehspecial der Oscar-Gewinnerin Sofia Coppola zwar längst nicht das unterhaltsamste, besinnlichste oder beeindruckendste Weihnachts-Programm der vergangenen Jahre. Aber es ist ein treffendes, schwer zu vergleichendes, feines Kuriosum. Wer Coppola und/oder Murray mag, wird nicht enttäuscht – und bekommt eine filmgewordene Feuerzangenbowle vorgesetzt, die folgenden Zutaten beinhaltet: 

#1: A Very Murray Christmas, die kritische Meta-Show. Der erste Akt nimmt mit kritischer, niedergeschlagener Attitüde das Konzept klassischer Weihnachts-Fernsehspecials auseinander, wie sie in den USA bis in die 80er hinein zum Festtags-Alltag gehörten. Wie viele von ihnen, beginnt auch A Very Murray Christmas mit dem Gastgeber, der aufgrund des schlechten Wetters um seine heimelige, mit vielen Gästen bespickte Sondersendung fürchtet. Nur, dass sich Bill Murray eher pro forma ärgert. Eigentlich würde er sehr gerne auf die Show verzichten – wären da nicht die Knebelverträge, an die ihn seine Produzentinnen (Amy Poehler und Julie White) erinnern … 

#2: A Very Murray Christmas, der gemütlich-rustikale Weihnachtstreff. Nach einer gezielt peinlichen Gesangsnummer mit einem gequält dreinblickenden Chris Rock beginnt der zweite, tonal ganz andere Akt dieses Specials. Murray verabschiedet sich in die Bar des Carlyle Hotels in New York City. Sofia Coppolas kühl-distanzierte Bildsprache, die an Lost in Translation erinnert, weicht einer stilvoll-gemütlichen Optik mit wärmenden, dennoch zurückhaltenden Farben. Und auch Murrays genervter Blick taut auf, während er mit den Hotelangestellten und Gästen singt, scherzt und versucht, ihre Liebesleiden zu lösen. Das von Coppola, Murray und Mitch Glazer geschriebene Special reiht nun rasch eine Musiknummer an die nächste und weckt dank einer Lovestory über in Zweifel geratene Verlobte (Jason Schwartzman und Rashida Jones) sowie manch einer emotionalen Gesangseinlage weihnachtlich-romantische Gefühle. 

#3: A Very Murray Christmas, das künstlich-spaßige Showspektakel. Im dritten Akt mutiert dieses Special zu einer großen, glitzernden Weihnachtsshow, wie sie heute noch im deutschen Fernsehen zur Primetime laufen könnte. Nur mit einer Selbstironie, die hierzulande zur besten Sendezeit nur Joko und Klaas beweisen. Auf einer mit silberfarbenen Tannenbäumen geschmückten Showbühne tummeln sich lasziv gekleidete Tänzerinnen, Musiker und natürlich Murray sowie Murrays Stargäste George Clooney und Miley Cyrus, die wahlweise mit voller Kraft oder vollem Irrsinn ihre Nummern zum besten geben. Und die große Überraschung: Es ist Clooney, der hier die Lachmuskeln mit deppertem Blick wachkitzelt, nicht Cyrus! 

#4: A Very Murray Christmas, das bemühte Special. Wie auch die Festivitäten im wahren Leben, kommt auch diese American-Zoetrope-Produktion zuweilen erzwungen rüber. Die Griesgrämigkeit im ersten Akt sorgt für allerlei gute Lacher, wird aber arg breitgetreten. Im zweiten Akt spielen zwar Schwartzman und Jones für sich genommen gut, da es zwischen ihnen an romantischer Chemie mangelt, kommt die gefühlvolle Ader des Specials dennoch erzwungen daher. Ebenso haben die Meta-Späße direkt zu beginn einen etwas muffeligen Beigeschmack. Nur die übertrieben glanzvolle Showhommage am Schluss ist ein wahrer Volltreffer – wenn man denn auf den gekünstelten Primetimeshow-Kitsch steht, den Murray und Coppola eingangs noch liebevoll auf den Arm genommen haben. 

#5: A Very Murray Christmas, die Spielzeugkiste voller Insidejokes. George Clooneys Kinoflop Monuments Men – Ungewöhnliche Helden bekommt sein Fett weg. Einzelne Kameraeinstellungen erinnern an Lost in Translation, ebenso wie ein Foto Murrays, das aus der in diesem Drama gezeigten Whiskey-Werbeanzeige entliehen ist. Der Titel- und Gastgeber schenkt die slowenische Wodka-Marke aus, in die er im wahren Leben groß investiert hat. Und wer tief in der US-Fernsehhistorie verwurzeltes Popkulturwissen hat, wird so einige Referenzen auf klassische Specials entdecken! 

#6: A Very Murray Christmas, das verfilmte Weihnachtsalbum. Es muss nicht immer 'Rock Christmas' sein, und auch die neue Platte von Helene Fischer darf gern im Schrank bleiben: Wer beim Dekorieren der Wohnung, beim Schmücken des Baums oder beim Festessen eine bunte Auswahl an Festtagsmusik hören will, kann auch einfach Netflix anschmeißen! Ob Miley Cyrus damit erstaunt, wie kraftvoll sie 'Silent Night' singen kann, Bill Murray und George Clooney mit 'Santa Claus Needs Some Lovin'' für groovigen Fun sorgen, Jenny Lewis und Murray 'Baby, It's Cold Outside' die Unschuld zurückgeben oder Maya Rudolph 'Christmas (Baby Please Come Home)' gefühlvoller neu interpretiert als Mariah Carey: Wenn nicht gerade Chris Rock zu hören ist, ist dieses Special ein Ohrenschmaus. 

#7: A Very Murray Christmas, oder: Netflix macht einen auf Network-Fernsehen. Netflix-Eigenproduktionen decken bereits einige Genres ab. Eine Variety-Show, so wie sie bei den klassischen Sendern beheimatet sind, gab es bei Netflix aber bislang noch nicht zu sehen. Mit diesem Einstünder wildert der VoD-Anbieter also in noch einem Gebiet, das einst sicher vor Internetunternehmen schien. Das bedeutet mehr Abwechslung bei Netflix und mehr Konkurrenz für die Networks, die so hoffentlich zu mehr Inspiration angetrieben werden. Leider ist nicht nur das Konzept, sondern auch der Look des Specials gelegentlich „typisch Network“: Während Coppolas Inszenierung jedem Akt sein eigenes Flair verleiht und somit lobenswert ist, ist die Lichtsetzung – untypisch für Netflix-Werke – arg grell und erinnert mit dem Mangel an Tiefenwirkung zuweilen an Network-Fließbandware. Auch die Szenenübergänge wirken oft planlos – so, als müsste eigentlich eine Werbepause zwei Sequenzen voneinander trennen. 

#8 A Very Murray Christmas, das Special mit Leerlauf. Obwohl Coppola ihr Netflix-Debüt ziemlich vollgestopft hat, kommt es wiederholt zu kurzen Augenblicken, in denen es an Schwung verliert und leicht melancholisch oder schlicht orientierungslos auf der Stelle tritt. Diese Momente sind rar genug, um keine Langeweile grassieren zu lassen, bei einer einmaligen Sichtung von A Very Murray Christmas nehmen sie dem Special trotzdem seine Dynamik. Jedoch ist A Very Murray Christmas nicht darauf angelegt, einmal angeguckt zu werden. Coppola, Murray und Netflix wollen einen neuen Klassiker erschaffen, der immer und immer wieder genossen wird – wie Ist das Leben nicht schön?. Und wie es Weihnachts-Traditionen nun einmal an sich haben, hat auch dieses potentiell zum Evergreen heranwachsende Special so seine Durchhänger – und auf Dauer sind diese sogar willkommen. Wenn es A Very Murray Christmas in die traditionelle Festtagsrotation geschafft hat, erlauben die Zäsuren, sich im Weihnachtsstress kurz anderen Aufgaben, Pflichten oder Genüssen zu widmen. Ob geplant oder nicht – auf langer Sicht sind die kurzen Dürreperioden in A Very Murray Christmas gar nicht mehr gravierend, sondern paradoxerweise erfrischend … 

Fazit: Viel Alkohol, etwas Süßes, etwas Bitteres und ein Funke muss auch übergehen: Eine Feuerzangenbowle braucht acht Zutaten, um so richtig zu gelingen. Ob A Very Murray Christmas nun so viel Zunder hat wie eine gute Feuerzangenbowle, wird wohl jeder Netflix-User für sich selbst entscheiden. Einmal dran nippen, ist hier aber empfohlen, denn A Very Murray Christmas schmeckt nach Adventswochen. Mit allem Süßen und Bitteren, was dazugehört.

Mittwoch, 23. Dezember 2015

DUFF – Hast du keine, bist du eine


Der Mikrokosmos Schule funktioniert auch nicht mehr so, wie man es aus Komödien der 80er- und 90er-Jahre sowie den frühen 2000ern kennt. Sportfreaks, Popkulturnerds, Schönheiten, Langweiler und Selbstdarsteller – durch die Möglichkeiten, sich im Internet mitzuteilen und in Szene zu setzen, verschwimmen die Grenzen zwischen ihnen. Hübsche Mädels, die was auf dem Kasten haben, modern sind und dennoch nähen können, sind kein Ding der Unmöglichkeit mehr. Das Schubladendenken hat endlich ein Ende …

Oder auch nicht.

Denn wo Heranwachsende sind, da sind Gemeinheiten, streng verfolgte Gruppierungen oder Abgrenzungen und Oberflächlichkeiten nicht fern. Zur Not müssen halt neue Labels erfunden werden. Wie etwa 'DUFF'. Oder in aller Ausführlichkeit: 'Designated ugly fat friend'. Oder auf Deutsch: Ausgewiesene(r) hässliche(r), fette(r) Freund(in). Das zugängliche, unauffällige Mitglied einer Gruppe, an das man sich freundlich-unverbindlich wenden kann, wenn man eigentlich viel lieber mit den begehrteren Leutchen etwas anfangen will.

Bianca Piper (Mae Whitman) ging jahrelang ihren Lebensweg, ohne über derart starre Bezeichnungen nachzudenken. Die alte Trash- und Horrorfilme liebende, smarte, einen etwas peinlichen Sinn für Humor hegende Teenagerin kennt zwar die Kunst des Etikettierens. Aber sie fasst ihr Umfeld üblicherweise mittels mehrerer Schlagwörter zusammen. Nur zwei altbekannte Archetypen kennt sie: Den heimlichen Schwarm (Nick Eversman) und die überhebliche Zicke (Bella Thorne). Während einer Party erfährt sie jedoch ausgerechnet durch ihren Nachbarn und Sandkastenspielgefährten Wes (Robbie Amell), dass sie ihren besten Freundinnen (Skyler Samuels & Bianca Santos) nur als DUFF dient. Zunächst will Bianca dies nicht wahrhaben, erst recht, da sich Wes eh zur frechen Nervensäge entwickelt hat. Allerdings hält diese Phase der Verdrängung nicht lange an. Und so nimmt Bianca die neue Erkenntnis zum Anlass, sich von Grund auf zu verändern. Oder wenigstens ihr Image auf der Schule …

Um sich den Teenager-Protagonisten anzupassen, sei kurz auch hier Schubladendenken gestattet. Denn High-School-Komödien lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Jene, die von den Trieben und Körperfunktionen der pubertierenden Figuren handeln. Und jene, die sich mit dem schulischen Sozialgefüge befassen. In beiden Fällen wird gerne das ewig verzwickte Thema Liebe genutzt, um die Handlung aufzuziehen – und so ist es auch beim eindeutig der zweiten Kategorie angehörendem Filmspaß DUFF. Oscar-Gewinner Ari Sandel (verantwortlich für den launigen Kurzfilm West Bank Story) verzichtet nahezu völlig auf humorige Schläge unterhalb der Gürtellinie und lässt Ekelhumor konsequent außen vor. Das in Teenager-Komödien omnipräsente Thema Sex ignoriert DUFF zwar nicht, passend zur im Mittelpunkt stehenden grauen Maus findet es aber nur in amüsanten Gesprächen und herrlich-albernen Tagträumen statt.

Dafür hat DUFF umso mehr über Selbstwertgefühl und den wohl jeden Heranwachsenden irgendwann plagenden Anpassungsgedanken auszusagen. Dabei rennt das Drehbuch von Josh A. Cagan nicht mit einem erzwungen-erhobenen Zeigefinger herum, sondern lässt die löblichen Lektionen glaubwürdig aus der Wandlung der im Mittelpunkt der stehenden Bianca entstehen. Und die ist eine Hauptfigur zum Liebhaben: Eigensinnig genug, um in der Masse an Kino-Außenseitern aufzufallen, aber mit genügend charakterlichen Allgemeinplätzen, um die in diesem Genre so wichtige Identifikation mit der Hauptfigur zu erleichtern.

Mae Whitman kann mühelos zwischen süß, unangepasst, genervt und hoffnungsvoll springen und lässt den Zuschauer mit ihrer ausdrucksstarken Mimik stets wissen, wann Bianca sie selbst ist und wann sie sich verbiegt – ohne dabei die darstellerische Brechstange herauszuholen. Besonders gelungene Momente sind all diejenigen, in denen sie mit Robbie Amell alias Wes interagieren darf, der auf dem ersten Blick einfach nur ein schnöseliges Sportass spielt. Aber schnell wird durch Amells ansteckend amüsierte Spielweise klar, dass Wes auch ein Scherzkeks und gutmütiger Kerl ist – wohlgemerkt ohne dadurch unglaubwürdige Traumtyp-Züge anzunehmen.

Während sich die restlichen Jung-Nebendarsteller auf grundsolidem Niveau schlagen, sind es die erwachsenen Randdarsteller, die noch für einige gesalzene Lacher sorgen. Auch Ken Jeong, der einmal mehr eine peinlich-aufgedrehte Figur zum Besten gibt, findet in DUFF das richtige Maß, nachdem er zuletzt wiederholt zu hibbelig und laut agierte. Dass Jeong, Allison Janney als Biancas Business-Mutter und die weiteren Erwachsenen in der Runde vor allem mit Kommentaren um sich werfen, wie sehr sich die Schulwelt dank moderner Medien geändert hat, ist ein weiterer Pluspunkt des Films: Ältere Filmfreunde dürfen sich mit den Erwachsenen verbrüdern und bei diesen Seitenhieben mitschmunzeln, das Kernpublikum dagegen verständnislos über die altmodischen Kommentare lachen. Generell gelingt es DUFF, die altbekannten Elemente einer High-School-Komödie zu modernisieren, ohne dabei die aktuelle Medientechnologie zu sehr in den Vordergrund zu drängen. So kommt eine Mischung zustande, die aktuell und authentisch wirkt, aber nicht anbiedernd oder dazu verdammt, bald als veraltet dazustehen.

Dass die locker-freundliche Spielweise von DUFF zwischenzeitlich dann doch für zwei, drei sehr konventionelle Plotentwicklungen unterbrochen wird (denn ein Teenie-Film braucht vermeidbare Missverständnisse), ist derweil sehr schade. Würde DUFF seinen selbstbewussten Außenseiterstatus durchgehend beibehalten, könnte er das Niveau eines Einfach zu haben, Girls Club – Vorsicht bissig! oder 10 Dinge, die ich an dir hasse erreichen, was angesichts des kurzen Anflüge von Alltäglichkeit dann doch zu hoch gegriffen ist. Dennoch schiebt sich DUFF mit prägnanten Musikeinsätzen, vielen visuellen Einfällen und einem zwar überraschend zahmen, aber sehr sympathischen Storytelling an der handelsüblichen Genreware vorbei. Nicht übel für ein zugängliches Pummelchen, oder?

Love & Mercy


In den Sechzigern prägte Brian Wilson mit den Beach Boys nachhaltig die Pop-Musik sowie das Image des sonnigen US-Staats Kalifornien und der Surfer-Subkultur. Dabei stand der pummelige, introvertierte Komponist angeblich niemals auf einem Surfbrett. Und auch mit seinen anderen Bandmitgliedern verstand er sich nur leidlich. Denn während sie sehr komfortabel damit waren, die Wünsche der Plattenfirma zu erfüllen und stets die Beach-Boys-Formel zu bedienen, sehnte sich Brian Wilson danach, mit Instrumenten und den Möglichkeiten der Studioaufnahmetechnik zu experimentieren. Was in das Album 'Pet Sounds' mündete, welches mittlerweile als eine der besten und einflussreichsten Platten der Musikgeschichte anerkannt wird, war seinerzeit ein dramatischer Wendepunkt in Wilsons Karriere. Regisseur Bill Pohlad nimmt sich in Love & Mercy dieser Phase des Lebens Wilsons an, sowie einem Abschnitt in den Achtzigern, in dem Wilson nur noch ein Schatten seiner selbst war, als er seine künftige, zweite Ehefrau Melinda Ledbetter kennenlernte.

Das Biopic präsentiert sich aus tonaler Hinsicht dementsprechend schizophren, was angesichts der bewegten Biografie von Brian Wilson auch eine angemessene Herangehensweise darstellt. Allerdings tritt das Drehbuch aus der Feder von Michael Alan Lerner und Oren Moverman immer wieder derart ausführlich auf der Stelle, dass im Umkehrschluss diverse entscheidende Punkte – sowohl aus biografischer als auch aus dramaturgisch-narrativer Hinsicht – auf der Strecke bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass das Niveau der Dialoge nicht den vom Skript angeschnittenen Themen gerecht wird: Während auf der Handlungsebene Depressionen, Einsamkeit, die Schattenseiten sowie Pluspunkte eines fortschrittlich-künstlerischen Denkens sowie Spätfolgen von Drogenmissbrauch behandelt werden, sind die Dialoge von teils schmerzhaft-simplen Formulierungen geplagt.

Von einem erzwungenen Gespräch zwischen Brian Wilson und Beach-Boys-Frontsänger Mike Love darüber, dass Hunde die 'Good Vibrations' von Menschen spüren können, welches auf die Entstehung eben dieses Songs hinleitet, bis hin zu einem Moment, in dem das Dialogbuch Paul Giamatti wortwörtlich die bereits überdeutlich etablierte Beziehung zwischen Wilson und seinem Therapeuten und Vormund Dr. Eugene Landy nachskizzieren lässt: Love & Mercy gelingt es wiederholt, seine subtilen und ausdifferenzierten Momente gewaltsam einzureißen, indem Offensichtlichkeiten grell unterstrichen werden und Szenenübergänge fast schon eine Anmoderation auf Niveau einer Privatradio-Morningshow erhalten. In einer Post-Walk Hard-Ära dürfte sich so etwas kein ernst gemeintes Musikerdrama solche Wege beschreiten.

Am meisten leidet die Figur des Independentfilm-Darlings Paul Giamatti unter der fluktuierenden Qualität des Drehbuchs: Als obsessiver, herrischer Vormund Wilsons agiert Giamatti mit Energie und einschüchternder Intensität, aber gerade in entscheidenden Passagen fallen seine Dialogzeilen zu aufdringlich, geradezu cartoonhaft aus. Giamattis mimisches Talent weiß dies teils zu kaschieren, doch die Prägnanz des Schauspielers macht es dafür umso auffälliger, dass seine Rolle gen Schluss eilig aus der Handlung geschoben wird, obwohl zuvor wiederholt betont wurde, wie schwierig genau das doch zu bewerkstelligen sei.

Nicht minder rätselhaft ist die Besetzung Paul Danos und John Cusacks als Brian Wilson in seinen Zwanzigern respektive in seinen Vierzigern. Während beide Schauspieler ihre Szenen jeweils gut (John Cusack) bis hervorragend (Paul Dano) über die Bühne bringen, versäumt es die Regie, ihnen eine verbindende Note zu geben. Daher driften beide Seiten Wilsons aus darstellerischer Sicht so weit auseinander, dass es selbst angesichts der inhaltlichen Gegebenheiten unmöglich wird, beide Performances als jeweils eine Seite derselben Medaille anzusehen. Angesichts der obendrein vorherrschenden, gewaltigen äußeren Unterschiede der Mimen klafft zwischen den beiden Handlungsfäden von Love & Mercy eine so weite Lücke, dass sie wie zwei ineinandergeschnittene Sechzigminüter wirken. Und aus diesen beiden Filmen, die sich zu Love & Mercy formen, ist es schwer, einen Favoriten herauszupicken.

Während Dano subtiler, berührender spielt und in seinen Szenen zudem die Regie- und Kameraführung einfallsreicher ist (besonders gelungen: die grobkörnigen, unmittelbaren und daher dokumentarisch anmutenden Szenen im Tonstudio), sind Cusacks Szenen raffinierter strukturiert, ziehen sich seltener, und profitieren zudem von Cusacks sehenswertem Zusammenspiel mit einer einfühlsamen, dennoch lebensfrohen Darbietung Elizabeth Banks' alias Melinda Ledbetter. Bedauerlich, dass ihr Kampf um Wilson nur in einer sehr rudimentären, und dadurch schockierend simplen, Form abgehandelt wird. Und beschämend, dass die Inszenierung von Banks' und Cusacks' Szenen um ein Vielfaches lust- und ideenloser erscheint als die der Sechziger-Sequenzen.

In zweierlei Hinsicht wird Love & Mercy all diesen Negativpunkten zum Trotz seinem Protagonisten gerecht: Komponist Atticus Ross lässt Versatzstücke von Beach-Boys-Liedern und atmosphärische Geräuche zu einem cleveren Score verschmelzen. Und Regisseur Bill Pohland bringt darüber hinaus eine gewaltige Masse an ausgefallenen Ideen mit – ganz so wie Wilson in seiner besten Zeit. Womit Love & Mercy Brian Wilsons Schaffen aber weit unterlegen ist: Bohland gelingt es nicht, seine Ansätze so zu orchestrieren, dass sie zu einer mitreißenden Einheit verschmelzen – stattdessen wird durch die Umsetzung deutlich, wo Kompromisse gemacht und Fehltritte getätigt wurden.

Fazit: John Cusack und Paul Dano spielen in der zähen, stellenweise unfreiwillig komischen Brian-Wilson-Biografie Love & Mercy gegen ein Drehbuch von äußerst wankelmütiger Qualität an.

Dienstag, 22. Dezember 2015

Victoria


Obwohl digitale Kameras in der Kinoindustrie mittlerweile zum Standard geworden sind, sind es ungebrochen die analogen Kameras, die große Leidenschaft wecken. Egal ob Quentin Tarantino, Christopher Nolan oder Martin Scorsese: Zahlreiche fähige, namhafte Regisseure schwören darauf, ihre Bilder auf Film zu bannen. Das Ergebnis sei nicht zwingend realitätsnäher, aber ästhetischer, magischer und kunstvoller. Wenn Filmemacher digitale Kameras loben, so hat dies indes zumeist nur praktische Gründe: Mit ihnen ließe es sich schneller und einfacher arbeiten. Mitunter haben sie den Stand eines aufgezwungenen Werkzeugs, mit dem man sich langsam arrangiert – wiederholt kommt es zu Aussagen von Regisseuren und Kameraexperten, nach denen digital gedrehte Filme mittlerweile ja auch fast schon so aussehen würden, wie klassisch gedrehte Filme. Daher sei der Wechsel von der einen zur anderen Technik ja nicht mehr so schlimm. Ein Lob, digitale Kameras seien besser, ist nur selten zu vernehmen.

Dabei brachte die digitale Kameratechnologie der Filmkunst ausreichend Gutes, dass sie solch eine stiefmütterliche Behandlung nicht durch die Bank weg verdient hat. Der zuletzt vorherrschende Mangel an wirklich überzeugender, von der künstlerischen und nicht etwa von der praktikablen Seite der Dinge ausgehender Begeisterung, könnte daher rühren, dass diese Technologie schon länger nicht mehr mit einem auffälligen Triumph aufwarten konnte. Zumindest, bis Victoria auf die Tanzfläche stürmte und mit Verve eine Aussage für das Digitalkino aufs Parkett legte.

Denn dieser Film wäre ohne digitale Kameratechnik nicht möglich gewesen: Dieser Geniestreich, ausgerechnet aus der in Sachen Kino gern als spröde und ideenlos titulierten Bundesrepublik Deutschland, wurde komplett am Stück gedreht. 140 Minuten ohne Schnitt, ohne Pause – und anders als bei Birdman ohne jegliche Tricksereien. Was Alejandro González Iñárritu und Emmanuel Lubezki mit ihrer Showbiz-Satire bloß vorgegeben, leisten Regisseur Sebastian Schipper und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen tatsächlich. Dass Victoria in nur einem einzigen Take gedreht wurde, ist aber nicht nur eine logistische Glanzleistung und eine eindrucksvolle Vorführung der Möglichkeiten digitaler Kameras. Bei diesem Genrehybriden verschmelzen der Inhalt und das Formale zu einer im wahrsten Sinne des Wortes überwältigenden Einheit.

Es beginnt in einem Club, irgendwo in Berlin: Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) arbeitet seit kurzer Zeit in der deutschen Hauptstadt als Kellnerin, hat bislang keinerlei Kontakte knüpfen können, und tanzt allein durch die Nacht. Als sie wenige Stunden vor dem Morgengrauen den Club verlässt, begegnet sie vier betrunkenen jungen Männern, die am Straßenrand gerade Unfug anstellen. Victoria und Sonne (Frederick Lau) kommen trotz der sprachlichen Hürden direkt ins Gespräch, und so folgt die Einsame ihm und seinen Freunden Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) durch die Straßen der Metropole. Zunächst scheint sich dieses unerwartete Aufeinandertreffen zum romantisch-ruhigen Nachglühen einer langen Partynacht zu entwickeln. Doch als sich Boxer auf eine krumme Sache einlässt, nimmt diese Großstadtanekdote eine aufreibende Wende …

Um direkt die einzige nennenswerte Schattenseite von Victoria anzusteuern: Wie es Spielfilme, die den Geist und die Attitüde eines Milieus atmen, nun einmal an sich haben, versucht auch Schippers Berlin-Porträt einen kleinen Drahtseilakt. In diesem Fall geht es ganz spezifisch darum, das Publikum für die Tunichtgute zu erwärmen, mit denen sich Victoria und Sonne herumtreiben. Leider gehen die Darsteller, die ihre Dialogpassagen weitestgehend anhand von Improvisationen bestreiten, aber all zu sehr in ihren Rollen spätpubertierender Berliner Chaoten auf. Ohne ausgefeiltes Dialogbuch sind Boxer, Fuß und Blinker zuweilen arg davon abhängig, ob der Zuschauer von sich aus ein Faible für diese Zeitgenossen, ihren Lebensstil und ihre Weltsicht aufbringen kann. Sie sind zwar authentische Typen, aber leben dies auch nahezu ohne dramatugisch-narrative Hilfestellung aus. Wer also schon in den ersten Augenblicken seine Probleme mit dem Trio hat, dem werden diese Nebenfiguren aufgrund des rudimentären Skripts auch nicht später im Film etwas bedeuten, womit die Spannungskurve zwar nicht völlig ausgebremst, aber etwas gedrosselt wird. Und wer sich mit ihnen identifizieren kann, der kann dies primär aufgrund dessen, dass sie nun einmal einen bestimmten Typus darstellen – eine große Leistung in Sachen Charakterzeichnung stellen Sonnes Freunde nämlich nicht dar. Je nach persönlicher Einstellung sind sie halt nur obendrein Ballast, der Victoria und Sonne aufhält. Da Schipper sich auf thematischer Ebene durchaus auch darauf verlässt, dass Sonnes Freunde nicht unbedingt ein großer Segen ist, lassen sich deren Nervereien jedoch ertragen.


Da Boxer, Fuß und Blinker zudem nur sehr selten die Aufmerksamkeit von Victoria und ihrer Zufallsbekanntschaft ablenken, fällt die durchwachsene Ausarbeitung dieses Dreiergespanns eh bloß nur minimal ins Gewicht. Bei den Figuren, auf die es ankommt, brilliert dieser außergewöhnliche, filmische Städtetrip unterdessen in einer Tour: Mit einem aufgeweckten, neugierigen und abenteuerlustigem Blick saugt Laia Costa in der Titelrolle das Geschehen förmlich auf. Und mit ihrem schmalen Lächeln sowie einem nahezu unsterblichen Willen, alles so zu nehmen, wie es kommt, wird sie gleichermaßen zur guten Seele als auch zur Antriebsfeder dieses Films. Die Gefahr, dass sie somit zu einer unausgearbeiteten Männerfantasie verkommt, ist glücklicherweise nicht gegeben: Wenn sich Victoria zwischenzeitlich ungestört mit Sonne unterhalten kann, lässt sie kurz, aber effektiv in eine komplexe Seele blicken – und eben diese in ihr schlummernde Unberechenbarkeit gewinnt im letzten Drittel dieses cineastischen Ritts exponentiell an Bedeutung.

Der unter anderem aus Die Welle bekannte Frederick Lau behauptet sich indes als perfekte Besetzung für dieses bemerkenswerte Kinoexperiment. Zu gleichen Teilen protzig und unbeholfen, in einem haarsträubend-liebenswerten Wust aus Deutsch, Englisch, Denglish und Berlinerisch radebrechend gibt er eine markante Type ab, die sich aber im Gegensatz zu ihren Freunden nicht nur aus ihrer Selbstdarstellung nährt. Wie Sonne nach und nach seinem Gelegenheitsflirt verfällt und immer verzauberter dreinblickt, ist pures cineastisches Gold – und ein erster Beleg dessen, dass die technische Umsetzung von Victoria mehr als ein bloßes Gimmick darstellt. Dadurch, dass die vom Norweger Sturla Brandth Grøvlen mühevoll durch 22 Locations geschleppte Kamera den Turteltauben auf Schritt und Tritt folgt, und dabei wie im wahren Leben mal näher rückt und mal deutlich hinterherhinkt, wird der Zuschauer zum beiläufigen Augenzeugen einer sich entfaltenden, naiven Romanze. In Echtzeit und ungekünstelt.

Damit aber noch nicht genug: Sobald die Fünfertruppe in miese Machenschaften verwickelt wird, bestünde in einer Produktion mit konventioneller Bildsprache die Gefahr, dass der Genrewechsel wie ein Einschnitt wirkt und so den ausführlichen Aufbau zugrunde richtet. Durch die wenige Atempausen erlaubende, den Betrachter mitten ins Geschehen versetzende Herangehensweise Schippers fesselt Victoria dank seiner Abkehr ins Krimigenre dagegen nur umso mehr. Nun kennen wir die Protagonisten, sind zumindest manchen von ihnen verfallen, also gilt es ab sofort, mitzufiebern, wenn sie sich ungewollt und ungeahnt in großen Schwierigkeiten wiederfinden. Beide Gesichter dieses Films profitieren daher voneinander: Die so authentische, alltägliche Beziehung zwischen Sonne und Victoria erhält durch den spektakulären Schlussakt eine besondere, denkwürdige Note – einen Hauch Gangsterromantik. Und der Krimi-Aspekt wird durch das lange Vorspiel realer, lässt den Zuschauer stärker mitfühlen. Es gibt Dutzende, vielleicht Hunderte stylische Kriminalfilme, die Spaß machen. Victoria versetzt einen wiederum mitten in die Lage jener Menschen, die mit einem Schlag in eine ihnen unbequeme Tat verwickelt werden. Und durch die nie ganz perfekt durchgeplante, aber sehr wohl unentwegt perfekt ihre Wirkung entfaltende Kameraarbeit ist man selbst in der Betrachterposition nicht sicher: Orientierungsverlust und Kurzatmigkeit sind nahezu garantiert.

Nach 140 Minuten mit zunehmender Hektik und Dramatik ist man dann völlig platt. Und glücklich. Glücklich, dass man diese Nacht überstanden hat. Glücklich, dass man sich im sicheren, überschaubaren Kinosaal oder den heimischen vier Wänden befindet. Und glücklich, dass der deutsche Film fähig ist, solche Sensationsleistungen abzuliefern.

Fazit: Überwältigend, mitreißend, einzigartig. Victoria ist ein filmischer Trip, den man einfach mitgemacht haben muss!

Montag, 21. Dezember 2015

Kind 44


 Ursprünglich wollte Ridley Scott das Filmprojekt Kind 44 leiten. Dann verließ er aber den Regieposten. Stattdessen verfilmte ein chilenisch-schwedischer Regisseur den in Stalins Sowjetunion spielenden Bestseller eines britischen Romanautoren – all dies wurde mit US-amerikanischem, britischem, tschechischem und rumänischem Geld bezahlt. Und wurde in Russland unmittelbar nach den ersten Pressevorführungen zurückgezogen. Kurzum: Die Hintergrundgeschichte von Kind 44 ist äußerst spannend. Viel spannender als der eigentliche Film. Denn trotz einer sorgfältigen Ausstattung und einer atmosphärischen Kameraarbeit durch Philippe Rousselot, der vornehmlich auf kontrastarme, dunkle Farben setzt, vermag es der 137-minütige Film nicht, Suspense aufzubauen. Und auch seine Aussagen über die stalinistische Ära der Sowjetunion sind zwar kompromisslos harsch, jedoch auch eintönig und somit längst nicht so erhellend, dass sie allein die gesamte Laufzeit tragen könnten.

Wir schreiben das Jahr 1953. Obwohl sich die Regierung damit rühmt, dass es im Arbeiterparadies der Sowjetunion keine Verbrechen gibt, lässt sich niemals der gegenteilige Gedanke abschütteln. Die Gefahr scheint stets hinter der nächsten Ecke zu lauern, insbesondere der willkürliche Tod schwebt über dem kommunistisch regierten Gebiet. Der gefeierte Kriegsheld Leo Demidow (Tom Hardy), der sich als Geheimdienstoffizier einen respektablen Namen erarbeitet hat, glaubt dennoch fest an die Doktrin, dass es keine Mörder in der Sowjetunion gibt – bis eine grausam zugerichtete Leiche gefunden wird. Es ist der Sohn eines befreundeten Offiziers und es ist ganz offensichtlich, dass der Junge einem Verbrecher zum Opfer fiel. Generalmajor Kuzmin (Vincent Cassel) aber deklariert es als Unfall. Leos Welt gerät ins Wanken, erst recht, da seine Frau Raisa (Noomi Rapace) als Verräterin verleumdet und er somit in eine Zwickmühle gedrängt wird: Eliminiert er sie, obwohl er genau weiß, dass sie unschuldig ist, oder stärkt er ihr den Rücken und widersetzt sich somit der Obrigkeit?

Drehbuchautor Richard Price, der unter anderem das Skript zu Martin Scorseses Die Farbe des Geldes verfasste, entschloss sich, seine Adaption des Erfolgsromans von Tom Rob Smith nicht direkt mit der titelgebenden Kriminalgeschichte zu eröffnen. Bevor sich Leo Demidow unter den kritischen Augen des Milizanführers Nesterow (Gary Oldman) auf die Suche nach dem Serien-Kindsmörder macht, führt Price ausführlich den Hintergrund seines Protagonisten ein, ehe er mit den Intrigen von Leos Rivalen Wassili (Joel Kinnaman) ein zweites Thema lostritt. Eine sich derart allmählich entfaltende Erzählung wäre an sich zu begrüßen – würde mit der langsamen Narrative auch eine Komplexität einhergehen. Stattdessen bleiben die Figuren, abgesehen von Leo Demidow, sehr einseitig. Und auch die Beobachtungen über die Lebensart und Ideologie in der stalinistischen Sowjetunion sind zwar von thematischer Düsternis und Prägnanz, jedoch nutzten Price und Regisseur Daniél Espinosa (Safe House) die Laufzeit ihres Werkes nicht, um diesen Ansatz zu vertiefen. Früh wird eingeführt, dass das Regime seine Weltsicht mit aller Macht durchsetzen will und dass das Leben für Rangniedere und normale Bürger trostlos ist – und diese Note spielt Kind 44 bis zum Ende durch.

Die Mechanismen, die Stalins Sowjetunion aufrecht erhalten haben, und die verzweifelten Versuche der Bürger, sich durch ihren Alltag zu ringen, werden derweil nicht beleuchtet – Kind 44 kratzt also nur an der Oberfläche, nutzt sein Setting allein, um einen ungewöhnlichen Schauplatz für eine Mördersuche zu haben. Legitim, in diesem Fall aber misslungen, da eben dieser Kriminalplot erst nach einer ausführlichen Exposition beginnt – und dann mehrmals unterbrochen wird, um die vorab geleistete Charakterbildung Leos zu wiederholen. Ein erzählerischer Fluss kommt daher selbst im konzentrierteren Mittelteil kaum zustande, was wiederum die Spannungskurve niedrig hält.

Dadurch, dass sich das behäbige Skript in Monotonie übt, sind auch die meisten Darsteller verloren – sie haben schlicht zu wenig Material, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Von den Nebendarstellern kann allein Gary Oldman dem Drama mit einer routiniert-intensiven Perfomance seinen Stempel aufdrücken, während der lange verdeckte Darsteller des Kindsmörders zwar das Potential zeigt, etwas aus seiner Rolle zu machen, aufgrund seiner mickrigen Leinwandzeit bleibt er allerdings hinter seinen Möglichkeiten zurück. Tom Hardy indes ist in Kind 44 zwar meilenweit davon entfernt, eine Karrierebestleistung abzuliefern, jedoch gibt er seiner Figur das nötige Selbstbewusstsein mit, um als stiller Widerständler gegen das Regimedenken zu überzeugen. Hardys schleichend an Starrheit verlierenden Gesichtszüge helfen zudem, die auf Skriptseite mehrmals mit dem Brecheisen erklärte Sinneswandlung seiner Rolle schauspielerisch und somit emotional nachvollziehbar zu gestalten.

Dies genügt aber nicht, um Kind 44 inhaltlich an das solide bis gute Niveau seiner äußeren Gestaltung heranrücken zu lassen. Die ausschweifende, grimme Ausstattung und die milchig-nebligen Bilder dieses Historienfilms lassen den Zuschauer für die gesamte Laufzeit völlig in diese trostlose Welt abrutschen – ausgenommen von den raren, hektischeren Actionszenen, in denen rasche Schnitte und Wackel-Handkameraaufnahmen erfolglos versuchen, diesem Werk einen Puls zu verleihen.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Das Versprechen eines Lebens



Zu sagen, dass Russell Crowe förmlich am Filmset aufgewachsen ist, stellt keine Übertreibung dar: Die Eltern des Oscar-Preisträgers waren als Caterer für australische Film- und Fernsehproduktionen tätig und nahmen ihn regelmäßig mit zur Arbeit. Alsbald wurde er als Kinderdarsteller für Minirollen engagiert, als Jugendlicher schlug er dann gezielt eine Schauspielkarriere ein, die ihn zum Beispiel unter der Führung solcher Regie-Schwergewichte wie Michael Mann, Ridley Scott, Ron Howard und Peter Weir agieren ließ. Der 51-Jährige blickte in all dieser Zeit jedoch wiederholt über den Tellerrand und versuchte sich in anderen Bereichen – unter anderem betätigte er sich als Rocksänger sowie als Regisseur. Bislang begnügte sich Crowe aber mit zwei Kurzdokumentationen und einer weniger als 80 Minuten langen Tournee-Doku über seine Band 'Thirty Odd Foot of Grunts'.

Mit Das Versprechen eines Lebens  aber feiert Crowe schlussendlich sein Debüt als Spielfilm-Regisseur – und obschon dieses Historien- und Kulturverständigungsdrama so seine Schwächen hat, kann man ihm eins nicht absprechen: Russell Crowe steckt all sein Herzblut in diese filmische Verarbeitung eines geschichtlichen Kapitels, das im Massenkino bislang nahezu gar keine Beachtung erhalten hat. Der Film handelt nämlich von der Schlacht von Gallipoli und den daraufhin angespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Australien. Die Bezugsperson, mit der das Publikum dieses Thema für sich entdeckt, ist der australische Farmer Joshua Connor (Russell Crowe), dessen drei Söhne kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs freiwillig der Armee beitreten. Diese beteiligen sich am australischen Feldzug gegen die Türkei – und kehren nie wieder heim.
Joshua und seine Frau können mit dem Verlust ihrer Kinder nicht umgehen, wobei es der Mutter der drei Jungs Art, Henry und Edward durch diesen Schicksalsschlag deutlich schlechter ergeht. Nach ihrem unerwarteten Selbstmord besinnt sich der Witwer an das einst abgegebene Versprechen, seine Söhne zurück nach Hause zu holen – sei es, um sie wieder in seinen Armen halten zu können, oder um ihren sterblichen Resten eine würdevolle Bestattung auf heimischen Boden zu geben. In der Türkei angekommen, gerät Joshua aber an den bürokratischen Apparat der Briten sowie an das türkische Militär, das sich weigert, einen Angehörigen des Kriegsgegners zu unterstützen. Mit der moralischen Unterstütung der Hotelbesitzern Ayshe (Olga Kurylenko) und mit unverhoffter tatkräftiger Hilfe von Major Hasan (Yılmaz Erdoğan) sowie Sergeant Cemal (Cem Yılmaz) hält Joshua dennoch an seinem Vorhaben fest …

Wenn ein Schauspieler nach Jahrzehnten vor der Kamera plötzlich hinter die Kamera tritt und dann obendrein Themen wie Volkerverständigung und/oder Krieg anpackt, ist der Vorwurf nicht fern, dass sich der zum Regisseur gewandelte Mime nur in den Augen diverser Preisjurys profilieren möchte. Das Versprechen eines Lebens als solche Awards-Buhlerei zu etikettieren wäre jedoch voreilig. Nicht nur, weil sich Crowe entgegen der üblichen Oscar-Bait-Methoden für ein westlich der Türkei wenig diskutiertes geschichtliches Grundthema entschieden hat und obendrein die Figur des Joshua frei nach einem nicht in den Geschichtsbüchern festgehaltenen Mann interpretierte, der dem Mimen seine Familiengeschichte in einem Brief nacherzählte. Vor allem übertrifft Das Versprechen eines Lebens solche Machwerke wie Angelina Jolies verhohlenes Melodrama Unbroken, da pathetische Tränenzieher-Momente ebenso ausbleiben wie berechnende Augenblicke, die der Publikumsanbiederung dienen.

So verzichtet das Drehbuch der Autoren Andrew Anastasios und Andrew Knight auf gestelzte Exposition, die dem geschichtlich weniger bewanderten Zuschauern ausführlich die Relevanz der besprochenen Ereignisse vorführt. Stattdessen halten Anastasios und Knight ihr Publikum für aufnahmefähig genug, sich dieses Wissen im Laufe des Films durch Dialoge und nonverbale Reaktionen der Figuren zu erschließen – sofern sie nicht eh mit ausreichendem Vorwissen ins Kino gehen. Darüber hinaus verschonen die Filmemacher die ins Auge gefassten Parteien nicht mit Kritik: Das Versprechen eines Lebens sagt unmissverständlich aus, dass sich die Türkei sowie Australien durch den Krieg nicht mit ethischem Ruhm bekleckert haben. Anders als Jolies bereits besagte Regiearbeit Unbroken oder zahlreiche weitere Kriegsdramen zwängt diese 22,5 Millionen Dollar teure Produktion ihren Zuschauern aber keine ungewollt peinlichen Monologe auf, in denen die Moral der Geschicht' explizit ausformuliert wird. Viel mehr lassen Crowes Regieführung und das Drehbuch die nahezu durchweg unterschwellig dargebotenen, stets eindringlichen Emotionen der zentralen Figuren Bände sprechen – was von einer ehrlichen Hingabe für die Thematik spricht und weniger für einen 'Schaut her, wir machen etwas von Bedeutung!'-Ansatz.

Erzählerisch ist Das Versprechen eines Lebens  dennoch nicht völlig rund geraten. Denn das Konstrukt aus zwei Zeitebenen und mehreren Schauplätzen mit ihren ganz eigenen thematischen Schwerpunkten findet nie einen fließenden Rhythmus: Zwar haben sämtliche Erzählstränge ihre Stärken (selbst der vergleichsweise beiläufig erzählte Hotelalltag rund um Olga Kurylenko, der mit altmodischem Screwball-Charme daherkommt), jedoch verläuft sich jeder dieser Plotfäden irgendwann in jeweils eine gefühlt endlose Szene, die auch nach verlorenem Momentum fortgeführt wird. Dies schadet der Spannungskurve, die aufgrund der einen bekannten Ausgang aufweisenden Rückblick-Passagen eh schon gemächlich verläuft. Dafür ist die Bildgewalt dieses Regiedebüts exoribitant: Der kürzlich verstorbene Der Herr der Ringe-Kameramann Andrew Lesnie kreiert sowohl in der australischen Wüste als auch im staubig-belebten Istanbul sowie auf Gallipoli umwerfende Aufnahmen mit kräftig-malerischen Bildern und satten Kontrasten.

Unterstützt von solider, abwechslungsreicher, aber sich nie in den Vordergrund drängender Musik von David Hirschfelder, sowie von zumeist behutsam eingesetzten Humor-Sprengseln („Frische Laken, warmes Wasser, keine Deutschen!“) hinterlässt Das Versprechen eines Lebens daher einen milde-positiven Gesamteindruck. Crowes Regiedebüt ist wahrlich kein Film für die Ewigkeit, und seine Schwachpunkte hemmen sein Potential spürbar. Doch das beispielhafte Herzblut, das Crowe in diese unpathetische, visuell kraftvolle Erzählung gesteckt hat, sollte jedem Filmfreund Respekt vor Das Versprechen eines Lebens abringen.