Samstag, 30. Juni 2012

Einschalttipp: Sounds of Cinema


Seid auch ihr verzweifelt auf der Suche nach lohnenswerter Fernsehunterhaltung für den 1. Juli? Denkt auch ihr, dass morgen nur Müll in der Flimmerkiste kommt? Schreit nicht zu früh auf: Der Bayerische Rundfunk zeigt morgen ab 22.15 Uhr ein weiteres von Roger Willemsen moderiertes Filmmusikkonzert. Dieses Mal steht Sounds of Cinema im Zeichen von Helden, zu hören gibt es unter anderem Erich Wolfgang Korngolds Musik zum Herr der Sieben Meere, John Williams Klänge zur Harry Potter-Reihe, das legendäre Thema aus Die glorreichen Sieben sowie Alan Silvestris Forest Gump-Musik auch das unvergessliche Miss Marple-Leitmotiv von Ron Goodwin. Auch Der talentierte Mr. Ripley wird zu seinen Ehren kommen.

Also: Einschalten. Was besseres läuft eh nicht.

Goofy and Wilbur


Dieses Jahr feiert eine von Disneys beliebtesten und frühsten Figuren den achtzigsten Jahrestag ihres Leinwanddebüts: Goofy! In dieser Reihe zerren wir den optimistischen Tölpel aus dem Schatten der Maus und blicken zur Feier seines Jubiläums auf seinen cineastischen Werdegang unter Walt Disney. Dies sind Goofys Meilensteine.

Ende der 30er änderte sich der Stand der Disney-Cartoons. Einerseits, weil mit der Produktion abendfüllender Zeichentrickfilme begonnen wurde, andererseits aber auch, weil Mickys Co-Stars Donald, Goofy und Pluto beim Publikum an Popularität gewannen und auch innerhalb des Studios als immer attraktiver galten. Somit wurden Teams abgesteckt, die sich speziell um Kurzfilme mit Donald oder auch Pluto in der Hauptrolle kümmerten. Während diese beiden schon 1937 ihre eigene Filmreihe erhielten, erschwerten mehrere Faktoren den Start einer eigenen Goofy-Reihe. Erst am 17. März 1939 konnten US-Kinogänger den Tollpatsch in seinem ersten Solo-Auftritt ohne Unterstützung bekannter Disney-Schöpfungen bewundern: Goofy and Wilbur.

Original-Kinoplakat zu Goofy and Wilbur. Man bemerke den Hinweis auf "Mickey Mouse"

Obwohl Art Babbitt ein ausführliches Essay über die Persona Goofys verfasste, welches schließlich Wunder bei der Verwendung dieser Figur in ihren gemeinsamen Filmen mit Micky und Donald wirkte, herrschte Ratlosigkeit unter den Disney-Gagautoren und -Zeichnern, wie Goofynicht bloß eine Nebenhandlung, sondern einen kompletten Kurzfilm stemmen könnte. Denn der liebenswerte Naivling funktionierte in seinen bisherigen Auftritten am besten, wenn er eine simple Aufgabe schlichtweg nicht bewältigen konnte, sei es, weil er den naheliegenden Lösungsansatz nicht fand oder absurde Umwege ging.

Während Autoren wie Carl Barks und Regisseur Jack King Möglichkeiten sahen, rund um Donalds Temperament und Missgeschicke ganze Kurzfilme aufzubauen, und sich in den Studios bereits viele auf pointierte Geschichten mit Pluto spezialisierten, konnte man nichts mit dem Konzept "Goofy als Star" anfangen. Erschwerend kam hinzu, dass es 1937* nach den Tonaufnahmen zu The Lonesome Ghosts zu einem Ausfall zwischen Walt Disney und Pinto Colvig, Goofys Sprecher und die Inspiration zum Disney-Underdog, kam. Wie unter anderem in der Walt-Disney-Biographie von Neil Gabler berichtet wird, beschwerte sich der in den Studios nicht gerade unterbeschäftigte Colvig (er sprach auch Schweinchen Schlau in Three Little Pigs sowie zwei der sieben Zwerge in Schneewittchen und war als Autor und Regisseur in der Cartoon-Abteilung tätig) über mangelnde Bezahlung. Dies artete in hitzige Debatten aus, nach denen Walt Disney einen klaren Strich zog: "Er ist einfach nur ein Clown und nicht die Art Zeitgenosse, die wir brauchen, um unsere Produktion am Laufen zu halten", berichtet Walt in einem Brief an seinen Bruder Roy, der dazu führte, dass Colvigs Arbeitsvertrag nicht verlängert wurde. Es wird aber nicht allein die Bitte um ein höheres Gehalt sein, die Colvig seine Stellung gekostet hat. Auch Donald-Sprecher Clarence Nash bat um mehr Geld, wurde dafür von Walt jedoch nur in einem familiären Tonfall ausgeschimpft. Es war auch Colvigs Tonfall, der Walt Disney missfiel: "Er winselt mich voll, seit er hier angestellt ist. [...] Ich brauche seine Stimme für den Goof nicht so dringend, als dass ich ihn länger ertragen müsste."

*Manche Quellen datieren diesen Streit erst auf 1939, möglicherweise, weil in diesem Jahr Goofy and Wilbur startete. Die unter anderem bei Disney-Archivist Dave Smith getätigte Behauptung, Colvig und Walt trennten 1937 ihre Wege, erscheint mir jedoch schlüssiger und ist vor allem durch die detailliertere Schildung im Kontext von Lonesome Ghosts etwas glaubwürdiger.

Im Anschluss an Colvigs Entlassung konnten sich die Disney-Künstler in den Trio-Cartoons noch damit behelfen, alte Tonschnipsel wieder zu verwerten. Für einen Goofy-Soloausflug war dies dagegen eine arge Herausforderung, so dass letztlich Ersatz für Colvig hermusste. Mit dem Cartoon Goofy and Wilbur wagten die Disney-Studios dann auch einen Neuanfang für Mickys trotteligen Kumpel. Zwar wurden Colvigs charakteristischste Goofy-Aufrufe wiederverwertet, zugleich aber wurde auch George Johnson darum gebeten, Colvigs Tonfall nachzuahmen und neue Zeilen einzusprechen. Die Regie für den Kurzfilm führte Donald-Mitschöpfer Dick Huemer, der sich in Lonesome Ghosts als grandioser Goofy-Zeichner bewies und auch den Cartoon The Whalers leitete, in dem sich Donald und Goofy ohne ihren Mäuserich von Freund herumschlugen.


Goofy and Wilbur zeigt den sachte aufsteigenden Disney-Star bei seiner außergewöhnlichen Auslegung des Freizeitsports Angeln: Er fährt mit seinem Freund, den Grashüpfer Wilbur, auf einen Teich und setzt ihn als lebenden Köder ins Wasser, wo er sich den Fischen preisbietet. Dann hüpft das kecke Kerlchen durch ein Fischernetz, durch das die Fische nicht passen. Die vitale Animation Wilburs, die die frohe Attitüde vieler Silly Symphonies mit dem Slapstick der sonstigen Disney-Cartoons vereint, macht Goofys ersten eigenen Cartoon bereits zu einem kleinen Hit, zudem gehört er zu den abwechslungsreicheren Kurzfilmen seiner Zeit. Frühere Micky-Kurzfilme etwa hätten diese eigenartige Weise des Fischefangens mehrfach wiederholt, vielleicht von einer anderen Musik untermalt. Doch Wilburs und Goofys Methode geht alsbald schief, so dass Goofy zunächst versucht, mit dem von einem Fisch verschluckten Wilbur zu kommunizieren, und kaum ist Wilbur aus dieser Lage gerettet, bringt er sich erneut in Schwierigkeiten, was Goofy auf eine Verfolgungsjagd schickt, bei der die Zeichner zeigen können, zu welcher physikalischen Comedy der Goof fähig ist.

An diesem Kurzfilm lässt sich sowohl ablesen, inwieweit die Künstler in den Disney-Studios den aus heutiger Sicht typischen Goofy-Witz schon beherrscht haben, und inwieweit man Goofy gegenüber noch reserviert war. Die Aufmerksamkeit teilt sich Goofy zu ungefähr gleich großen Stücken mit Wilbur, was sowohl ein Sicherheitsnetz darstellt, sollte Goofy auf eigenen Beinen beim Publikum weniger ankommen als Micky und Donald, als auch eine willkommene Möglichkeit, sich nicht zu viele Gags mit ihm ausdenken zu müssen. Goofy "telefoniert" mit einem Fisch und ahmt auf schlacksig-gelenkige Weise verschiedene Tiere nach – ulkige Bewegungen funktionierten schon früh bei dieser Figur und sollten später an Bedeutung gewinnen. Aber Goofy and Wilbur verfügt auch über klare Charakterzeichnung: Goofy sind seine Freundschaft für sowie seine Sorgen um Wilbur klar abzulesen und bereits das Konzept des Cartoons trifft die zuvor festgelegte Charakterisierung Goofys exakt auf den Kopf, differenziert sich deutlich davon, wie Micky oder Donald vorgehen würden.

Für einige der ausdrucksstärksten Bewegungsabläufe Goofys ist bei diesem Cartoon auch nicht Art Babbitt verantwortlich, sondern Wolfgang Reitherman, dessen Goofy-Zeichnungen in Clock Cleaners hohe Achtung erlangten, weshalb er auch für Goofy and Wilbur eingeteilt wurde. Zeichnete "Woolie" vorrangig Goofys Dialog mit Wilbur sowie die Gefühlsausbrüche Goofys, übernahm Babbitt unter anderem die Verfolgungsjagd mit dem Frosch, der Wilbur verschluckt hat.


Es ist nicht schwer, Disney-Liebhaber zu finden, welche die als "Walt Disney Meisterwerke" deklarierten, abendfüllenden Zeichentrickfilme als Königsklasse des Disney-Erbes verstehen während sie die Kurzfilme als vergleichsweise unbedeutend betrachten. Aber es ist keine universell gültige Betrachtungsweise. Disney-Legende Dick Huemer etwa war bei den Kurzfilmen wesentlich glücklicher. In der Interview-Sammlung Working with Walt  äußert Huemer, wie stolz er auf seine Kurzfilm-Regiearbeiten The Whalers und Goofy and Wilbur ist, und dass er es bedauert, Walts Wünschen gefolgt zu haben: "Ich hätte dabei bleiben sollen, bei Kurzfilmen Regie zu führen, aber Walt versetzte mich zu[r Produktion von] Pinocchio", berichtet Huemer, der dort die ursprüngliche Eröffnungssequenz leitete, in der ein damals noch rundlicher und glatzköpfiger Gepetto über seine Einsamkeit sinniert, kurz bevor eine Horde Schulkinder seinen Laden stürmt. Im endgültigen Film zeichnete Huemer die Szene, in der Pinocchio einen Felsen an seinen Eselsschwanz bindet, um unter Wasser nach seinem Vater zu suchen. Kurz nach Fertigstellung dieser Szene wurde Huemer zum "Konzertfilm" berufen, um gemeinsam mit Walt, Leopold Stokowski, Joe Grant und Deems Taylor die Auswahl der Musikstücke zu tätigen. Anschließend schrieb er unter anderem an Dumbo und Alice im Wunderland mit. Allein schon deswegen dürfte Huemer die Bewunderung und vielleicht auch den Neid vieler Trickliebhaber sicher haben. Und dennoch hallt der geborene New Yorker nach: "Aber ich wünschte, ich wäre bei meinen Kurzfilmen geblieben."

Dass Huemer aus seiner Position im Cartoon-Departement Disneys beordert wurde, hatte nicht nur für ihn selbst eine große Auswirkung, sondern auch für seinen neuen (sowie kurzzeitigen) Schützling Goofy. Dieser stand nun ohne die Stimme dar, die überhaupt zu seiner Schöpfung führte, sowie ohne einen Regisseur, der sich bereits in der Inszenierung mit ihm erprobt hatte. Das talentierte, aber immens hitzköpfige Problemkind Art Babbitt zu einem Regisseur zu befördern, schien Walt ausgeschlossen. Die Lösung kam schließlich mit einem radikalen Stilwechsel und dem wilden Humor bevorzugenden Querkopf Jack Kinney. Aber dazu nächstes Mal mehr ...

Freitag, 29. Juni 2012

Der Informant!

Es sind die frühen 90er: Mark Whitacre (Matt Damon) ist der aufstrebende Stern am Himmel des Agrarkonzerns Archer Daniels Midland (ADM). Als Biochemiker ist er für die Produktion der Aminosäure Lysin zuständig, durch welches sich der Nährwert von Tierfuttermittel bedeutsam steigert. Außerdem übernimmt er seit einiger Zeit zunehmend kaufmännische Tätigkeiten, was seine Stellung im Unternehmen stärkt und ihm erlaubt, seiner Frau und seinen Kindern einen stattlichen Lebensstandard zu bieten. Als es durch einen Virus zu einem Ausfall der Lysin-Erzeugung kommt, wittert Whitacre Sabotage durch die Konkurrenz. Das FBI wird eingeschaltet, was Whitacre nervös macht, da er sich im Namen von ADM der Preisabsprache mitschuldig machte. Das beichtet er dem charismatischen und vertrauenserweckenden Agenten Brian Shepard (Scott Bakula), der ihn als Informanten für's FBI anwirbt. Doch technische Schwierigkeiten, kleinlich auf's Vokabular achtende juristische Beistände und Whitacres Schusseligkeit legen dem Vorhaben allerhand Steine in den Weg. Whitacre lobt sich selbst derweil schon als amerikanischen Helden, hilft er doch, einen Industrieskandal aufzudecken. Aber nicht jeder sieht in dem Informanten einen Helden ...

Die verschrobene Intrigenkomödie Der Informant! stieß 2009 beim Kinopublikum weitestgehend auf Ablehnung, während das Feuilleton Steven Soderberghs auf wahren Begebenheiten basierender, fast schon grotesker Genrespielerei wohler gesonnen war. Möglicherweise gerade, weil Der Informant! seine Geschichte so erzählt, dass sie selbst belanglos wird. Industriespionage, Lügen mit doppeltem Boden und betrügerische Verräter, all das könnte einen Industriethriller abgeben, ein dramatisches Biopic welches Whitacres sich selbst den finanziellen Boden unter den Füßen wegziehendes Handeln hinterfragt oder auch eine geradlinige Komödie. Aber nach einem in Retrochic gehaltenem Anfang, in dem Matt Damon als liebenswerter Fachidiot mit wirrer Erzählerstimme noch die Zuschauersympathien auf sich zieht, gerät Der Informant! zunehmend zu einer narrativen Fingerübung. Handlung und Moralität schlagen derart viele und schnelle Bögen, dass spätestens nach der ersten Filmhälfte niemand mehr weiß, was man noch glauben darf. Soderbergh und ein wundervoll dümmlich agierender Matt Damon spielen dies nicht aufs Dramatische aus, sondern zielen auf den Effekt der Albernheit. Der Ausgang der Geschichte ist deswegen alsbald sekundär, was Zuschauer langweilen kann. Mir gefiel aber die zweite Filmhälfte deutlich besser.

Lassen anfangs nur Matt Damons Wortwitz und gelegentliche Situationskomik Schmunzler aufkommen, ist die groteske Verdrehung jeglicher in Geschichten über Industrieverrat geltenden Konventionen sowie die schiere Masse an neuen Enthüllungen überaus vergnüglich. Der neue Schwerpunkt des Films (aus der Frage "Wann kriegen sie die Konzernbosse endlich ran?" wird ein "Was denn noch alles?") bietet zwar weniger dramaturgischen Gehalt, doch da Soderberghs trockene Erzählweise in Der Informant! eh nur wenig Spannung zulässt, ist dies nicht weiter ärgerlich. Denn in der zweiten Filmhälfte erhalten die zahllosen US-Komiker, die in Nebenrollen besetzt sind, immer mehr Steilvorlagen für spröde gespieltes Entsetzen, während Matt Damon seinen liebenswürdigen Dämlack zu einer Kunstfigur hochstilisieren kann. Das wird dem wahren Mark Whitacre garantiert nicht gerecht – aber es erlaubt Matt Damon, Spießigkeit, Borniertheit, Stupidität und Weltferne mittels schwarzem Humor zu einer unglaublichen Mischung zu vereinen. Der Informant! ist ein perfides Spiel mit filmischen Gattungsgesetzen, wie es von den Coen-Brüdern stammen könnte, wenn auch nicht mit einem zwischenmenschlichen Pessimismus, wie er bei den Oscar-Preisträgern gerne vorherrscht. Soderbergh verleiht seiner Komödie eher das Gefühl einer schrägen Anekdote – und in der Geschichte der Industrieskandäle ist Whitacres Handeln auch exakt das.

Viele würden sich eine weniger subjektiv eingefärbte, nach Fakten und Inneneinsichten grabendes Drama oder einen Korruption anklagenden Thriller wünschen. Aber wer von Mark Whitacre noch nie gehört hat, sollte gar nicht erst nachschlagen, sondern sich auf eine träge erzählte, doch brillante Komödie einstellen und einfach mal schauen, welche Wirkung Der Informant! auf einen hat.

Donnerstag, 28. Juni 2012

The Amazing Spider-Man

Der beste vollkommen überflüssige Film seit The Ring*

Zehn Jahre sind vergangen, seit Sam Raimi und Sony mit Spider-Man bestätigten, dass Comicverfilmungen achtbare Kassenerfolge sein können. Fünf Jahre zogen seit Spider-Man 3 ins Land. Nunmehr zwei Jahre des Kopfzerbrechens über das Spider-Man-Reboot haben wir hinter uns. Jetzt stellt er sich endlich dem Urteil der Kinogänger: The Amazing Spider-Man, der vom (500) Days of Summer-Regisseur Marc Webb in Szene gesetzte Beginn einer neuen Spinnenmann-Saga.

Für den jungen Peter Parker nimmt das ganze Leben schlagartig eine Wende, als sein Vater, der Wissenschaftler Richard Parker, panisch seine Sachen packt. Er und Peters Mutter versprechen ihm, eines Tages zurückzukehren, doch zunächst müsse er bei seinem Onkel Ben (Martin Sheen) und seiner Tante May (Sally Field) leben, da es dort sicherer sei. Seither hat Peter (Andrew Garfield), der zu einem smarten, aber auch wenig populären High-School-Schüler heranwuchs, nie wieder etwas von seinen Eltern gehört. In der Schule erhält er nur wenig Rückhalt, doch seine couragierte sowie bildhübsche Mitschülerin Gwen Stacey (Emma Stone) scheint sich langsam für ihn zu erwärmen. Dennoch beschäftigt Peter die Frage, was mit seinen Eltern geschah, unentwegt. Die Entdeckung eines Aktenkoffers, der seinem Vater gehörte, wirft neue Fragen auf, verspricht aber auch erste Antworten: In ihm befinden sich Dokumente über artübergreifende Genexperimente, die Peters Vater gemeinsam mit Dr. Curt Connors, nun der höchste Wissenschaftler bei Oscorp, unternommen hat. Also beschließt Peter, Dr. Connors einen Besuch abzustatten. Während er in den Labors von Oscorp herumschnüffelt, beißt ihn eine der Laborspinnen, was ihm unerwartete Kräfte und sensationelle Reflexe verleiht ...

The Amazing Spider-Man hat es sich mit den Fans der Raimi-Trilogie nicht wirklich leicht gemacht, erzählt er doch zehn Jahre nach Spider-Mans "Origin Story" ein weiteres Mal, wie Peter Parker seine Geheimidentität erhält, sich erstmals verliebt und lernt, dass seine Kräfte auch Verantwortung mit sich bringen. Dennoch wäre es theoretisch denkbar, dass The Amazing Spider-Man als eigene Entität wahrgenommen wird, statt ununterbrochen mit dem Raimi-Film von 2002 verglichen zu werden. Das Drehbuch von James Vanderbilt, Alvin Sargent und Steve Kloves wurde offenbar auch mit diesem Vorhaben im Hintergrund geschrieben, denn inhaltlich ändert sich genug, um nicht als simples Remake von Spider-Man zu gelten. Die Nebenhandlung mit Peters Selbstfindungsproblemen ist neu, die Liebesgeschichte zu Gwen Stacey geht andere Wege als die mit MJ und auch die Wendepunkte, die aus Peters Mantra "Wow, cool, ich bin stark" wahre Heldenverantwortung machen, sind ungleich denen aus dem Blockbuster des Jahres 2002. Dass dennoch manche Parallelen bleiben, sollte nicht zu verwunderlich sein, da letzten Endes auf der gleichen Grundlage mit den selben Intentionen (vorlagennah, aber doch etwas eigenes) das gleiche Kapitel in Peter Parkers Biografie neu erzählt wird.

Trotzdem ist The Amazing Spider-Man keine radikale Neuinterpretation, das Reboot dieser Filmreihe bricht nicht völlig mit der inneren Logik oder dem Tonfall der ersten Spider-Man-Trilogie. Es ist nicht der Batman Begins zu Batman oder gar Batman & Robin. Es ist auch nicht Marvels Der unglaubliche Hulk zu Ang Lees Hulk. Die Zusammensetzung aus Action, Dramatik, Liebesgeschichte und Humor ist sehr nah am Mix aus Spider-Man 1 – 3, was es schwer macht, The Amazing Spider-Man als einen notwendigen Neuanfang zu bezeichnen. Es ist jedoch ein durch und durch gelungener: Andrew Garfield überzeugt sowohl in der Heldenrolle, als auch in der des Durchschnittsteenagers. Mit kleinsten Gesten trägt er radikale Stimmungswechsel und von Maguires Interpretation hebt er sich dadurch ab, dass er keinen ganz so nerdigen Verlierer abgibt, sondern eher eine unscheinbare, stille Persönlichkeit. Sehr stark funktionieren seine gemeinsamen Szenen mit Emma Stone, deren liebenswürdige Gwen Stacey Humor, Hirn und Herz hat. Die Liebesgeschichte schlägt also ganz klar die in Spider-Man. Welcher Look besser gefällt, ist wohl Geschmacksfrage: The Amazing Spider-Man hat eine realere, etwas schmutzigere Optik (ohne die Düsternis eines Nolan-Films aufzuweisen), während Spider-Man farbenfroher geraten war. Bei den Effekten hat Marc Webbs Großproduktion von 2012 natürlich einen Vorteil, den sie auch klar ausnutzt: Davon abgesehen, dass das Design des Schurken eher unspektakulär ist, sind die Effekte greifbar und makellos. Wie Spider-Man durch New York schwingt ist atemberaubender denn je und das großartige 3D trägt selbstredend auch sein Scherflein dazu bei: Das Bild ist kristallklar, der Fokus ist stets sehr weit gefasst und die zahlreichenen Bildebenen sind lebensecht voneinander abgegrenzt.

Die Action ist auch eine wahre Wucht, die Kampfszenen fügen sich nahtlos in die Geschichte ein und jede hat ihren eigenen Clou. Sobald man den Film mit Spider-Man vergleicht, ist sie vielleicht etwas zu bombastisch geraten, dass unser Heldenanfänger all dies durchsteht, funktioniert nur auf Superheldenfilm-Logik. Würde The Amazing Spider-Man für sich stehen, fiele es allerdings nicht weiter auf. James Horners Filmmusik weiß, die emotionale Seite dieser Coming-of-Age-Heldengeschichte zu verstärken und in Actionmomenten die Spannung oben zu halten, geht aber nicht so sehr ins Ohr wie Danny Elfmans ikonische Musikthemen aus Spider-Man. Rhys Ifans macht als Dr. Connors / die Echse solide Arbeit, aber mehr als die schlichte Antagonistenrolle hat das Skript für ihn nicht zu bieten.

Marc Webbs The Amazing Spider-Man ist mit seiner Action und den weitschweifenden Ausblicken auf die Straßenschluchten Manhattans gleichermaßen etwas bombastischer und größer angelegt als die 2002-Variante, und mit den sehr geerdeten Problemen Peter Parkers auch persönlicher. Aufgrund dessen ist es schade, dass zwei Wendepunkte (Onkel Bens Ableben und ein Handlungselement auf dem Weg zum Finale) recht konstruiert wirken, wodurch die sonst sehr reale Emotionalität des Films kurzfristig überstrapaziert wird.

Kurzum: The Amazing Spider-Man ist tolles Popcornvergnügen mit emotional involvierenden Darstellungen interessanter Figuren, treffendem Humor und gelungener Action. Letzere ist nicht besonders einfalls-, sehr wohl aber abwechslungsreich. Die Entstehungsgeschichte Spider-Mans wird also ein weiteres Mal kurzweilig unterzählt. Nicht derart revolutionär, dass man vergessen könnte, dass der Film nur existiert, weil Sony Pictures noch mehr Geld machen will, aber so gut, dass man darüber nicht mehr herziehen will. The Amazing Spider-Man ist schlussendlich ungefähr so gut wie überflüssig. Eine Fortsetzung darf kommen, muss dann aber noch eigenständiger werden.

*Absolute Urteile sind natürlich immer so eine Sache. Ich habe seit Beginn des Abspanns mein Gedächtnis gequält, an überflüssige, jedoch gute Filme der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zu denken. Gut möglich, dass ich einem Film qualitativ unrecht tat oder ihn nicht überflüssig genug eingeschätzt habe – doch ad hoc bin ich von diesem Vergleich überzeugt. 

Siehe auch:

Montag, 25. Juni 2012

Spider-Man 3


2007: Das Jahr der Superlative. Mai 2007, der bombastischste Monat im Jahr der Superlative: In den USA drängeln sich Schulter an Schulter die heiß erwarteten dritten Einträge in die Shrek-, Spider-Man- und Pirates of the Caribbean-Sagen, die es sich allesamt vorgenommen haben, ihre überragend erfolgreichen zweiten Teil zu überholen. Und natürlich wollte keiner der drei Filme hinter den anderen "Threequels" zurückstecken, was in ein schwer vergleichliches Bombardement an Marketing für diese kostspieligen Produktionen mündete. Sowie in eine riesige Rekordejagd. Diverse Filmjournalisten sahen diese Schlacht der Megafranchises, die im Fall von Spider-Man 3 und Pirates of the Caribbean – Am Ende der Welt auch noch in einen Wettstreit historischer Rekordbudgets ausartete, als Hollywoods letztes Aufbäumen, bevor es an Profitabilität einbüßt, die Budgets wieder radikal nach unten schnellen und Filmpiraten dem Blockbusterfilm den Boden unter den Füßen wegziehen.

Fünf Jahre später wissen wir natürlich, dass diese Kinoapokalpyse nicht eintraf. Budgets explodieren noch immer und Filme wie The Avengers nehmen deutlich mehr ein, als es die 2007-Threequels taten. Insofern war 2007 auch ein Jahr, das Hollyood auf verflucht hohem Niveau enttäuschte: Alle drei Filme wurden zwar zu wahren Blockbustern, doch keiner von ihnen überkreuzte die Milliarden-Dollar-Marke, was sich wohl so mancher heimlich von ihnen erhoffte.

Während Am Ende der Welt das meiste Geld einspielte, war es Spider-Man 3, das als einziges Threequel zum erfolgreichsten Teil seiner Kinoreihe aufstieg. Dabei war Sam Raimis Bombastwerk weit davon entfernt, auch der beliebteste Spider-Man-Film zu sein. Auf dem internationalen Parkett schien die Ablehnung nicht ganz so enorm zu sein wie in den USA, wo zahllose Fans der menschlichen Spinne lautstark protestierten, trotzdem steht Spider-Man 3 gemeinhin als das schwarze Schaf der Reihe dar. Auch der Regisseur selbst lehnt aufgrund der vielen Verschlimmbesserungen Sonys das ab, was schlussendlich als Abschluss seiner Spider-Man-Saga gelten sollte. Spider-Man 4 war dazu auserkoren, für Versöhnung zu sorgen, doch zwischen Raimi und Sony kam es zu einer weiteren, unschlichtbaren Meinungsdifferenz, weshalb er und daraufhin auch Tobey Maguire das Handtuch warfen. Weswegen schließlich das Reboot The Amazing Spider-Man auf die Beine wurde, um die Spider-Man-Kinorechte bei Sony zu halten.

An dieser Stelle könnte nun eine ausgiebige Schimpforgie folgen, wie Sony Pictures sowie Produzent Avi Arad eine Filmreihe zerstörten, die zuvor nicht nur qualitativ sehr gut damit fuhr, dass Sam Rami sehr viel Freiraum gelassen wurde, sondern ebenso aus wirtschaftlicher Sicht nur schwerlich zu optimieren war. Ich könnte darüber jammern, dass die Spider-Man-Saga auf dem Tiefpunkt endete, obwohl sie mit einem großartigen Knall hätte begeistern können. Dies könnte der Artikel sein, in dem ich auf weniger sarkastisch-blödelnde Weise meine kleine Spider-Man 3-Lästerei fortführe. Aber: Das werde ich hier nicht tun. Denn wie vielleicht in so eben verlinktem Artikel noch immer ein wenig rausklingt – ich finde Spider-Man 3 gut!

Das Epos, das nicht sein sollte ...
Bevor wieder ein paar Leserinnen und Leser jeglichen Glauben an mein Urteilsvermögen aufgeben wollen: Nein, dies hier wird keine flammende, Spider-Man 3 über jeden Zweifel erheben wollende Verteidigungsrede und ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, als wäre mir jeglicher Kritikpunkt an diesem Trilogieabschluss fremd. Im Gegensatz etwa zu Pirates of the Caribbean – Die Truhe des Todes, wo ich mir selbst beim besten Willen nicht erklären kann, weshalb ihn dermaßen viele PotC-Fans für einen derart großen qualitativen Rückschritt gegenüber dem Erstling halten, kann ich bei Spider-Man 3 den Frust vieler durchaus nachvollziehen. Und insbesondere verstehe ich, wie die Enthüllungen dessen, was hätte sein können und weshalb diese frühen Pläne dem endgültigen Produkt weichen mussten, Spider-Man 3 einen verdrießlichen Nachgeschmack verleihen können.

Sam Raimis ursprüngliches Vorhaben war es, dass der Vulture (gespielt von Ben Kingsley) und der Sandman gemeinsam aus dem Gefängnis ausbrechen, wobei der Geier eher als großer Hauptschurke auftreten sollte, während im Falle des Sandmans beabsichtigt war, seinen Status als Gelegenheitskrimineller stärker zu betonen. Es war beabsichtigt, ihn als einen nicht sonderlich hellen Kerl zu zeichnen, der in Trubel geriet und keinen cleveren Ausweg fand, so dass er sich behilfsmäßig auf der falschen Seite des Rechts herumschlug. Spider-Mans Rachemotiv am Sandman, der schon früh als ungewollter Mörder Onkel Bens eingeplant war, sollte völlig aus Peter Parker selbst herauswachsen, so dass die duale Thematik (das Dunkle im Helden, das Unschuldige im Schurken) deutlicher zu spüren gewesen wäre, als in dem, was schlussendlich Spider-Man 3 wurde. Einige dieser Ideen wurden dann im nie verwirklichten Skript von Spider-Man 4 wiederverwertet, in dem Spider-Man den Vulture aus voller Absicht kalt macht, was wiederum ihn zur Zielscheibe eines Rachekomplotts machen sollte.

Sony und Arad wollten allerdings Venom an der Stelle vom Vulture in Spider-Man 3 sehen, da er zu den populärsten Schurken des Spider-Man-Universums gehört und das Potential zu einem eigenen Schurken-Spin-Off aufwies. Und wisst ihr was, an diesem Punkt ging Spider-Man 3 meines Erachtens nach noch gar nicht in die Brüche. Drehbuchautor Alvin Sargent entwarf daraufhin in Rücksprache mit Raimi ein epochales Drehbuch mit genügend Stoff für zwei Filme, über deren Verlauf die von Raimi erwünschte Storyline um Harry Osborne und sein Handeln als New Goblin ausreichend Raum hatte, um zu zeigen, wie er versucht, eine eigenständige Identität aufzubauen, statt nur in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Des Weiteren sollte die von den Produzenten ins Skript gequetschte Gwen Stacy eine ausgearbeitete Liebesrivalin für Mary Jane werden und in Spider-Man 3 nur durch die Präsenz Eddie Brocks auf die Existenz des Symbioten hingewiesen werden. Erst in Teil 4 hätte Venom zuschlagen sollen, jedoch fand sich keine geeignete Stelle für ein befriedigendes Finale von Teil 3, die zugleich einen Cliffhanger für den nächsten Film dargestellt hätte, so dass alles in einen Film von 139 Minuten (inklusive Abspann) gedrängt wurde.

Für mich ging Spider-Man 3 bei dieser Entscheidung in die falsche Richtung. Bloß weil man keinen Cliffhanger hat, macht man aus zwei potentiellen Filmen doch nicht einen Film mit handelsüblicher (Superheldenfilm-)Laufzeit. New Goblin, die Liebesdreiecke, Venom, der Sandman – das ist ausreichend Stoff für einen fast dreistündigen Megablockbuster. Mit fünfzehn bis fünfunfzwanzig Minuten mehr Laufzeit wäre Spider-Man 3 selbst mit einem Raimi aufgedrückten Venom nicht mehr eine überfrachtete Hetze von einem Spider-Man-Film, sondern gut unterfütterter Bombast.

Und dennoch ... All das hält mich nicht davon ab, an Spider-Man 3 mein Vergnügen zu haben. Der Film ist ungeschliffen und hat seine tonalen Inkonsistenzen, aber das war bei Spider-Man 1 & 2 ebenfalls so, wenngleich nicht in dieser Bandbreite. Doch in Spider-Man 3 stecken ebenso auch sehr passionierte Ansätze, gute Actionsequenzen sowie quirlig-vergnügliche Einfälle, die ihn trotz seiner Schwächen nicht so stark vom Rest der Filmreihe abfallen lassen, wie es verbitterte Venom-Fans darstellen zumindest meiner Meinung nach.

... und die überfrachtete, spritzige Materialschlacht, die wir stattdessen bekamen
Das Schicksal scheint sich endlich auf die Seite Peter Parkers zu schlagen: Spider-Man wird von den Bürgern New Yorks verehrt, seine Jugendliebe MJ befindet sich in einer vitalen Beziehung zu ihm, während sie den Broadway erobert. Und derzeit machen auch keine mutierten oder mit Supergadgets ausgestatteten Freaks die Welt unsicher. Alles scheint sicher genug, dass Peter seiner Traumfrau einen Antrag machen kann. Auf langer Sicht haftet jedoch Trubel an den Fersen des Superhelden: Während eines nächtlichen Dates mit MJ nimmt eine schwarze, klebrige Alienmasse Peters Fährte auf, außerdem hat es sein ehemals bester Freund Harry Osbourne auf ihn abgesehen. Und dem nicht genug: Neue Ermittlungsergebnisse besagen, dass sich der wahre Mörder von Onkel Ben weiterhin auf freiem Fuß befindet – es soll der Kleinkriminelle Flint Marko gewesen sein, der derzeit auf Raubzug geht, um Geld für seine schwerkranke Tochter zu erbeuten. Durch einen Unfall verwandelt sich Flint Marko in ein Sandungeheuer – während dieses Geldtransporter überfällt, sinnt Peter Parker aka Spider-Man auf Rache an ihm. All diesen Sorgen nicht genug: Der schmierige Sunnyboy Eddie Brock macht Peter seinen Job als Fotograf beim Daily Bugle streitig und MJ wird eifersüchtig auf Peters Mitschülerin Gwen Stacy, die sich gut mit dem liebenswerten Loser versteht – und noch besser mit Spider-Man ...

Im eigentlichen Film reihen sich diese Probleme der freundlichen Spinne aus der Nachbarschaft nur unwesentlich langsamer aneinander an als in dieser Kurzzusammenfassung. Nahmen sich Spider-Man 1 & 2 noch eine angemessene Zeit, um den Status Quo zu etablieren und den Zuschauer mit Peter Parkers Lebenssituation zu konfrontieren (weshalb auch Teil 2 eigenständig funktionierte), ist Spider-Man 3 eine waschechte Fortsetzung. Hurtig erzählt Peter aus dem Off, was sich seit dem letzten Film getan hat, und dann werden Schlag auf Schlag die Konflikte und Schurken des neuen Spinnenabenteuers eingeführt. Das ist sehr uninspiriert, lässt die ersten Filmminuten über keinerlei Stimmung aufkommen – bis alle Hürden aufgebaut sind, läuft Spider-Man 3 nicht wie eine filmische Einheit ab, sondern wie ein Schnellraffer.

Sobald sämtliche Handlungsfäden aufgenommen sind, lässt dieser Effekt glücklicherweise nach und man kann sich als Zuschauer wieder in die Story einleben – dennoch eilt Spider-Man 3 durch seine Handlung. Deshalb fühlt er sich trotz höchsten Produktionswerten und längster Laufzeit der Filmreihe nicht als ihr schwerwiegendster, tragendster Film an. Es gibt zu wenige Atempausen, um die richtige Gravitas entstehen lassen können.

Spider-Man 3 ist also eher eine eilende "Tour de Force", aber eine der erfrischenden Sorte. Schon die erste größere Actionszene (Peter Parker vs. Harry auf einem Hoverboard) ist rau und rasant, mitreißend inszeniert und aufgrund ihrer Agilität eine Abwechslung gegenüber den bisherigen Kämpfen Spider-Mans. Ein wahrer Höhepunkt ist aber die "Geburtsszene" des Sandmans – eine geniale, poeteische und charakterstarke Effektsequenz, begleitet von fantastischer Musik. Sandmans erster Raubzug ist ganz gelungen, da auch er sich von üblichen Superheldenkämpfen abhebt, darüber hinaus sind die Effekte auf einem stabil hohen Niveau, was bei Spider-Man 1 & 2 nicht der Fall war

Die Lovestory wiederum fußt auf dem Grundproblem, dass die meisten Zuschauer sie nach Teil 2 wohl als abgeschlossen betrachtet haben. Ein Liebedreieck wäre für die Kernhandlung tatsächlich nicht nötig, es genügte für die Brisanz in Peters Privatleben, dass er mit seinem Ruhm (als Spider-Man) nicht umgehen kann, weshalb sich MJ übergangen fühlt, während Harry Rache für seinen Vater will. Es musste nicht zu einem soapartigen Betrugsspiel verkommen. Dennoch kommt es in Spider-Man 3 vor, und dafür ist es sogar besser umgesetzt als in den ersten zwei Filmen. Man sieht, was die jeweiligen Figuren voneinander halten und kann sich in ihre Zu- und Abneigungen vergleichsweise gut einfühlen. MJs Seite zum Beispiel hat man in den Vorgängerfilmen gar nicht erst erlebt. Ärgerlich ist nur, dass dies erreicht wurde, indem Harry von den Autoren nach seiner umwerfenden ersten Actionszene Amnesie aufgedrückt bekommt. Das ist lahm, wirkt, als wollte man den Film mit einem Knall eröffnen und dann die Figur mit einer Ausrede bei Seite schieben, bis sie wieder in die Handlung passt. Trotzdem: James Franco spielt hier toll auf, wenn er seine Intrige spinnt kehrt er seine schleimige Seite vergnüglich hervor, in anderen Szenen hat er was von einem leicht schusseligen Lebemann. Und es passt, es gibt seiner Figur mehr Kontur und Gewicht als in den ersten Teilen.

Noch mehr Spaß macht aber tatsächlich, wenigstens meiner Ansicht nach, wie Peter sein Liebesglück mit MJ auf's Spiel setzt, da es so natürlich aus der Charakterisierung in den Vorgängerfilmen erwächst. Er ist ein ungeschickter, unpopulärer Versager und hat nun seine Traumfrau – es passt nur zu gut zu ihm, dass er fortan die Risse in der Beziehung übersieht, da er naiv glaubt "jetzt, da es klappt, klappt es auch fortwährend!" Seine Kokettiererei mit Gwen Stacey ist harmlos, eine Spielerei ob seines Ruhms, doch dass die ihr Leben lang von Männern getäuschte MJ Peter dadurch in einem falschen Licht sieht, ist ebenso verständlich. Sam Raimi erzählt diesen dramaturgischen Motor obendrei mit sehr viel cartoonhaftem, treffenden Witz: Die Spider-Man-Ehrenzeremonie, Bruce Campbells Monty Python-artige Einlage als französischer Kellner der Peter bei seinem romantischen Dinner unterstützen will (aber nur Verwirrung stiftet), all diese Einlagen sind erfrischend komisch, wenngleich unerwartet. Im Gegensatz also zum obligatorischen, hier jedoch völlig erzwungenen und dämlichen Stan-Lee-Cameo. Deutlich besser sind dagegen die Szenen mit J Jonah Jameson, in denen J. K. Simmons wieder völlig aufdreht. Auch Elizabeth Banks als seine Sekretärin kommt was mehr zur Geltung, und da ich Banks stets sehr unterhaltsam finde, freut mich das natürlich. Genauso, wie ich mich im Gegensatz zu vielen Kritikern von Spider-Man 3 über die Szenen mit Peter Parkers schroffen, dennoch netten Vermieter freue.

Emo-Peter Boogie-Peter und der Symbiot aus dem All
Wie Sam Raimi mit der von ihm ungeliebten Figur Venom umsprang, ist einer der Hauptkritikpunkte vieler Spider-Man-Fans. Und ja, hätte ich eine ausgeprägte Schwäche für Venom, so wäre ich wohl ebenfalls betrüb: Da kommt einer von Spideys denkwürdigsten Schurken auf die große Leinwand und wird nach kurzem Schlagabtausch abgefrühstückt. Doch sobald man den Alien-Symbioten, der Peters dunkle Seite zum Vorschein bringt, und die Eddie Brock übernehmende, boshafte Kopie Spider-Mans nicht weiter als getrennte Entitäten betrachtet, prägt diese schwarze, außerirdische Masse den Film sogar mehr als Raimis Wunschschurke Sandman und ungefähr gleich stark wie "die Liebesbaustellen nach dem Happy End".

Gänzlich reicht das, was Sam Raimi und seine Autoren aus den Möglichkeiten schröpften, nicht an die Wünsche mancher Fans heran. Eine außerirdische Masse, die sich an einen Wirt hängt und dessen destruktiven Emotionen verstärkt – für viele rief das nach surrealen Albtraumsequenzen, düsterer Action und einem innerlich zerrissenen Peter Parker, der zwischen seiner guten und seine bösen Seite hin-und herschwankt. Diesen Weg beschreitet Spider-Man 3 nur ansatzweise, tonal orientiert er sich wesentlich stärker an seinen Vorgängerfilmen als an den ernsthaftesten Venom-Comics. Die Integration der Idee des "bösen Peter Parker" in Raimis Filmwelt ist also nicht das, was sich viele wünschten, aber es ist nüchtern betrachtet ein schlüssiges Konzept, welches auch in vielen seiner Kernszenen wunderbar funktioniert. Das größte Problem ist für mich nicht etwa die berühmt-berüchtigte Tanzsequenz (auf die ich dennoch zu sprechen kommen werde), sondern die allererste Sequenz mit "Black Spidey":

Der Symbiot greift sich Peter, als er gerade vor Wut über das Versagen der Polizei im Fall Flint Marko sowie in Selbsthass versinkt, weil er sich vor Jahren den falschen Kleinganoven vorknöpfte. Schnitt. Spider-Man hängt an einem Hochhaus und aus dem Off erfährt das Publikum, dass sich unser Superheld so ungewöhnlich stark und mächtig fühlt. Die Hintergrundmusik, eine etwas schwerere, kräftigere und unterschwllig unheimliche Abwandlung des in Teil 1 und 2 von Danny Elfman erschaffenen Spider-Man-Themas suggeriert dies ebenfalls, doch Spider-Mans Handeln und seine Bewegungsabläufe geben keinerlei Hinweis darauf. Hier versagen also sowohl die Animationen des Superhelden, als auch der Erzählablauf, die erste Szene mit Parker im schwarzen Spider-Man-Kostüm müsste einen größeren Nachhall haben und sich im Idealfall ohne Off-Kommentar selbst erklären.

Schon deutlich besser ist die Szene, in der "Black Spidey" gegen den Sandman kämpft: Sie ist spürbar härter und rücksichtsloser als ihre erste Begegnung, Spider-Man geht größere Riskien ein und gibt sich erschreckend große Mühe, seinen Rivalen nicht nur zu bezwingen, sondern zu zerstören. Aufgrund seiner großen Aufrichtigkeit verstaut er danach seinen Poweranzug allerdings, im Wissen, dass er nur für Unheil sorgen wird. Erst als ihn sein vermeintlicher Freund Harry ins Gesicht sagt, dass er ihm MJ ausgespannt habe und wieder auf bösen Pfaden wandelt, greift er aus Wut (sowie in Erinnerung daran, dass Harry ein ihm zu ebenbürtiger Gegner ist) wieder auf diesen Anzug zurück. Daraus resultiert eine weitere starke Kampfsequenz, in deren Anschluss Peter Parker auch mal eben seinen Konkurrenten beim Daily Bugle ausbootet, ohne jegliche Bescheidenheit oder der ihn sonst prägenden Tendenz, kleinlaut zu sein. So weit, so gelungen: Es wäre nicht plausibel, wenn er in der Sekunde, in der er den Anzug aufträgt, wie ein wahnwitzig gewordener Superschurke durch New York City wütet. Der Symbiot muss seinem Nutzer, wie Steroide oder Alkohol, zunächst vermeintlich (!) nebenwirkungsfrei das Gefühl geben, er sei stärker und selbstbewusster. Damit Peter sich nicht erneut vom Symbioten löst, muss er glauben, dass er ihm nur Vorteile bringt. Diese Abfolge an Ereignissen verläuft aus Petrs Sicht optimal, als Zuschauer jubelt man ihm derweil nur mit einem lauernden, schlechten Gewissen zu.

Und schon ereilt das Publikum die Abfolge von Szenen, in denen Peter Parker in schwarzen Klamotten durch sein Leben streift, mit einem schwarzen Scheitel, der seine Stirn verdeckt. "Emo-Peter", winselt das Internet. Doch ich bäume mich auf und sage: "Nein!" Denn gerade das verfluchte Internet sollte es besser wissen, ist es doch die Geburtsstätte der Emo-Witze. Peter verkriecht sich nicht stundenlang in eine Ecke und heult, wie mies sein Leben ist, dass er alles verliert. Nein, mit der Macht des Aliensymbioten, der seine Schattenseiten hervorkehrt und sein Selbstbewusstsein durch die Decke gehen lässt, mutiert der stille, liebenswerte Loser aus der Nachbarschaft zum jazzigen, geölten



funny gifs
Boogie-Peter!


Dass eingefleischte Venom-Fans, die sich eine Batman Begins-artige, bloß jedoch auch grafischere Auseinandersetzung versprachen, von diesen Szenen vor den Kopf gestoßen werden, kann ich nachvollziehen. Aber dass auch einige Leute, die sich primär als Fan der Filmreihe betrachten oder unterschiedliche Interpretationen Spider-Mans wertschätzen können, diese Szenen als schlecht, narrativ fehlkonzipiert und atmosphärischen Stilbruch mit der restlichen Kinosaga betrachten, verwundert mich doch enorm. Zunächst einmal: Ich finde die Montage, in der Peter Parker flott durch die Straßen tanzt, mit seiner Nachbarin alberne Späße treibt und mit absolut out-of-character-formatigem Selbstvertrauen die Sekretärin seines Chefs anbaggert, saukomisch. Ja, ich habe mich damals im Kinosessel gekringelt vor Lachen und auch jetzt habe ich bei DVD-Sichtungen ein glückliches Grinsen auf dem Gesicht. Die aus einer falschen Zeit gegriffene Jazz-Musik, die rumblödelnden Einfälle und vor allem Tobey Maguires Darstellung machen die Montage für mich zu einem Hit: Maguire spielt nicht cool, sondern den "dorky" Versager und Geek Peter Parker, der sich nun für cool hält. Und das sieht nicht nur schräg (sowie unterhaltsam aus), sondern ist aus mehreren Gründen die konsequente Wahl für diesen Film: Es zeigt, welch aufrichtige Persönlichkeit Peter Parker ist. Mit gesteigertem Sexualtrieb, überhöhtem Selbstvertrauen und betonter Aggression ist er weiterhin nur dazu fähig, seinen Professor zu ignorieren, das liebenswerte Mädchen von gegenüber, das sowas von eindeutig auf ihn scharf ist, für Milch und Kekse auszunutzen, Passantinnen ungelenk-flirtende Blicke rüberzuwerfen und sich an unangebrachten Orten für einen guten Tänzer zu halten.

Sam Raimi degardiert mit dieser Sequenz nicht die durch den Symbioten ausgesendete Gefahr zu reinem Comic Relief, sondern skizziert die Gutherzigkeit Peters, während er sein wahres Ich von seinem momentanen Verhalten auf campige, augenzwinkernde Weise differenziert. Zumal: Weshalb sollte Peter ohne Provokation böse Dinge tun? Nein, nein, nein, die Boogie-Montage ist vollkommen in Ordnung wie sie ist. Der kurz darauf anschließende Ausflug Peters und Gwen Staceys in einen Jazz-Club übrigens weitestgehend auch: Peter geht mit Gwen aus, begegnet MJ, die jetzt als singende Kellnerin arbeitet, und macht eine gewaltige Schau, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, sie vor den restlichen Gästen lächerlich zu machen, sich als guten Fang zu beweisen und so seine Verflossene in Eifersucht aufgehen zu lassen. Er nutzt Gwen aus, setzt mit seinen kaum durchführbaren Tanzschritten seine geheime Identität auf's Spiel und beweist wieder einmal, dass er mit der wahren Definition von "cool und selbstbewusst" nicht auf einer Wellenlänge liegt. Sam Raimis Inszenierung des Tanzes, die Choreographie und Beleuchtung, der Einsatz von Requisiten und die Berücksichtigung der Eigenheiten des Sets sind beeindruckend, es ist eine launige, erquickliche und, ja, dümmliche Szene. Innerhalb weniger Sekunden peitscht Spider-Man 3 seinem verwirrten, amüsierten Publikum einen Stimmungswechsel entgegen: Peter soll den Club verlassen, prügelt sich mit der Security, MJ schreitet ein, Peter sieht seine große Liebe nicht, hält sie für einen weiteren Türsteher, holt aus und schlägt sie so aus Affekt zu Boden. Ein schrecklicher Unfall, Peters Gewissen kehrt zurück und ...

... zack, schon folgt das ikonische Bild des dunklen Spider-Mans, der im Regen auf einer Kirchturmspitze in Selbstreflexion und Schuldgefühlen versinkt. Das geschieht zu schnell, nach all der Herumtollerei haben die Venom-Fans mehr Dramatik verdient, und auch aus atmosphärischen Gründen wäre es eine Überlegung wert, zwischen diesen zwei Momenten stärker auf Peters Zerrissenheit oder Selbsthass einzugehen. Ein aggressiver "Flug" durch New York, eine Albtraumsequenz, irgendetwas, dass verdeutlicht, was nun in ihm vorgeht. So würde das eben besagte Bild eine größere Wirkung entfalten, denn im fertigen Film verblasst es nach dem unerwarteten Lachfest mit Boogie-Peter, wirkt sogar aufgesetzt. Was, meiner Vermutung nach, den Hass auf die vorhergegangenen Szenen erklärt.

Ein Gesamturteil
Mit einem moralisch ambivalenten Thomas Hayden Church als Sandman, hervorragender Effektarbeit und einer, wenngleich forcierten, so doch auch klar überdurchschnittlich gut ausgespielten Liebesgeschichte sowie fantastischen komödiantischen Darstellungen von Tobey Maguire, J. K. Simmons, Elizabeth Banks und Co. ist Spider-Man 3 wahrlich kein Rohrkrepierer. Die Geschichte ist dermaßen vollgestopft, dass sie das Publikm fast erschlägt, doch die einzelnen Storylines sind gelungen, die Actioneinlagen sind eine Wucht und Christopher Young gibt einen adäquaten Ersatz für den Komponisten Danny Elfman, der aus Streit mit Sam Raimi die Spider-Man-Saga verließ. In Spider-Man 3 ist mit seinen reichhaltigen Stimmungslagen, Figuren und Handlungssträngen der beste Teil der Trilogie versteckt, aber dazu fehlt es dem Film an weiterem Feinschliff. Manche Dialoge hätten noch etwas feinsinniger sein sollen, manche Storybeats prallen noch zu schnell auf, wo sich die vorhergegangenen Teile noch Zeit nahmen, das Filmuniversum ausführlich zu umschreiben.

So, wie er letztlich in die Kinos entlassen wurde, ist Spider-Man 3 dennoch wesentlich besser als sein Ruf. Er ist durch seine Hektik minimal schwächer als Teil 1 und 2, mir selbst macht er jedoch, wenn ich in der entsprechenden Stimmung bin, tatsächlich etwas mehr Spaß als das Original. Ich kann radikale Stimmungswechsel leicht verzeihen und habe eine gewisse Schwäche für "Wow, was da alles drin ist!"-Filme, während ich Origin-Stories schnell überdrüssig werden kann. Vor allem aber ging Spider-Man 3 durchaus Riskien ein, da Raimi seine tonale Vision selbst gegen die herrschsüchtigen Studio-Bosse durchdrückte. Ich finde, das hat seine Achtung verdient.

Siehe auch:

Samstag, 23. Juni 2012

4 Artists Paint 1 Tree: Eyvind Earle

4 Artists Paint 1 Tree widmet sich dem titelgebenden Kurzfilm „4 Artists Paint 1 Tree“ und seinen vier Protagonisten Eyvind Earle, Joshua Meador, Marc Davis und Walt Peregoy. Von Walt Disney ausgewählt, ihren individuellen Stil auf der großen Leinwand darzustellen, geben der Film und seine Hauptdarsteller Einblicke in das künstlerische Leben hinter den faszinierenden, doch minutiös dirigierten Zeichentrickfilmen im Schatten der Maus.

Der dritte Artikel dieser Reihe handelt von einem Maler, dem es gelang, einen abendfüllenden Zeichentrickfilm zu seinem abendfüllenden Zeichentrickfilm zu machen: Eyvind Earle


(© Disney)

Eyvind Earle wurde 26. April 1916 in New York City geboren. Der Name Eyvind stammt aus dem Norwegischen. Seine Mutter, eine Pianistin, war die Tochter eines Deutschen und einer Norwegerin, die in die Vereinigten Staaten eingewandert waren. Sein Vater war Dichter, Schriftsteller, Filmproduzent, Regisseur und Art Director. Die wahre Leidenschaft des Schülers von James McNeill Whistler und William Adolphe Bouguereau galt jedoch der Malerei. Er war etwa zehn Jahre älter als seine Frau, die Ehe, aus der neben Eyvind auch ein älterer Bruder hervorging, war bereits seine vierte. Die Earles waren überaus wohlhabend. Einen Teil seiner Jugend verbrachte Eyvinds Vater in Morris-Jumel Mansion, das seinem Vater, einem General, gehörte, während des Unabhängigkeitskrieges zeitweise als Hauptquartier George Washingtons diente und heute als ältestes Haus in Manhattan gilt. Die Familie seiner Mutter hingegen war nicht vermögend, was dazu führte, dass er und seine Mutter nach Jahren in Wohlstand nach der Scheidung seiner Eltern in Armut leben mussten.

Sein Bruder Ferdinand war zwei Jahre älter als er. Im Jahr 1918 zog die Familie von New York nach Hollywood, wohin sich zu dieser Zeit die gesamte US-Filmbranche verlagerte. Die Familie kaufte ein Anwesen in ruhiger Lage. Diese Lage änderte sich, als 1922 an der gegenüberliegenden Straßenseite das Amphitheater Hollywood Bowle erbaut wurde. Nur zwei Jahre später starb Ferdinand an Kinderlähmung. Einen Tag nach seiner Beerdigung zeigte auch Eyvind Symptome der Krankheit zu zeigen. Er überlebte, die Krankheit verursachte jedoch irreperable Schäden im Nervensystem, weshalb seine rechte Gesichtshälfte dauerhaft gelähmt wurde. Zwar war sein Sprechen kaum beeinträchtigt und die Behinderung für Außenstehende fast nicht zu erkennen, sie wurde jedoch offensichtlich, wenn er versuchte, zu lächeln – was er für den Rest seines Lebens zwanghaft vermied.

Im Jahr 1926 ließ sich die Mutter von seinem Vater scheiden, Eyvind blieb bei ihr, der Vater unternahm jedoch regelmäßig Ausflüge mit seinem Sohn. An einem Wochenende im Jahr 1927 bekam der Vater erneut die Genehmigung, Zeit mit ihm zu verbringen und erklärte, eine Reise nach Palm Springs machen zu wollen. Stattdessen entführte er den Zehnjährigen nach Mexiko-Stadt.


Eyvind Earle (rechts) und sein zwei Jahre älterer Bruder (© Eyvind Earle)

Die unerlaubte Tat seines Vaters hatte nicht Eifersucht gegenüber seiner Ex-Frau zur Ursache. Vielmehr war er gewillt, sein künstlerisches Erbe mit aller Gewalt an seinen Sohn weiterzugeben. Er befahl ihm, in Zukunft jeden Tag fünfzig Seiten anspruchsvoller Literatur zu lesen oder ein Gemälde zu malen. Freizeit blieb Eyvind nicht, außerhalb der Schule war es ihm verboten, mit anderen Kindern zu spielen. Es handelte sich um eine Situation, die in heutigen Zeiten höchstwahrscheinlich einen internationalen Haftbefehl zur Folge gehabt hätte – Eyvind Earle aber fand Gefallen. Er las nicht nur jeden Tag fünfzig Seiten oder malte ein Gemälde – er tat sogar beides. Aufgrund der regiden Art des Vaters, musste er nicht mehr Zeit mit anderen Menschen verbringen, als unbedingt nötig. Das ermöglichte ihm, wenn auch zu einem hohen Preis, eine Jugend, die ohne den ständigen Gedanken an das Verstecken seiner Behinderung auskam.

Im Jahr 1931 durfte er, gerade 14 Jahre alt, seine erste Einzelausstellung in Frankreich gestalten. Dies war auch das Jahr, in dem er entschied, von seinem Vater fortzugehen – wobei er diese Entscheidung im Geheimen und ohne das Wissen seines Vaters vollzog. Hilfe erhielt der Minderjährige von seinem Halbbruder Harold, Kind aus einer früheren Ehe seines Vaters, der in Paris lebte. Er kehrte zurück zu seiner Mutter, die noch immer in Kalifornien lebte. Mitten in der Weltwirtschaftskrise lebten sie viele Jahre in Armut, was dazu führte, das Eyvind seine Schule nicht beenden konnte und die Gelegenheit wahr nahm, 1934 bei United Artists als Zwischenphasenzeichner anzufangen. Wenige Monate später wurde sein Ausnahmetalent von Opernsänger Lawrence Tibbett und seiner Frau entdeckt, die sich entschieden, ihn und seine Mutter finanziell zu fördern und ihm damit zu ermöglichen, sich in Mexiko intensiv der Malerei widmen zu können.

Um möglichst interessante Motive einfangen zu können, fuhr er häufig mit dem Fahrrad in die Natur, mitunter hundert Meilen an einem Tag. Dadurch kam ihm der Gedanke, dass es ein interessantes Projekt sein könnte, einmal nicht mit dem Fahrrad am Abend zurückzukehren, sondern eine längere Reise zu unternehmen. So entschied er sich, von Mexiko nach New York zu fahren und legte mit über fünfzig Kilogramm Gepäck mehr als dreitausend Meilen zurück. An jedem Tag schuf er ein Ölgemälde, insgesamt waren es 42, als er bei seiner Großmutter eintraf, die ein Anwesen besaß. Auch sie hatte nach dem Tod ihres Mannes, der bei einem Jagdunfall gestorben war, durch betrügerische Investoren ihr gesamtes Vermögen verloren. Eyvind blieb einige Wochen bei ihr, um bei der täglich anfallenden Arbeit zu helfen. Das wenige Geld, das er für die Reise eingesteckt hatte, war längst aufgebraucht.


Eyvind Earle in den 1930er Jahren (© Eyvind Earle)

Seine Rettung war erneut die Familie Tibbett, die ihm ermöglichte, in New York City zu wohnen und dort als Maler zu arbeiten. Binnen kurzer Zeit fand er einen Galeristen und wurde in den lokalen Zeitungen lobend als junges Talent erwähnt. Er verliebte sich in eine junge Frau und gab alles ihm zur Verfügung stehende Geld aus, um sie regelmäßig auszuführen. Als er nach einigen Monaten seine Mutter, die noch immer in Kalifornien lebte, zu sich holte, holten Eyvind die Geldsorgen wieder ein und er war gezwungen, die Beziehung aufzugeben. Nach seiner eigenen Aussage waren diese Monate um das Jahr 1938 die bis dahin schlimmsten seines Lebens. Da er mit dem Verkauf seiner Gemälde keine Erfolge mehr erzielen konnte, begann er aus der Not heraus, Grußkarten zu entwickeln. Gemeinsam mit seiner Mutter stellte er die Karten auf einer alten Presse selbst her, die Druckplatten fertigte er aus Linoleumresten, die er auf dem Müll fand. Beide arbeiteten sieben Tage die Woche, oft bis nach Mitternacht.

Die Idee glückte. Im Jahr 1940 eröffnete er zusammen mit einem alten Schulfreund einen eigenen, kleinen Verlag für Grußkarten. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg kehrte auch der künstlerische zurück – im Jahr 1941 entschied das Metropolitan Museum of Art, eines seiner Werke in die Dauerausstellung zu übernehmen. Er betrieb, ab 1941 mit einem anderen Freund, bis 1943 einen Verlag. Zu diesem Zeitpunkt wurde er in die Marine einberufen und arbeitete als Sanitäter. Neben seiner eigentlichen Tätigkeit ergab es sich, dass er die meiste Zeit nichts zu tun hatte. Er nahm diese Gelegenheit wahr, um Portraits seiner Kameraden zu malen und an den Werken für eine Ausstellung in Los Angeles zu arbeiten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg heiratete er, bekam eine Tochter und überwand die finanziellen Probleme der Vergangenheit dauerhaft. Den entscheidendsten Anruf seines Lebens erhielt er 1951.


(© Disney)

Am anderen Ende der Leitung war ein Verantwortlicher der Walt Disney Studios. Zwar hatte Eyvind zuvor nur wenige Monate im Zeichentrickfilm gearbeitet, man traute dem großen Talent jedoch zu, wesentliche stilistische Innovationen vorantreiben zu können. Die zunehmende Konkurrenz des Fernsehens zwang das etablierte Studio, neue Wege zu gehen. Obgleich viele der alteingesessenen Künstler des Studios, wie Ward Kimball, Marc Davis oder Dick Huemer selbst bereit waren, Veränderungen voranzutreiben, versprach man sich von der Verpflichtung völlig neuer Kreativer zusätzliche Möglichkeiten.

Nicht beachtet wurden dabei die Probleme, die die Anstellung eines Exzentrikers wie Eyvind Earle fast automatisch mit sich brachte. Eyvind Earle war als erfahrener Künstler nur bedingt formbar und tat sich als Einzelkämpfer schwer, künstlerische Unterordnung zu akzeptieren. Dennoch überzeugte er mit seinen frühen umfangreicheren Arbeiten an Peter Pan und insbesondere dem Kurzfilm Die Musikstunde (Toot, Whistle, Plunk and Boom). Die Musikstunde war sowohl technisch als auch stilistisch eine kleine Revolution und erhielt völlig zu Recht den Oscar für den besten animierten Kurzfilm.

Im Jahr 1955 begann Eyvind Earle die Arbeit an Dornröschen und schaffte es, dem Film seinen Stempel aufzudrücken. Er transportierte die stilistischen Elemente seiner Bilder in den Film, für den er die Hintergründe schuf. Ebendiese führten in den Disney-Studios zu einem heftigen Streit zwischen Eyvind Earle und Walt Disney und den künstlerischen Größen des Studios. Um das Ausmaß der Abneigung nachvollziehbar zu machen, das die Chefzeichner, darunter auch Ollie Johnston und Frank Thomas, als geschlossene Front gegen Earle vereinte, bietet sich das Erzählen einer Anekdote an, die ebenso einzigartig war. Der Regisseur des Films, Clyde Geronimi, gehörte zu den Wenigen, die in der scheinbar heilen Welt des Zeichentrickfilms mehr Feinde als Freunde vorweuisen konnten. Er war grobschlächtig, ungerecht und galt als herzlos, einzig Walts Loyalität (die nach Dornröschen ein Ende fand) bewahrte ihn vor der Kündigung. Niemand im Studio wollte viel mit ihm zu tun haben, da er den Ruf hatten, ständig zu kritisieren, ohne tatsächlich Ahnung zu haben. Doch Clyde Geronimi konnte Eyvinds Zeichnungen nicht ausstehen und er war einer der wenigen, der es sich herausnehmen konnte, tatsächlich in sein Handeln eingreifen zu können. So versammelte er die Sympathien seiner Kollegen hinter sich und wurde dafür gefeiert, dass er die Hintergründe Eyvinds Earles im Nachhinein teilweise übermalen ließ.

Eyvind Earle selbst strich noch vor dem Ende der Produktion die Segel und verließ die Disney-Studios. Doch auch wenn Geronimi einige seiner Hintergründe veränderte, konnte er nicht verhindern, dass Eyvinds Stil das Bild des Films bestimmt. 50 Jahre nach seinem Entstehen wird Dornröschen als Meisterwerk gefeiert, es gibt aber auch kritische Stimmen, die Bemängeln, dass das Character Design der Figuren, die Handlung und Stimmung des Films und die Hintergründe nur unzureichend harmonieren. Der augenscheinlichste Grund hierfür ist die Zerstrittenheit zwischen den Hauptakteuren der Produktion.

Ende der 1950er gründete Eyvind Earle sein eigenes Trickfilmstudio, das vor allem Werbefilme produzierte, aber auch einige Fernsehspecials. Zu Earles Werbefilmen, deren Herkunft durch den unverwechselbaren Stil überdeutlich ist, gehören Arbeiten für Chevrolet Motors, Chrysler, Marlboro, Motorola und Kellogg's.



(© Eyvind Earle)

Im Jahr 1945, kurz nachdem er aus dem Krieg heimgekehrt war, heiratete er seine Verlobte Alice. Im August 1946 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Zusammen mit seiner Mutter lebten sie viele Jahre in Hollywood. Im Jahr 1970 starb seine Frau an Lungenkrebs, was er auf sein eigenes Kettenrauchen zurückführte. Zwei Jahre später vermählte er sich erneut und zog mit seiner Frau nach Carmel-by-the-Sea, einer Kleinstadt an der Pazifikküste, die in den 1980er Jahren zeitweise von Clint Eastwood als Bürgermeister regiert wurde und die Heimat vieler Künstler war und ist, darunter Ernest Hemingway, Jack London und Doris Day. Es wird kein Zufall gewesen sein, dass Eyvind Earle ausgerechnet in eine Gegend zog, die für ihre vielfältigen Natur- und Landschaftseindrücke bekannt ist.

Eyvind Earle arbeitete nach seiner Abkehr vom Film fast nur noch als Maler. Obgleich ihm der große Durchbruch immer verwehrt blieb, war er auch in den letzten Jahrzehnten seines Lebens Mittelpunkt so vieler Einzelausstellungen, dass er, nach eigenen Angaben, irgendwann aufhörte, deren steigende Anzahl im Kopf zu behalten. Aufgrund der Tatsache, dass er sehr schnell malte und sich seine Werke gut verkauften, ereilten ihn nie mehr finanzielle Sorgen. Auch begann er, sich intensiv mit Lyrik zu beschäftigen und veröffentlichte zahlreiche Gedichte, Bildbände und eine Autobiographie – die Bandbreite seines Wirkens umfasste schlussendlich all das, was sein Vater von ihm erwartet hatte.


Alice Earle, die gemeinsame Tochter und Eyvind Earle (v. l. n. r., © Eyvind Earle)

Eyvind Earle starb am 20. Juli 2000 im Alter von 84 Jahren, fast siebzig Jahre nach seiner ersten Einzelausstellung. In Deutschland waren seine Werke bisher nur als Teil größerer Ausstellungen zum Thema Walt Disney zu sehen. Das Münchener Stadtmuseum hat einige seiner auf Glas gemalten Hintergründe für Dornröschen im festen Besitz. Die Werke wurden allerdings nicht angekauft, sondern landeten durch einen glücklichen Zufall in den Händen der Einrichtung: nach einer Wanderausstellung in ganz Europa, die von den Walt Disney Studios initiiert worden war, zeigte das Unternehmen bei vielen Ausstellungsstücken kein Interesse, den teuren Rücktransport in die Vereinigten Staaten zu übernehmen und bot der „letzten Station“, also dem Münchener Stadtmuseum, an, die Werke einfach als Geschenk zu behalten. Bedauerlicherweise sind in den letzten Jahren aufgrund der teilweise unsachgemäßen Lagerungen mehrere Glasplatten beschädigt worden.

Gemälde von Eyvind Earle sind sowohl als qualitativ hochwertige Drucke als auch teilweise für „niedrige“ vierstellige Summen im Original zu erhalten. Letzterer Umstand ist auch auf die hohe Produktivität des Künstlers zurückzuführen.

Donnerstag, 21. Juni 2012

Merida: Wenigstens das Ziel getroffen


Die Pixar Animation Studios können sich als Meisterschützen Hollywoods bezeichnen. Mit Filmen wie Ratatouille, WALL•E, Oben und Toy Story 3 trafen sie in den vergangenen sechs Jahren gleich mehrfach ins Schwarze – manchmal ohne jeden Schlenker, manchmal gelang der Schuss etwas knapper. Wirkliche Ausrutscher gab es in den vergangenen Jahren nur bei Cars (eher ein mittlerer Treffer auf der Punkteskala) und bei Cars 2 zu vermelden. In letzterem Fall segelte man allerdings auch direkt mehrere Meilen am üblichen Pixar-Standard vorbei.

2012 erwartet den geneigten Kinogänger also Merida – Legende der Highlands, oder kurz Brave, wie Pixars 13. abendfüllendes Werk im englischsprachigen Raum betitelt ist. Die Produktionsgeschichte spricht eine klare Sprache: Entwickelt von Brenda Chapman, die 1998 Trickgeschichte schrieb, indem sie als erste in einem großen Hollywoodstudio angestellte Frau mit Der Prinz von Ägypten einen langen Zeichentrickfilm auf die Beine stellte, ist Merida zufälligerweise auch der erste Pixar-Film mit einer zentralen weiblichen Figur. Es ist auch Pixars erster Ausflug in ein märchenhaftes, mittelalterliches Setting – und einer von vielen Pixar-Filmen, bei denen im Laufe der Produktion der Regieposten gewechselt wurde. An Chapmans Stelle trat Mark Andrews (vom Pixar-Kurzfilm One Man Band) sowie später auch Pixar-Jüngling Steve Purcell, der Andrews bei der Vollendung des Films behilflich war. Böses Blut gab es jedoch nicht, Chapman wird weiterhin als (Co-)Regisseurin und -Autorin genannt und ist weiterhin bei Pixar beschäftigt.

Während seitens der Produktionshistorie und in Interviews also primär ein Bild der Frauenpower geprägt wurde, sprach das Marketing für Merida gleich mehrere Sprachen. Der frühe Teaser und ein paar der Trailer deuteten ein epochales, abenteuerliches Pixar-Fantasymärchen an, andere Trailer ließen nervöse Disney-Fans aufgrund "unzähliger Gags im Dreamworks-Stil" die Haare zu Berge stehen.

Die gute Nachricht: Zumindest meiner Definition nach verzichtet Merida auf Humor der Marke Dreamworks Animation, es gibt keine Popkulturanspielungen und halbseiden verdeckte Vulgaritäten wie sie aus den Shrek- oder Madagascar-Filmen bekannt sind. Der Film kann sich ein paar Schottenrock-Witze nicht verkneifen, allerdings besprechen wir hier schlussendlich weiterhin einen Pixar-Film, und ein paar Rülps- und Pupswitze sind aus den Trickzauberern aus Emeryville schon immer rausgedrungen, wer will ihnen da also diese fast unvermeidlichen Witzlein verbieten? Merida verfügt über Pixar-Humor, sofern es diese Kategorie überhaupt gibt, und zwar über den kindlicheren als auch den etwas gehobeneren. Darüber hinaus, und das dürfte jene enttäuschen die sich von Merida eine der ernsteren und thematisch schwereren Pixar-Produktionen erhofften, verfügt Merida aber auch über sehr viel typischen Disney-Humor. Genauer gesagt: Disney-Humor wie er aus den Classic Cartoons gewohnt ist. Noch genauer gesagt: Merida hat einige sehr ausführliche, häufig aber auch unerwartet schlecht eingesetzte Disney-Classic-Cartoon-Slapstickeinlagen. Nach den zwischenzeitlich sehr nachdenklichen WALL•E, Oben und Toy Story 3 scheint sich in den Pixar-Studios mit Cars 2, Merida und dem anstehendem Die Monster Uni also eine Phase der Leichtherzigkeit eingestellt zu haben.

Die Storygrundlage: Eine Prinzessin, die Abenteurerin sein möchte
An dieser Stelle möchte ich noch keine Spoiler anbringen, also belasse ich meinen Storyüberblick bei folgenden Zeilen, die unentschlossenen oder neugierigen Kinogängern aber schon genügen sollten, um ein Gefühl für das Setting und die Figuren zu erhalten: Merida spielt in den schottischen Highlands, ungefähr im 10. Jahrhundert: Das Königreich DunBroch wird von einem Baum von einem Mann regiert; dem starken, fülligen und einen prächtigen, roten Bart besitzenden König Fergus, dessen Charakter so gar nicht dem entspricht, was sein Aussehen erwarten lässt. Ja, wenn es darum geht, seine Vertrauten zu beschützen, kämpft er wie ein Bär, doch sonst ist er ist ein äußerst genügsamer Mensch, der viel Spaß versteht und seiner über alles geliebten Tochter Merida allerlei Freiheiten lässt. Was Fergus an elterlichem Durchsetzungsvermögen mangelt, hat seine Frau, die Königin Elinor zu viel gepachtet: Mit eisiger Strenge überwacht sie das Leben ihrer Tochter, deren Abenteuerdrang und Querköpfigkeit der ebenso fürsorglichen wie felsenharten Königin ein Dorn im Auge ist. Meridas Mutter hat eine sehr eng definierte Vorstellung davon, wie sich eine Prinzessin zu verhalten hat, und Abweichungen dessen werden sofort ermahnt.

Trotz dessen wächst Merida zu einer lebensfrohen, freigeistigen jungen Abenteurerin heran, die jede Gelegenheit nutzt, um sich im Bogenschießen, Klettern und Reiten zu üben, was ihren Vater mit Stolz erfüllt und sie zur Heldin ihrer drei kleinen Wirbelwinde von Brüdern macht. Königin Elinor wiederum kann nicht über Meridas Aktionen lachen, steht doch bald das Treffen mit drei befreundeten Lords an: Lord Macintosh, Lord MacGuffin, und Lord Dingwall, die ihre Erstgeborenen mit sich bringen, damit diese um Meridas Hand anhalten können. Verheiratet zu werden ist schließlich die Bestimmung einer jeden Prinzessin. Als Merida vom Vorhaben ihrer Mutter erfährt, verliert sie jegliche Geduld und nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Mit ungeahnten Konsequenzen ...

Der Anfang: Bezaubernd, aber mit Macken
Auf Basis dieser Grundidee ließe sich eine Vielzahl an unterschiedlich gearteten Geschichten erzählen, weswegen zunächst wohl (so gut wie möglich) fehlgeleiteten Erwartungen vorgebeugt werden sollte: Aufgrund des ersten Akts, der sich teils sehr ins Mysteriöse flüchtenden Trailern und möglicherweise auch wegen des recht pompösen, erd- und waldfarbenen Produktionsdesign ließe sich schnell ein Highland-Epos erwarten, ein mit übernatürlichen Elementen gespicktes Pixar-Rob Roy. Dem ist nicht so, selbst jene, die kein großes Spektakel erwarten, könnten überrascht sein, wie klein und intim die Geschichte ausgefallen ist. Und es hat schon seine Gründe, dass Disneys und Pixars Marketing nahezu durch die Bank weg von Pixars erstem Märchen sprach, denn der Tonfall von Merida ist viel eher bei einem familientauglichen Kunstmärchen als bei einem Fantasy-Abenteuer für ein Familienpublikum zu verorten.

Ist dies erst einmal etabliert, begriffen oder verdaut worden (abhängig davon, wie man denn nun an Merida herangeht), beeindruckt die Trickproduktion zunächst am meisten mit ihren atemberaubenden Schauwerten: Die schottischen Highlands scheinen zum Greifen nah, als Betrachter möchte man sich, ob man nun die 3D- oder 2D-Fassung bestaunt, am liebsten in den detailreichen, in einem fantasievoll-überhöhten Realismus gehaltenen Hintergründen verlaufen. Die visuelle Komponente wird treffend von einem keltisch-folkloristischen Filmscore des Komponisten Patrick Doyle (Gosford Park, Planet der Affen – Prevolution) untermalt. Der Schotte und Pixar-Novize konnte mir zwar keinen Ohrwurm mit nach Hause geben, aber sofern man eine Schwäche für schottisch angehauchte Musik hat, wird einem die gleichermaßen tragende wie gefühlvolle Musik gewiss ein paar Mal wohlige Gänsehaut über den Rücken laufen lassen.

Nach dem ansehnlichen, wenngleich keinen all zu großen Eindruck hinterlassendem Prolog lernt das Publikum auch Pixars erste weibliche Hauptrolle besser kennen, und Merida ist eine wahrlich gelungene Heldin. Sie ist ein charismatischer Dickkopf mit einem glaubwürdigen Verhältnis zu ihren Eltern und genügend Identifikationspunkten für Zuschauer aller Altersklassen und jeden Geschlechts. Kelly MacDonald (No Country for Old Men) macht im Original einen vorzüglichen Job als Sprecherin und leitet mit Energie und Charakter einen ganzen Stapel toller Sprecherleistungen an. Die Charakteranimation Meridas ist auf wundervoll ungeschliffene Weise niedlich – Merida ist keine archetypische Disneyprinzessin und genauso wenig einfach noch ein weiteres bubenhaftes Mädel. Auf die Gefahr hin, einen etwas unausgereiften Vergleich zu machen, wirkt Merida auf mich wie eine Mischung aus Coraline und Ronja Räubertochter.

Die Umsetzung von Meridas Eltern schließt nicht ganz an die meisterliche Bogenschützin an: König Fergus ist einfach nur "der bärige, starke Mann, der eigenlich ein ganz braver Typ ist und unter der Fuchtel seiner Frau steht", aber Billy Connollys perfektes Timing und die gekonnt zwischen Klobigkeit und skurril wirkender Filigranität changierende Animation hebt ihn aus der Stereotypisierung heraus. Königin Elinor ist da schon ein komplizierterer Fall – die Inszenierung und Dialoge gehen weite Wege, um sie zu einer herrischen Eiskönigin zu machen, der geneigte Disney-Fan wird in ihr schnell eine unheilige Mischung aus Frollo, Lady Tremaine und Mutter Gothel erkennen, und wenn nicht das, so könnte man wenigstens schwören, dass sie alle den gleichen Eltern-Ratgeber gelesen haben. Anders als bei den genannten Beispielen lässt einen die Regie und die Performance von ihrer Sprecherin Emma Thompson jedoch keine Möglichkeit, es zu genießen, sie zu hassen. Elinor soll nicht als biestige Disney-Schurkin verstanden werden, sondern als harsche, dennoch liebende Mutter, die ihre Beweggründe nicht ausdrücken kann. Das macht sie zu einer komplexeren Figur, aber die eingeschobenen Einsichten in ihre Handlungsmotive kommen nicht vollauf natürlich rüber – wenigstens bei mir häuften sich Zweifel, weshalb sie sich ob ihrer Beweggründe nicht einfach besser verständigt. Oder einfach aufhört, dermaßen unerträglich zu sein. Es ist offenkundig, was die Filmemacher mit Königin Elinor bezweckten, oftmals ist sie dennoch nur eine unangenehme Zielscheibe der Publikumsabneigung.

Mit den Lords hält dann etwas mehr Humor Einzug in den Film – hier noch willkommener, gießt die Lächerlichkeit dieser Kerle doch nur weiteres Öl in Meirdas brodelndes Feuer der Aufmüpfigkeit. Das Figurendesign löste in diversen Disneyforen ja bereits heftige Debatten aus. Die Lords sind wirklich keine schönen Zeitgenossen und heftig karikiert, doch es fügt sich gut in ihr Wesen ein und die gewohnt hohe Qualität der Pixar-Animation lässt sie ganz ansehnlich wirken. Ärgerlicher empfand ich derweil Meridas Brüder, die bloß ungestümer, ständig herumwirbelnder Slapstick auf zwei (beziehungsweise sechs) Beinen sind, ohne wirklichen Charakter oder nennenswerte Bedeutung für die Handlung. Zynische Zungen würden einwerfen, dass Pixar wohl meinte, die Jungs im Publikum bei der Stange halten zu müssen, aber das glaube ich erst, wenn jemand unachtsam dergleiches im Audiokommentar fallen lässt.

Der erste Akt führt jedenfalls sehr effektiv die Figuren und ihre Konflikte ein. Mir verging er etwas zu schnell, da er mit Meridas Abenteuertouren und den geisterhaften Will O' the Wisps (blaue Lichtwesen der Highlands) mehrmals atmosphärischere Momente antäuscht, daraufhin aber rasch zu Komik oder der anstrengenden Mutter zurückschwenkt. Insgesamt aber beginnt Merida unterhaltsam, mit eigener, leicht unsteter Identität und dem unausgesprochenen Versprechen, dass auf den Schultern der ersten Szenen etwas einzigartiges stehen wird.

Die Mitte: Ändere dein Schicksal
Erneut, dieser Vergleich mag manchen etwas forciert vorkommen, mir erscheint er dennoch passend: Merida beginnt so als sei es Pixars Pocahontas – etwas Humor ist drin, aber auch viel Dramatik und ein ernsthafter Tonfall, der seine starke Frauenfigur und ihre Probleme umgibt. Sobald Merida sich aber aufmacht, ihr Schicksal zu ändern, schubst Mark Andrews sein Publikum in einen völlig neuen Film. Als atmosphärischer Brückenschlag dient lediglich eine verschrobene Sequenz, die gleichermaßen atmosphärisch-schaurig ist wie mordskomisch. Für mich stellte sie mit zwei superben Randfiguren und einem cleveren Cameo des Pizza-Planet-Trucks sowie stimmungsvoller Lichtdramaturgie den (letzten) Höhepunkt des Films dar. Danach steigt sukzessive der Disney-Classic-Cartoon-Slapstick-Anteil an. Darüber mag man sicherlich geteilter Meinung sein – die ersten eintrudelnden US-Rezensionen deuten ja an, dass sich auch die Kritiker auf der anderen Seite des Atlantiks keine einheitliche Meinung über Merida bilden können – jedoch kam mir es fast schon wie ein Betrug am eigenen Film vor. Und das sage ich nicht aus Abscheu vor markantem Disney-Slapstick. Dass ich diesen Humor genieße, dürfte treue Blogbesucher nicht überraschen. Und auch Pixar beherrscht cartoonhaften Slapstick. Üblicherweise.

Nehmen wir Ratatouille als gelungenes Gegenbeispiel zu Merida. Brad Birds Meisterstück erzählt die zeitlos-magische Geschichte einer Ratte namens Remy, die Koch werden will. Absonderliche Idee, aber Birds munter zeitgenössische Versatzstücke mit fast märchenhaften Komponenten versetzende Erzählweise, eine Prise Humor zu Beginn und eine unprätentiöse, kunstverliebte Attitüde wickeln einen schnell um den Finger. Einige Zeit später legt Bird in seiner Geschichte einen völlig verrückten Einfall nach: Die Ratte kann ihrem Traum nachgehen, indem sie ihren menschlichen Freund Linguini wie eine Marionette steuert – die Plausibilität wird enorm strapaziert, jedoch tragen die Pixar-Künstler über die ersten Zweifel hinweg, indem sie mit sehr übertriebenen, comichaften Einstiegsszenen herzliche Lacher erzeugen, so dass gar keine Nachfragen gestellt werden. Wenn Remy und Linguini ihr Kunsstück verfeinern, freut sich das Publikum mit ihnen und akzeptiert die Cartoonlogik in diesem so kultiviert-europäisch wirkenden Pixar-Traum.

Gegenpunkt Merida: Die Spannungen zwischen der Titelfigur und ihrer Mutter, die dramatischen, angedeuteten Hintergrundlegenden über die schottischen Königreiche, die betörenden und doch so unheilbringend erscheinenden Will O' the Wisps und Meridas Drang nach Freiheit und tollkühnen Erlebnissen bauen selbst beim gewählten, märchenhaften Tonfall die Erwartung einer komplexen und bedrohlichen Held(inn)enreise auf. Wenn Merida ihr Schicksal ändern will, gefährliche Konsequenzen zu tragen und so ihr Königreich retten sowie die Beziehung zu ihrer Mutter aufbauen muss, so scheint in diese Geschichte kein vor Disney-Cartoon-Slapstick platzendes Abenteuer zu passen. Und dennoch – Merida wächst in diesem Pixarfilm über ihr anfängliches Ich hinaus, während das Publikum wesentlich mehr zum Lachen hat als zum Mitfiebern. Oder eher: Das Publikum soll mehr zum Lachen haben als zum Mitfiebern, jedoch sind die Dialogwitze ab einem bestimmten Punkt nicht weiter nennenswert und der Slapstick weist nur sporadisch das richtige Tempo auf.

An dieser Stelle scheiden sich wieder die Geister, wie eine Filmbesprechung zu sein hat. Wäre ich nicht der Autor, sondern der Leser, wären mir diese Einschätzungen genug. Andere würden dies als zu vage einstufen und Spoiler fordern, denn Überraschungen sind offenbar weniger wert als Klarheit. Deshalb dürfen Leserinnen und Leser mit der erstgenannten Mentalität zum nächsten Absatz scrollen, während die unbändig Neugierigen die nachfolgenden Zeilen markieren:

[ACHTUNG! SPOILER! Zum Lesen markieren!]

Merida bestellt bei einer Hexe einen Fluch, der ihre Mutter verändern soll, so dass sie ihr keine Vorschriften mehr macht. Durch diesen Fluch verwandelt sich Elinor in einen Bären – Elinors Verstand wohnt weiterhin im Bärenkörper inne, mit Menschen kann sie aber nicht weiter kommunizieren. Da König Fergus jedem Bären, der ihm über den Weg läuft, einen schnellen Tod geschworen hat, schleichen sich Merida und ihre Bärenmutter aus dem Schloss, um die Hexe aufzusuchen und den Fluch rückgängig zu machen. Ich gebe zu – dieser Twist war mir ganz persönlich zu undramatisch. Aber ich konnte mich dazu bringen, mich mit ihm zu arrangieren. "Ja, ich wollte von Pixar eine andere Geschichte erzählt bekommen – aber das muss ja nicht heißen, dass die stattdessen gelieferte nicht gut ist", so mein Gedanke. Bloß, dass nahezu der gesamte Mittelteil des Films aus einer Aneinanderreihung von "Ach, ist das nicht witzig, wie dieser Kloß von Bär versucht, sich wie eine Königin zu benehmen"-Gags besteht. Ein Gefühl der Mystik oder Gefahr kommt nach der Verwandlung vielleicht nur noch in einer einzigen Szene auf, und das einzig wegen der geisterhaft-kargen Kulisse, in der diese spielt.

Gelungen fand ich die "Hilfe, meine Mami ist ein Bär"-Animationen auch nur einmal. Wie Elinor als Bärin eine Festtafel deckt und mit improvisiertem Besteck Beeren zu essen versucht, ist schon köstlich. Ansonsten aber trafen die Figurenanimationen von Elinor und der auf sie reagierenden Merida nie so recht meine Lachmuskeln. Das Timing stimmte nicht, mal waren die Grimassen zu schnell weg, andere Male wurden sie zu lange ausgekostet. Disney gelingt dieser Humor in meinen Augen im Rahmen der Meisterweke schlicht besser – und die Jungs bei Pixar bekommen es in ihren Kurzfilmen auch oft genug wunderbar hin. Aber hier schien mir einfach alles etwas "off". Deswegen konnte ich auch über den Figurenbogen nicht hinwegsehen: Merida und ihre Mutter überkommen ihre Differenzen unglaubwürdig unkompliziert. Etwas übertrieben gesagt: "Oh, meine Mutter ist wegen mir verflucht – vergessen wir alles, was zuvor zwischen uns geschah", beziehungsweise "Oh, meine Tochter will mir helfen, den Bann loszuwerden, den ich wegen ihr auf mir ruhen habe – ich ändere am besten meine gesamte Weltsicht!" 

Vergleicht man dies mit Bärenbrüder (inhaltlich naheliegend) oder gar Ein Königreich für ein Lama (humoristisch nicht fremd) ist dies besonders enttäuschend. Kenai musste erst wochenlang als Bär rumwandern, ein neues Leben lieben lernen und eine erschreckende Erkenntnis machen, bevor er sich besserte, und auch Kuzco wurde nicht durch seine Verwandlung verändert, sondern erst durch die (komödiantisch erzählten) Höhen und Tiefen in seinen darauf folgenden Abenteuern mit Pacha. In Merida gibt es keine überzeugenden Sequenzen, die so einen Geisteswandel begründen können.

[/SPOILER ENDE!]


Der Schluss: Eine Geschichte, die eine Legende sein will
Im Anschluss an den tonal sehr unerwarteten (und die Figurenkonstellation sowie -zeichnung verflachenden) Mittelteil folgt ein rasches, wie ich finde, die interne Logik nicht sonderlich streng sehendes Finale, das wieder sehr emotional und theatralisch daherkommen mag, sich diese getragenen Gefühle aber nur teilweise verdient. Das Ende von Merida feiert sich fast so groß, als sei der einem Mythos würdige Stoff von Der König der Löwen abgeschlossen, was einer Tragweite gleichkommt, die dieser Film keinesfalls aufweisen kann. Von der Größenordnung her würde ich Merida, selbst wenn er optisch naturgemäß um ein Vielfaches ausgereifter und überwältigender ist, eher neben Das große Krabbeln einsortieren. Pixars oft übersehenes Zweitwerk bietet wohlgemerkt einen denkwürdigeren Schurken und balanciert seinen Humor ungezwungener mit seiner Spannung aus.

Ein Fehlschuss wie Cars 2 ist Merida dennoch nicht: Mit seiner zauberhaften Optik, einem atmosphärischen Score und einer denkwürdigen Heldin hielt der Film die gesamte Laufzeit über wenigstens mein Interesse aufrecht, Cars 2 derweil war eine inhaltliche Tortur. Außerdem befinden sich vereinzelte Szenen auf hohem Pixar-Niveau, etwa das Bogenschützen-Turnier oder der Moment, in dem Merida entscheidet, ihr Schicksal zu ändern. War John Lasseters Auto-Agentenkomödie nicht wert, den Pixar-Markennamen zu tragen, traf Merida immerhin das Ziel. Man darf diese Produktion guten Gewissens einen Pixar-Film nennen – ich würde sie allerdings weit am Rande dieses Spektrums ansiedeln. Nicht primär, weil Pixar hier stilistisch auf Disney-Pfaden wildert – das ist nicht das Problem, Pixar kann gerne "Ausrutscher" in die Disney-Welt machen und umgekehrt. Auslöser ist viel eher, dass dieser wohl disneyhafteste aller Pixars nur teilweise gelungen ist. Pixar hat hier schlecht abgeschrieben und somit den Fokus verloren.

Ach übrigens: Es wird mehrfach aus dem Off gesungen. Sollte ein Pixar-Musical anstehen, so dürfen gerne Ron Clements & John Musker den Pixar-Köpfen Nachhilfe geben, wie man gut bei Disney klaubt. Dann klappt's vielleicht auch wieder mit den Volltreffern.

Merida – Legende der Highlands startet am 2. August in den deutschen Kinos.

Weiterführende Artikel:

Disneyland°2 - Die Bühnenshows

Welcome, foolish mortals!

Disneyland Paris feiert sein 20-jähriges Jubiläum, und während ich es kaum erwarten kann, die großartig angekündigte neue Wassershow Disney Dreams! selbst zu sehen, ist dies für mich die ideale Gelegenheit, den hiesigen Park mit dem Anaheimer Original zu vergleichen.



Paris - Aurora in blau!
Neben den (mehr oder weniger) informellen Treffen mit den Disneygestalten, gibt es in den Disney-Parks noch andere Wege, seine Lieblingsfiguren live zu erleben - allen voran die prächtigen Vorführungen, in denen Szenen oder ganze Teile Filme für die Zuschauer nachgespielt werden. Das Aufwendigste sind aber die Shows, die in speziell dafür eingerichteten Theatern meist jahrelang präsentiert werden, und mehrmals täglich innerhalb einer halben bis Dreiviertelstunde einen ganzen Film als großangelegte Live-Performance darbieten.
Diese Aufführungen haben seit der Eröffnung von Disneyland eine lange Tradition, doch da sie sehr viel häufiger wechseln als übliche Attraktionen, ist ein gerechter Vergleich relativ schwer. Ich selbst habe nur die aktuellsten dieser Shows gesehen, die innerhalb der letzten Jahre gelaufen sind: La Legende du Roi Lion und Tarzan - La Rencontre in Disneyland Paris und Aladdin - A Musical Spectacular in Disney California Adventure Park in Anaheim. Auch wenn sich diese drei Shows in ihrer Machart maßgeblich unterscheiden, sind sie doch in ihrem Anspruch und Produktionsaufwand vergleichbar und bieten sich dadurch für eine nähere Betrachtung an.


La Legende du Roi Lion (Der König der Löwen):

Diese Show hatte ihren Ursprung als The Legend of the Lion King in Walt Disney World Resort, wo der Film in einer großangelegten Bühnenshow mit lebensgroßen Puppen nacherzählt wurde - das wohl naheliegendste Konzept für einen Film, dessen Protagonisten ausschließlich Tiere sind. Doch dann trat das Broadway-Musical seinen Erfolgszug an und bewies, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, überzeugende Löwen auf die Bühne zu bringen, und so änderte sich die Show für Disneyland Paris fundamental.
Es gibt immer noch Puppen, die die Figuren aus dem Film darstellen, aber das nur für die Rahmenhandlung - in der „eigentlichen“ Show werden die Hauptfiguren wie im Musical von Menschen präsentiert, auch wenn diese hier eher als Reenacter der Szenen fungieren. Damit gleicht sich das Konzept dem Musical an, doch wird es in seiner Ausprägung immer noch „sicherer“ gehandhabt. Die Zuschauer bekommen Simba zu sehen, wie sie ihn gewohnt sind, und müssen sich nicht über eine herausstechend unkonventionelle Darstellung wundern, aber trotzdem wurde die Gelegenheit genutzt, den grandiosen Stil des Musicals einzusetzen.
Kulissen und Kostüme der Show lassen nichts zu wünschen übrig, stechen jedoch für Disney-Verhältnisse nicht besonders heraus. Somit bleibt insgesamt eine überzeugende Show, die leider vor einigen Jahren aus dem Park verbannt wurde, ohne einen überzeugenden Ersatz zu hinterlassen.


Tarzan - La Rencontre:

Diese Show macht sich ein völlig anderes Konzept zu eigen, das mit herkömmlichen Musicals wenig gemein hat. Im Gegensatz zu den von König der Löwen und Aladdin inspirierten Vorführungen werden hier keine Lieder des Films gesungen, sondern der Schwerpunkt liegt auf einem ganz anderen Aspekt: der Akrobatik. Beinahe ohne Worte werden in dieser spektakulären Zirkus-Show die Hauptszenen der Geschichte nacherzählt - mit Ausblendung des Bösewichts, was bei der relativ schwachen Figur nicht stört - und bilden den Hintergrund zu allerhand artistischen Vorführungen.
Natürlich kommt die Musik auch nicht zu kurz; die Filmlieder werden als Begleitmusik eingespielt, und da es genug von Phil Collins eingesungene Sprachfassungen gibt, springt der Soundtrack munter zwischen ihnen hin und her. Auch wenn dabei keineswegs auf den Sinn der einzelnen Sprachschnipsel geachtet wird ...
Im zweiten Teil der Show rückt Terk in Mittelpunkt, die - als einzige der Affen in kindgerechtem Maskottchen-Outfit - die Zuschauer anstiftet, den Krach im Lager nachzuspielen. Dieser Teil hat leider keinen künstlerischen Anspruch mehr, aber es reicht, um das Publikum zum fröhlichen Im-Takt-Klatschen zu bringen und den nach vorne kommenden Kindern Freude am Lärmen zu verschaffen. Wem dieser Teil nicht gefällt, der kann die Vorstellung natürlich jederzeit verlassen - ein Wermutstropfen ist nur der Gedanke, was man aus diesem Teil der Laufzeit sonst alles hätte machen können.


Aladdin - A Musical Spectacular:

Diese Show, die ein riesiges, mehrstöckiges Theater in Anspruch nimmt und mehrmals am Tag füllen kann, ist wohl am ehesten als richtiges „Musical“ zu bezeichnen - wie es sich auf Grundlage des Films auch anbietet. Mit verschiedensten prächtigen Sets und einer riesigen Besetzung wird die Geschichte von Aladdin life nacherzählt und vor allem gesungen. Dabei kann die Show sogar ein neues Lied vorweisen, in dem Jasmin ihren Ich-will-Moment erhält; ein Lied, das sich, gerade durch die Verwendung des Filmsoundtracks als Refrain, perfekt in die Geschichte eingliedert.
Dschinni kann auch ohne Zeichentrick-Zauber seine Entertainer-Rolle voll ausleben und möbelt mit aktuellen und trotzdem erstaunlich unpeinlichen Witzen die Stimmung auf.  Dazu kommen spektakuläre Spezialeffekte, wie Aladdins Einzug auf einem lebensgroßen Elefanten, der Flug auf dem Teppich über das Publikum hinweg und Dschafars Verwandlung erst in eine Schlange und dann in einen allmächtigen Dschinni.
Insgesamt verfügt die Show über Produktionswerte, auf die jedes „echte“ Musical stolz sein könnte, und auch wenn die Vorführung nur 45 Minuten lang ist, hat man Gefühl, eine theaterreife Performance miterlebt zu haben. Damit ist sie für mich der knappe Favorit von drei beeindruckenden Shows, die man bei entsprechender Gelegenheit auf keinen Fall verpassen sollte.



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