Donnerstag, 24. Dezember 2020

Die schlechtesten Filme des Jahres 2020

Ein Filmjahr lässt sich nicht so schnell abschließen. Jahr für Jahr erscheinen im Kino, auf DVD, auf Blu-ray und im Streaming so viele Filme aus allen möglichen Ländern, dass man noch viele Jahre später weitere Perlen und weitere Stück Kohle entdecken kann. Aber weil sich im Jahr 2034 wohl wenige für die Tops und Flops des Jahres 2020 interessieren würden, ist es Tradition, solche Listen zeitnah zu veröffentlichen. Und während ich mir für's Lob doch lieber etwas mehr Zeit lasse, um die Komplimente so richtig reifen zu lassen, habe ich kein Problem damit, die Negativität zügiger rauszuspülen. Und somit: Willkommen zu meiner alljährlichen Negativliste.

Da das Filmjahr 2020 ein ungewöhnliches war, halte ich meine Flopliste jedoch kürzer als sonst. Das liegt einerseits daran, dass in diesem Jahr, in dem mehrere Studios Entscheidungen getroffen haben, mit denen sie dem Kulturstandort und der medialen Technik Kino in Zeiten dringender Unterstützung stattdessen fiese Tritte gegen das Schienbein verpasst haben, nicht wirklich allzu viel weiteres Gemecker hinterher gejagt werden muss. Es war alles mies genug. Und zweitens habe ich in diesem heimkinointensiven Jahr bei den neuen Starts stärker selektiert, um die vielen, vielen Stunden auf dem heimischen Sofa stattdessen mit Rewatches geliebter Filme und mit Erstsichtungen von bislang versäumten Klassikern und Geheimtipps zu verbringen. 

Daher: Dieses Jahr gibt's nur eine Flop 10. Und, sicherheitshalber wie jedes Jahr auch hier die Erklärung: Die Überschrift ist übertrieben, doch "die mir unliebsten Filme 2020" ist so ungelenk, dass ich mich nicht traue, das als Überschrift zu wählen. Was folgt, sind also nicht die zehn Filme, die ich mit kritisch analytischem Verstand nach ganz unten packe (auch wenn ein paar Filme dabei sind, die ich sehr wohl auch aus kritisch-analytischer Sicht mies finde), sondern die zehn Filme, die mein Filmherz am meisten genervt, verärgert oder auf aggressive Weise angeödet haben. Klar soweit? Na wunderbar, dann geht's nun los ... 

Platz 10: Der Killer in mir (Regie: Adam Egypt Mortimer)

Um fair zu sein: In jedem "normalen" Jahr, in dem ich deutlich wahlloser Neuerscheinungen sehe und zudem auch einfach wesentlich mehr von ihnen (statt die brachliegende Kinolandschaft zu nutzen, um ältere Filme zu schauen), wäre Daniel isn't real (wie Der Killer in mir im Original heißt) wohl eher bei meinen größten Enttäuschungen des Jahres und vielleicht noch in meinen unehrenhaften Nennungen. Nicht aber in meinen Flops. Und ich würde den Film auch niemals für eine kopfgesteuerte Nominierungsliste einreichen, mit der die Titel gesammelt werden, die in einen Kanon der miesesten Filme 2020 aufgenommen werden sollten. Aber: Adam Egypt Mortimers Psychothriller über einen unsichtbaren Freund mit argem Hang zum Bösen (ein Konzept, das Familienfilme der 90er und 00er mehrfach abgegrast haben) hat dennoch auf einer rein gefühlgesteuerten Negativliste meines Jahres 2020 ganz eindeutig eine Nennung verdient. 

Mortimer ist durchaus vielversprechend als Regisseur - sein Gefühl für die Geschichte vertiefende Farbästhetiken ist sehr reizvoll und wie er psychologische Konzepte wiederholt durch puppenhäuschenhafte und mystische Settings visualisiert, ist ansprechend. Aber: Sämtliche Suspense in diesem Film wird mehrmals durch galliges Overacting von Miles Robbins und Patrick Schwarzenegger zerstört. Welches Verhalten die Nebenfiguren lange, lange erdulden, kaufe ich ihnen partout nicht ab, und die Songeinsätze sind wiederholt unfreiwillig komisch. Und auch wenn Mortimer in Interviews sehr empathisch und nachdenklich wirkt, finde ich die Aussage des fertigen Films mit jedem Tag, der vergeht, mehr und mehr ärgerlich: Mortimer will sicherlich nichts Schädliches über mentale Probleme aussagen, und doch finde ich die Storymechanismen dieses Films (selbst an Genremaßstäben gemessen) überaus banal, tumb und garstig. Und das nicht in einem "Oh, das wird mich noch lange heimsuchen"-Horrorsinne, sondern in einem "dein Plot widerspricht sehr deutlich dem, was als moralische Absicht durch den Film hindurchschimmert"-Sinne.

Platz 9: 365 Days (Regie: Barbara Bialowas & Tomasz Mandes)

Um ein Vielfaches fragwürdiger als der erste Fifty Shades of Grey-Teil, der aufgrund seiner erzählerischen Inkompetenz es nicht gebacken bekam, eine brauchbare BDSM-Beziehung zu skizzieren, und so stattdessen eine giftige, elendige Romanze entwarf, die ein Bein bereits in der Tür namens häuslicher Gewalt hat. Aber auch deutlich kurzweiliger zu schauen: 365 Days ist wie ein Hochglanz-Schundheft fotografiert (das ist ein Lob ... irgendwie), ständig in Bewegung (das auch) und strunzdämlich (das in diesem Fall nicht). Aber wenigstens fühlt sich dieses "Ich verliebe mich in meinen Entführer, denn er ist so gut im Bett!"-Elend nicht dreimal so lang an wie es ist. Daher "nur" Platz 9 der Flopliste - die Dialoge sind grottig, die Figurenzeichnung völlig unplausibel und der "skandalöse" Sex, der manche (teils seriöse) Filmportale die Frage aufwerfen ließ, ob Netflix etwas so pornöses überhaupt zeigen darf, ist gar nicht so skandalös und überhaupt nicht pornös. Da wurde sich mal wieder aufgeregt, wo kein Grund zur Aufregung war, um Klicks zu generieren. Aber irgendwie ist der steif gespielte, ranzig geplottete Murks schmissig übermittelt - und ich bin daher neugierig auf Teil zwei. Vielleicht rettet sich diese polnische Bestselleradaption-Filmreihe noch? Wunder geschehen ... 

Platz 8: Ruf der Wildnis (Regie: Chris Sanders)

Ein hässlich überanimierter Digitalhund soll die ganze emotionale Stärke dieses Abenteuerfilms stemmen - und scheitert dabei katastrophal. Das Vieh sieht einfach dämlich aus, und kombiniert damit, wie uneinig sich der sonst so großartige Regisseur Chris Sanders (Lilo & Stitch) ist, ob diese Geschichte plausibel oder eine hibbelige "Hahaha, was für ein lustiger Hund!"-Komödie sein soll, wurde Ruf der Wildnis für mich sehr schnell zur Geduldsprobe. Ich kam beim Gucken aus dem Augenrollen nicht mehr raus, da helfen auch kein knurriger Harrison Ford, eine komödiantisch eitel agierende Karen Gillan und ein liebenswerter Omar Sy. Es ist (aufgrund abgeschlossener Verträge erklärbar, doch künstlerisch gesehen) absolut verrückt, dass dieser klebrige Schund ins Kino entlassen wurde, und der um Meilen spannendere und emotionalere Togo als Disney+-Original direkt als Streamingtitel verramscht wurde.

Platz 7: Slaxx (Regie: Elza Kephart)

Die größte Enttäuschung auf dem diesjährigen Fantasy Filmfest: Ein Film über eine Killerjeans, der "Fast Fashion", Modekult und unmenschliche Produktionsbedingungen kritisieren will? Das klingt mega! Die Umsetzung ist jedoch ungeheuerlich lahm und arm an Verve. Schade.

Platz 6: Die Hochzeit (Regie: Til Schweiger)

Daran erkennt man, welch seltsames Filmjahr 2020 für mich war: Die Hochzeit, die Fortsetzung von Klassentreffen 1.0 - Die unglaubliche Reise der Silberrücken entließ mich Anfang des Jahres mit dezenter Hoffnung. Der Film hat ein paar eklatante Makel. Einige sehr, sehr in die Länge gezogenen Gags sind sehr, sehr träge und hohl. Die Entscheidungen, welche Songs wie lange in welcher Lautstärke laufen, sind mitunter rätselhaft und lassen das fertige Produkt in Sachen Tonschnitt und Tonabmischung halbgar wirken. Und dass sich Til Schweigers Figur von einer ihrer ärgsten Kritikerinnen angraben lässt und sie dann heroisch in den Wind schießt ... Ähm ... Ja. Sehr unangenehm. Und doch: Die Hochzeit ist viel, viel besser als der unausstehliche, peinliche, unfähig zusammengeklatschte Vorgänger. Er hat einige Momente der Kurzweil und feilt die Hauptfiguren fein, die im ersten Teil noch so grobschlächtig waren. Ich dachte nach meinem Kinobesuch: "Joah, der war zwar nicht gut, wird aber auch überhaupt nicht in meinen Flops landen." Und dann geschah 2020. Sorry ...

Platz 5: Amulet - Es wird dich finden (Regie: Romola Garai)

So, jetzt aber: Während Die Hochzeit in einem normalen Jahr wahrscheinlich meiner Flopliste entgangen wäre, so hätte es diesen Horrorfilm (?) definitiv so oder so in meine Flops verschlagen. Romola Garais Gruselgeschichte handelt von einem Mann, der seine ihn zermürbende Vergangenheit hinter sich lassen will, und nun in einer neuen Heimat Unterschlupf bei wohlmeinenden Frauen des Glaubens findet. Der Film springt zwischen zwei Erzählebenen hin und her, es braucht etwas, bis sich abzeichnet, ob es Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Traumwelt oder sonstwie verbundene Ebenen sind ... Und je weiter dieser Film voller Overacting, das sich mit der ruhig-ominösen Inszenierung beißt, voranschreitet, desto stärker dämmert es: Ja. Der Film steuert wirklich die langweiligste Lösung von allen an und vermittelt sie mit extra großer Schwerfälligkeit. Nicht spannend, nicht schaurig, nicht bewegend, nicht anspruchsvoll - dieser Film ist einfach nichts. Naja, okay, das praktische Make-up ist achtbar. Das reicht aber nicht.

Platz 4: Timmy Flop: Versagen auf ganzer Linie (Regie: Tom McCarthy)

Wenn ich mir sämtliche Filme vor Augen führe, die 2020 ihre Deutschlandpremiere hatten, so gibt es keinen, bei dem mich der US-Pressekonsens ratloser zurückgelassen hat. Mein US-Kollegium war einheitlich von der Überzeugung, dass Timmy Flop das Highlight des ersten Schubs an Disney+-Originalfilmen sei. Der Film wäre so wunderbar "undisney" und so kreativ und smart und ... Nein. Nein, nein, nein, was habt ihr denn da bitte alle gesehen? Ich verstehe diese Lobeshymnen überhaupt nicht. Nicht das kleinste bisschen. Timmy Flop ist das, was ich mir vorstelle, was vollauf überzeugte Disney-Hater denken müssen, wie sämtliche Disney-Familienkomödien sind. Denn diese Kinderdetektivgeschichte dreht sich um ein vollkommen unausstehliches, neunmalkluges Kind, das einen Elternteil verloren hat und sich nun in eine weltfremde Halbfantasie flüchtet. Aber weil das ja so niedlich ist, korrigiert niemand dieses Kind, das eigentlich in professionell helfende Hände gehört, statt amüsiert begafft. So dass es frei von jeglichem Verantwortungsgefühl Chaos und Unfrieden stiftet - aber weil es ein ach-so-süßer-Disney-Kinderprotagonist ist, sollen wir das zelebrieren. Timmy Flop würde sich bestens mit der Rostlaube Hook, wie sie in Cars 2 dargestellt wurde, und dem Titelhelden eines gewissen, von mir verhassten, gemeinhin geliebten deutschen Oscar-Anwärters vertragen. Die drei Unverantwortungstiere. Demnächst in meinen Albträumen ... 

Platz 3: Artemis Fowl (Regie: Kenneth Branagh)

Was für ein Auffahrunfall: Nach jahrelanger Verzögerung in der Vorproduktion, vergleichsweise unauffälligen Dreharbeiten und zahlreichen Verschiebungen ab Beginn der nebulösen Postproduktion wurde die einst als Kino-Franchisebeginn erachtete Jugendbuchadaption Artemis Fowl diesen Sommer auf Disney+ geparkt. Und dort sorgte Artemis Fowl für Lachflashs und Kopfschütteln. Dem Film steht "Ich hatte Produktionsprobleme" noch stärker auf die Stirn geschrieben als Josh Tranks Fantastic Four: Den Großteil des Films über wird darüber gesprochen, dass etwas geschah oder getan wird. Aber es passiert nur sehr wenig. Entweder erzählt Josh Gad in die Kamera, was wir hätten sehen sollen, oder aus dem Off wird Exposition nachgereicht oder aber es finden plotentscheidende Dialoge komplett im Off statt. Wenn mal was passiert, dann ist es lustlos inszeniertes digitales Chaos mit Effekten, die selten gut, und sehr häufig mies sind. 

Platz 2: Die Känguru-Chroniken (Regie: Dani Levy)

Eine Kinosatire, die nur bruchstückhaft den Charme der Vorlage auf die Leinwand rettet, deren Inszenierung jegliches Flair vermissen lässt (wenngleich das titelgebende Känguru sehr gut animiert ist), und deren Skript so tumb und denkfaul ist, dass man es fast schon auf Applaus von der falschen Seite anlegt. Den es wohl daher nicht gab, weil kurz nach Kinostart ein anderes Thema jegliche Aufmerksamkeit forderte: Die Känguru-Chroniken ist ein erschreckend dämlicher Film, dessen politische Pointen viel zu oft nach hinten losgehen. Ätzend.

Platz 1: Verotika (Regie: Glenn Danzig)

Samhain- und Danzig-Gründer Glenn Danzig adaptiert in diesem Horror-Episodenfilm Comics seines eigenen Verlags Verotik. 2019 feierte Verotika seine Weltpremiere auf dem Filmfestival Cinepocalypse in Chicago, wo das Publikum den Film in Anwesenheit des Filmschaffenden lauthals verlacht hat. Und in der anschließenden Frage-und-Antwort-Stunde gab sich Danzig völlig ratlos, was denn geschehen sei. Er habe den Film nicht als Komödie angelegt, wieso also lachen die Leute an Stellen, an denen er nicht lachen würde?

Diese Anekdoten machten mich neugierig. Ich habe eh eine Schwäche für Horror-Episodenfilme, und nachdem 'Bloody Disgusting', 'Entertainment Weekly', 'The AV Club' und 'Vulture' Vergliche mit Tommy Wiseau und Ed Wood gezogen haben, war ich gebannt: Ist Verotika etwa ein möglicher, neuer Kultfilm der Marke "So schlecht und inkompetent, dass es wieder gut wird?" Und könnte ich hier früh auf den Kultzug mit aufspringen? Kaum wurde Verotika dieses Frühjahr erstmals in Deutschland feilgeboten (als Bezahlstream auf Amazon), musste ich zuschlagen. Und ... Ich habe es bereut. Wieder einmal kann ein Schrottfilm seinem Ruf nicht gerechtwerden: Verotika ist vollkommen unfähig zusammengeschustert, doch nicht auf spaßige, aufregende Weise. Sondern einschläfernd. Naja, oder ich habe einfach ganz anders veranlagte Lachmuskeln, schließlich finde ich viele "OMG, WTF, was ist das?!"-Kultmüllfilme einfach nur uninteressant ... 

Verotika umspannt drei Episoden. Es geht um eine Pariser Prostituierte mit Augäpfeln als Nippel, die von einer Albinospinne verfolgt wird, die sich in einen Killer in Menschengröße verwandeln kann. Es geht um eine Stripperin, die andere Frauen aufgrund ihrer Schönheit attackiert. Und um eine Herzogin, die Jungfrauen ermorden lässt. Aus all diesen Konzepten lassen sich brauchbare wie trashig-vergnügliche Horrorstoffe weben, doch Danzig hat kein Auge für Atmosphäre, kein Gehör für akustische Suspense und kein Händchen für ... irgendwas. Die laienhaft inszenierten Episoden plätschern kopflos vor sich her, mehrmals setzt Danzig auf Schockeffekte, die nicht schocken, weil ein einfach nur schäbig-hässliches Kostüm oder ein ranziger Effekt ewig lang eingefangen wird, und der Cast ist weitestgehend unfähig (Trinkspiele auf wechselnde oder brechende Akzente wären bei Verotika tödlich). Einzig die Damen aus der Rahmenhandlung, rund um eine folternde Erzählerin, haben einen Funken schauspielerisches Talent im Leib. Und bedenkt man, dass eine von ihnen in Marvel's Agents of S.H.I.E.L.D. und V/H/S Viral mitgespielt hat (Noelle Ann Mabry), und die Andere über 170 Schauspielcredits sowie 42 Regie-Nennungen in der IMDb hat (Kayden Kross), lässt sich das wohl mit "Okay, die hat Danzig wohl vorm noch ausstehenden Durchbruch aufgegabelt" und "Nunja, stete Arbeit schleift womöglich das Talent, ganz gleich, welche Art Film man so dreht" erklären.

Verotika ist mit Abstand der schlechteste Film, den ich seit langer, langer Zeit gesehen habe. Und doch würde ich nicht dafür stimmen, dass man sich dieses Elend anschauen müsste. Die Faszination hat Verotika für mich (anders als bei vielen anderen Schreiberlingen) nicht.

Tja ... in diesem Sinne: Frohe Weihnacht, frohe frohe Weihnacht, euch allen!

Mittwoch, 16. Dezember 2020

Musikalisches Immergrün – Die besten Disney-Songs der Dekade (Teil XV)

 zurück zu Teil XIV

Unsere lange Reise durch die Disney-Musik der 2010er-Jahre nimmt ein Ende: Phineas und Ferb hatten viele tolle Sommertage, die Muppets haben gescherzt, der Disney Channel hat ... öh ... gedisneychannelt, und das ganz fabelhaft. Und auch der Disney-Animationsfilm-Kanon war natürlich wieder präsent. Ganz klare Sache. Schließlich ist er es, der die Verbindung zwischen Disney und Musik überhaupt erst so prägnant gestaltet hat. Ob sich auch ein Disney-Meisterwerk die Nummer eins dieser Hitliste schnappt? Gleich erfahrt ihr es ... 

Platz 5: Mann oder ein Muppet ("Man or Muppet") aus Die Muppets

Musik und Text von Bret McKenzie (dt. Fassung von Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)


Am 26. Februar 2012 war es endlich so weit. Die Muppets, die wohl musikalischste Schauspiel- und Comedy-Truppe des Film- und Fernsehgeschäfts, haben ihren ersten Academy Award für den besten Song gewonnen. Zweimal waren sie zuvor nominiert aber "aller guten Dinge sind drei". Darüber hinaus hat Walt Disney Pictures bei den 84. Academy Awards endlich das Dutzend voll gemacht und sich zum zwölften Mal einen Song-Oscar eingesackt. Komponist und Songtexter Bret McKenzie gab sich bereits nach der Nominierung bescheiden und betonte, niemals damit gerechnet zu haben.


McKenzie nahm sich vor, mit Mann oder ein Muppet ein Lied zu schreiben, das "urkomisch und wunderschön" ist, sowie gleichzeitig "ehrlich wie albern" wirkt. Das ist ihm vollauf gelungen, weshalb Mann oder ein Muppet ein verdienter erster (und hoffentlich nicht finaler) Muppet-Oscar-Gewinner ist. Denn dieses Lied trifft die Herzlichkeit der Muppets ebenso sehr wie ihre Überzogenheit. Denn Mann oder ein Muppet ist ein aus ganzem Herzen kommendes Lied über Sinnsuche, das Zweifeln an seiner Identität sowie ein Ausdruck dessen, endlich sich selbst erkennen und für den richtigen Weg entscheiden zu können. Bloß, dass das Dilemma der beiden singenden Figuren, Walter und Gary, lautet, nicht zu wissen, ob sie (im Inneren) Muppet oder Mensch sind, was sie mit überaus dick aufgetragenem Kummer herausschmettern. 


Trotz allem Humor in der Umsetzung ist es (dank McKenzies schön strukturierter Melodieführung und der emotionalen gesanglichen Darbietung) aber noch immer eine gelungene, ehrliche Form der Sinnkrisenbewältigung via Gesang. Powerballade auf Muppet-Art. Ich lieb's!

Platz 4: Alles ist grandios ("Life's a Happy Song") aus Die Muppets

Musik und Text von Bret McKenzie (dt. Fassung von Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)


Richtig gesehen: Die Muppets aus dem Jahr 2011 hat es sich sogleich zwei Mal in meinen Top 5 der besten Disney-Lieder der 2010er-Jahre bequem gemacht! Während Bret McKenzie mit Mann oder ein Muppet eine gefühlvoll-lustige Selbstfindungs-Powerballade geschaffen hat, ist dieser Eröffnungssong des formidablen Muppet-Quasi-Comebacks (sie waren ja nicht richtig weg, aber zweifelsohne ein paar Jahre nicht in Form und außerhalb der Aufmerksamkeit des Mainstreams) eine muppettastische Quintessenz des Happy Village-Song-Archetyps, der mich allein schon durch seine songschreiberische Dramaturgie gewinnt. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bekomme allein schon dadurch eine Gänsehaut, wann im letzten Viertel des Songs wie eine Marschkapelle einsetzt und so das finale Gute-Laune-Crescendo dieser Nummer einleitet!


Vielleicht liegt es an der Attitüde, mit der McKenzie diesen Song geschrieben hat: Gegenüber der 'Los Angeles Times' erklärte er, dass Alles ist grandios als waschechte Musicalnummer aufblühen sollte, aber zugleich die Mechanismen einer Parodie haben müsse. Das Lied sollte, je nach Blickwinkel Gute-Laune-Eröffnungsnummern durch den Kakao ziehen oder einfach nur eine ernstzunehmende Gute-Laune-Eröffnungsnummer sein, die in die Vollen geht. Das passt nicht nur gut zu den Muppets generell und dem Film Die Muppets im Speziellen, sondern stützt auch wundervoll die Ausgangslage von Walter und Gary zu Beginn des Films: 


Der völlig verblendete, nicht erwachsen gewordene Walter und der nur minimal gefestigtere Gary denken, ihr Leben sei superfröhlich, leichtfüßig und perfekt, während es an Mary nagt, dass Gary nicht einmal erkennt, dass er erwachsenere Verpflichtungen und Bindungen eingehen sollte. Geschweige denn, dass er fähig wäre, sie einzugehen. Dafür lebt er zu sehr in einer Traumwelt. Alles ist grandios kann also wahlweise eine Spur drüber sein und sich neckisch über Garys und Walters Heile-Muppet-Kuschelherz-Welt erheben oder aber mit flauschiger Begeisterung ein Loblied auf diese heile, funktionierende Welt sein, die in den folgenden Minuten zerstört wird, wenn Walter erfährt, dass die Muppets, nunja, mehr als nur ein simples Karrieretief durchmachen. Doch für die finalen Takte von Alles ist grandios ... ist alles grandios! 


Platz 3: Lass jetzt los ("Let it Go") aus Die Eiskönigin

Musik und Text: Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez (dt. Fassung von Thomas Amper)


Was ist eine musikalische Disney-Hitliste in der Post-Eiskönigin-Ära ohne Lass jetzt los? Elsas große Powerballade hat die Welt im Eissturm erobert und hat sich innerhalb kurzer Zeit unwiderruflich an das "Disney-Erlebnis" festgeeist. Seit Beendigung der Eiskönigin-Kinoauswertung hatte ich keinen Disney-Parkbesuch mehr, ohne dass mir das Lied begegnet ist. Kaum eine Parade verzichtet auf diese Nummer, selbiges gilt für Disney-Lichterspektakel oder Eiskunstlauf-Tourneen. Geschweige denn für Disney in Concert-Veranstaltungen. Lass jetzt los hat sich zu einer disneykulturellen Stellung katapultiert, die Zip-a-dee-doo-dah Konkurrenz macht (und die Distanz zwischen den beiden Titeln wird nur noch wachsen), nunmehr über Hakuna Matata liegt, und nur von historisch gewachsenen, völligen Ausnahmetiteln wie Wenn ein Stern in finstr'er Nacht überschattet wird. 


Und was soll ich sagen? Ich versteh's. Total. Mein Genöle über Die Eiskönigin als filmisches Gesamtwerk habe ich schon oft genug vom Stapel gelassen, dennoch bleibt Elsa eine hervorragende Figur und ihr großer Glanzlichtmoment bleibt für mich glasklar Lass jetzt los. Dass der Song gleichermaßen den Film vorwärtsbringt, wie er auch für sich stehend aufgeht, ist sicher Teil seines Erfolgsrezepts. Die Power-Performance der zahlreichen offiziellen Elsa-Stimmen weltweit und die kraftvolle Songdramaturgie, die die Stärken aus Musical und Pop vereint (als Inspirationen dienten gleichermaßen Menkens Nummern aus der Disney-Renaissance und Stücke aus Sweeney Todd wie die Stilistiken von Adele, Aimee Mann, Avril Lavigne, Lady Gaga und Carole King), runden dieses Paket formidabel ab. 


Bekanntlich hatte Lass jetzt los ja sogar die Kraft, den ganzen Film zu verändern: Bevor das Lied geschrieben wurde, war Elsa noch schurkischer angelegt. Doch weil Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez Elsa als verschreckte, junge Frau sahen, die ihre Gabe weder zu kontrollieren, noch zu schätzen weiß, und während dieses Liedes all ihr Zaudern sich selbst gegenüber aufgibt, und dieses Lied einfach so kräftig und mitreißend war, musste halt der Film neue Wege einschlagen. Und auf diesen versuchen, qualitativ mit dem Song mitzuhalten. (Hier dürft ihr euch nun eure eigenen Gedanken machen, ob das aufging.)


Platz 2: Wo noch niemand war ("Into the Unknown") aus Die Eiskönigin II

Musik und Text: Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez (dt. Fassung von Thomas Amper)


Disney und die Popsong-Versionen seiner Filmsongs ... es ist ein ewiges Leid. In fast allen Fällen finde ich die Abspann-Cover der Filmlieder schwach oder gar zum Davonlaufen. Die Filmversionen sind einfach schöner, haben mehr Charakter und sind daher emotionaler. Aber es gibt sie, die berühmten Ausnahmen von der Regel. Elton Johns Can You Feel the Love Tonight schwebt meines Erachtens nach meilenweit über der Filmfassung des Der König der Löwen-Liebeslieds. Und auch wenn Wo noch niemand war in Die Eiskönigin II für mich zu den gelungensten Szenen gehört (egal ob in deutscher oder englischer Fassung), so gefällt mir das Lied nochmal um Längen besser, wenn nicht Elsa, sondern Panic! At the Disco es schmettert.


Das Arrangement von Into the Unknown im Abspann hat mit dem prägnanten Bläser-Einsatz und der poppig-rockig-opernhaften Dramaturgie (Wikipedia ordnet das Genre dieses Covers bezeichnenderweise als Pop-Rock, Showtune & Operatic Pop ein) glatt das Zeug dazu, in einem alternativen Universum das Titellied eines James-Bond-Films zu sein. Bevorzugt des ersten James-Bond-Films innerhalb eines Reboots. Das passt doch wie die Faust aufs Auge! Der Prolog ist zu Ende, der 007-Darsteller (oder die Darstellerin! Emily Blunt for Jane Bond, folks!) ist enthüllt, der erste Akkord von Into the Unknown ertönt und wir stürzen hinaus in eine bisher unerforschte, aufregende Bond-Welt!


Ich kann mir die dazugehörige Sequenz und glatt die ganze Tonalität des Bond-Films, der diesem Titelsong gebühren würde, förmlich vor dem inneren Auge ausmalen. Und das kommt wohl nicht von ungefähr. Denn: Der Text von Into the Unknown ist spezifisch genug, dass er ein detailliertes Kopfkino gestattet, hat man sich erst für ein Bild entschieden, das man mit den Lyrics und der klanglichen Attitüde der Nummer füllen möchte. Aber er ist vage genug, um vielfältige Deutungen zuzulassen. Das gibt dem Song ein großes Identifikationspotential und funktioniert auf filmischer Ebene als Wendepunkt, von dem aus der eigentliche Plot von Die Eiskönigin II ins Rollen kommt, ausgezeichnet. Es ist der Funken, der ein Abenteuer entfacht, und zugleich Inspirationsquelle für eine metaphorische Lesart von Elsas Reise.


Dass man sich im Hause Disney ziemlich uneinig war, wofür Elsas Reise steht, kann man in der herausragenden Dokumentarserie Into the Unknown auf Disney+ nachschauen, die auch zeigt, wie der Song (inklusive der Szene) Show Yourself (dt.: Zeige dich) im Produktionsprozess zum Stein des Anstoßes für ausführliche Debatten und Anreger von massig Arbeitsstress wird. Aber Into the Unknown, der die Story und die Parabel nicht auflösen muss, sondern sie nur in die Wege leitet, kann das völlig egal sein. Geht es um Abenteuerlust? Geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit einem Familiengeheimnis oder gar mit den Privilegien der eigenen Herkunft? Ist es Elsas "Wage ich es, mich mit meiner Sexualität auseinanderzusetzen und letztlich gegenüber meinen Liebsten – oder einfach nur ohne weitere Ausflüchte und Abwiegelungen, sondern in voller Klarheit mir selbst gegenüber – ein Coming Out in Erwägung zu ziehen?"-Song, in dem die Elsa lockende Frauenstimme wortwörtlich eine sie anziehende Frauenstimme ist, weshalb sie gedanklich ausdiskutiert, ob es den bedauerlichen, potentiellen gesellschaftlichen Gegenwind wert ist, und dieser Sehnsucht zu folgen, indem sie das ihr bisher Unbekannte zu erkunden wagt?


Gerade letztere Interpretation wird in der vom Film losgelösten, hymnenhafteren Pop-Rock-Version mit operettenhafter Schmetterqualität befeuert: Elsa wurde sowieso schon nach Teil eins von vielen Fans als Lesbe gelesen, und Lyrics wie "There's a thousand reasons / I should go about my day / And ignore your whispers", "I'm sorry, secret siren / but I'm blocking out your calls [...] I don't need something new / I'm afraid of what I'm risking if I follow you" und "Or are you someone out there / Who's a little bit like me? / Who knows deep down / I'm not where I'm meant to be?" sowie "are you out there? / do you know me?/ can you feel me? / can you show me?" fügen sich formidabel in solch eine queere Interpretation des Songs. Dass ein offener Pansexueller die Popvariante von Into the Unknown performt, schnürt das queere Päckchen noch hübsch zusammen. 


Clark Spencer, Präsident der Walt Disney Animation Studios, fasste Into the Unknown in der 'Los Angeles Times' allerdings allgemeiner zusammen: Es ist seiner Ansicht nach ein Lied darüber, den Ruf der Bestimmung zu hören. Elsa zaudert zunächst, doch im Laufe dieses dramaturgisch mitreißenden, packend komponierten Songs überzeugt sie sich, keine Scheu mehr zu zeigen. Und egal, wie ich über den Film insgesamt denke: Dieser Song lässt mich Elsa gehörig anfeuern! Stürz dich ins Unbekannte, gute Frau!


Platz 1: Endlich sehe ich das Licht ("I See the Light") aus Rapunzel

Musik von Alan Menken, Text von Glenn Slater (dt. Fassung von Thomas Amper)


Vergleichsweise kurz nach Beginn der 2010er-Jahre hat sich Endlich sehe ich das Licht auf die Spitzenposition meiner liebsten neuen Disney-Lieder seit Veröffentlichung meiner ersten Musikalisches Immergrün-Reihe gesetzt. Und seither verharrt diese Pop-Ballade mit Folkrockeinflüssen auf dem Spitzenrang. Dieses Lied ist einfach wunderschön: Rapunzel und Eugene alias Flynn Rider singen hier nicht einfach bloß ein romantisches Duett - wenngleich Endlich sehe ich das Licht durchaus, zweifelsohne ein herrliches, emotionales Liebesduett ist. Aber zugleich ist diese herrliche Komposition von Alan Menken (und Texter-Spitzenleistung von Glenn Slater) auch ein introspektives, zerbrechlich-feinfühliges Lied über Wunscherfüllung, Selbsterkenntnis, Verletzlichkeit und diesen zarten, flüchtigen Augenblick, wenn man bereit ist, sich seinem bedeutsamen Gegenüber erstmals tiefgreifend zu öffnen.


Rapunzel und Eugene führen während Endlich sehe ich das Licht innere, gesungene Monologe darüber, etwas zu erreichen, das sie bis dahin für unerreichbar hielten - und nicht nur durch die dazugehörige Szene und ihre Umsetzung, auch schon dadurch, wie sie stimmlich ihre Zeilen betonen und verstärken, verändert sich im Laufe dieses Liedes die Bedeutung dessen. Der Schwerpunkt verlagert sich, von einem in sich geschlossenen, völlig insularen Wunsch zu einem geteilten Glück, was Endlich sehe ich das Licht so unfassbar romantisch macht: Es ist ein Liebeslied, das die einzelne Erfahrung der beiden Liebenden und das gemeinsame Erlebnis zugleich behandelt und ineinander verflechtet (womit der alberne US-Filmtitel Tangled fast beinahe ansatzweise rehabilitiert wäre).


Ursprünglich plante Menken eine kräftigere Komposition, eine Art Hymne, jedoch wurde Endlich sehe ich das Licht im Verlauf der Produktion von Rapunzel sanfter und "folkiger", was eigentlich nicht meine präferierte Rock-Subrichtung ist. Jedoch ist Endlich sehe ich das Licht in dieser Version so harmonisch und flüchtig-hübsch, dass es perfekt zum Text und dem Kontext der Szene sowie der Charakterisierung der Figuren passt, dass ich mir den Song gar nicht mehr als Powerhymne vorstellen mag. Ein Jammer, dass dieses Lied um den wohl verdienten Oscar als bester Song beraubt wurde. Aber dafür ist es die Nummer eins in dieser Hitliste. Ein schwacher Trost? Womöglich, aber ein unschlagbarer Abschluss für diesen ausgedehnten Countdown! 

Montag, 7. Dezember 2020

Soul


Joe Gardner ist ein frustrierter Musiklehrer, der von Größerem träumt: Mit einer Jazzlegende auf der Bühne stehen und eine Profikarriere beginnen. Genau dieser Traum scheint sich ihm nun zu erfüllen. Doch dann kommt ihm etwas dazwischen: Der Tod. Nicht willens, ins Jenseits zu fahren, büxt Joes Seele aus und landet im Great Before, an dem Ort, an dem Seelen geformt werden, ehe sie ihre irdische Hülle erhalten. Dort lernt Joe 22 kennen, eine sture Seele, die auf gar keinen Fall ein Leben haben möchte. Ausgerechnet durch 22 könnte Joe seinem Ziel, wieder lebendig zu werden, näher kommen ... 


Als bekannt wurde, dass die Pixar Animation Studios mit Soul einen Film planen, in dem die Seele eines Toten abspenstig wird, hatte ich sofort zwei Gedanken: "Natürlich ist das der neue Film von Alles steht Kopf-Regisseur Pete Docter!" und "Oh, ist das Pixars Irrtum im Jenseits?" Denn die wegweisende Komödie von Michael Powell und Emeric Pressburger aus dem Jahr 1946 handelt immerhin von einem Flieger, der nach einem Absturz aufgrund eines flüchtigen Zählfehlers nicht direkt ins Jenseits fährt und nun darum bangt, vollauf offiziell weiterleben zu dürfen. 


Powell und Pressburger nutzen, wie zuvor Der Zauberer von Oz, sowohl Schwarz-Weiß-Fotografie als auch Technicolor, um ihre Geschichte zu erzählen und eine deutliche visuelle Grenze zwischen den Reichen zu ziehen. Doch anders als das legendäre Judy-Garland-Filmmusical zeigt A Matter of Life and Death (wie der deutlich treffendere Originaltitel von Irrtum im Jenseits lautet) unsere Welt in Farbe und die fiktive Spielwiese in Schwarz und Weiß. Erklärt wurde dies seitens des Filmemacher-Duos damit, dass es doch irrsinnig sei, die Welt, die wir alle in Farbe kennen, durch eine monochrome Ästhetik zu verzerren. 



Hinzu kommt für mich aber auch folgender Reiz: Durch das Zeigen der Realität in glorreichem Technicolor und dem Leben danach in öde gehaltenem Schwarz und Weiß wird eine emotionale Distinktion getroffen. Das Hier ist vielseitig, einladend und voller Reize, das Da nicht. So wird das Leben schöner und (so simpel kann es sein:) lebenswerter gezeigt, was generell eine positive Grundhaltung ist und zweitens der Geschichte entgegen kommt - während in den Jahrzehnten danach ja so manche Filme über ein Jenseits den Weg gegangen sind, den Himmel bunter, fantasievoller und toller als die Wirklichkeit darzustellen. Was gelinde gesagt einen fragwürdigen Beigeschmack haben kann ... 


Pixars Soul trennt das Leben und die von den Filmschaffenden gesponnenen Welten nicht 1:1 so wie zuvor Powell und Pressburger. Doch ich glaube, einen Einfluss von Irrtum im Jenseits zu erkennen. Oder zumindest eine vergleichbare Denkweise: Joes Wirklichkeit, namentlich New York City, wird auf eine Weise gezeigt, die ich als "Pixars Haus-Stil" bezeichnen würde:


Das Trickstudio aus Emeryville hat ein hervorragendes Händchen dafür entwickelt, Landschaften und die Elemente naturalistisch abzubilden. So detailgetreu, dass sie im ersten Augenblick täuschend echt wirken, doch schaut man genauer hin, sind sie dezent stilisiert, zumeist, um schöner als echt zu sein, quasi ein Idealbild dessen zu werden, wie es in echt aussehen sollte. Lebewesen wiederum sind bei Pixar karikiert, was uns die sogenannte Uncanny Valley erspart (den Effekt, das etwas sehr echt, aber nicht überzeugend genug, und daher abschreckend aussieht), und zudem die Persönlichkeit der Trickfiguren greifbarer macht und ihnen mehr Ausdruck verleiht. Und so, wie in Ratatouille Paris nicht wie das echte Paris, sondern der Traum vom echten Paris erscheint, ist Souls New York City die Idealversion von New York (inklusive aller Macken, die New Yorks Bevölkerung aber zu lieben gelernt hat). 


Die Fantasiewelten von Soul dagegen sind neue Design-Meisterleistungen Pixars. Die Kunstschaffenden aus dem Trickhaus haben sich richtig ausgetobt und Wesen geschaffen, die an Drahtskulpturen erinnern, sowie Aerogel-Bäuschen und Monsterchen aus schwarzblauem Glitzersand. Die bildästhetische Verspieltheit von Alles steht Kopf geht hier munter weiter - aber auch mit einem klaren Konzept: Alle Winkel der nicht irdischen Welten sind in sich sehr reduziert - sie haben in sich harmonische, aber auch stark begrenzte Farbspektren und auch hinsichtlich der Texturen besteht nur wenig Varianz. Es ist für die Laufzeit des Films eine Wonne, sich diese Designeinfälle anzuschauen - aber es lädt nicht gerade dazu ein, darin ein Leben zu verbringen. Da ist die Erde, wie Pixar sie zeigt, mit ihren mannigfaltigen Reizen und faszinierenden Imperfektionen wesentlich einladender. 


Das spielt nicht nur dem in die Karten, was hier als Joes Ziel skizziert wird. Es ist auch auf beiläufige, zugleich konstante Weise wundervoll lebensbejahend. Soul ist, und das ohne verkrampft geschriebene, kitschig vermittelte Moral-Monologe, ein erhellender, gutherziger, rührender Film darüber, wie sehr wir das Leben genießen sollten. Docter und seine Crew reden nichts schön, dies ist kein Film darüber, dass man sich etwas nur genug wünschen muss, und es geht in Erfüllung. Stattdessen dreht sich Soul darüber, dass es auch mal dreckig und schwierig und frustrierend und einsam werden kann - nur dass die Gesamtheit des Lebens eben doch zu wertvoll ist, um sich davon dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen. 


Ich wünschte, ich hätte Soul im Kino sehen können, statt ihn als Presse-Screener mit riesigem Wasserzeichen im Bild zu sehen. Und doch habe ich mehrmals Tränchen verdrückt, einfach, weil Soul gestalterisch wunderschön ist und ebenso wunderschön erzählt wird. Das dürfte euch einen Eindruck verschaffen, wie sehr mich das Storytelling dieses Films gepackt hat. Denn zusätzlich zur bereits erwähnten visuellen Gestaltung und dem sehr effektiven Score von Trent Reznor & Atticus Ross (machen den warmen, ätherischen Score für das Nicht-Diesseits) und Jon Batiste (verantwortlich für die beseelten Jazz-Passagen) hat mich auch die Figurenzeichnung begeistert.


Joe ist so genau geschrieben, dass er als Figur vollauf glaubwürdig und echt wirkt, aber auch so allgemein gehalten, dass er als Identifikations-Spiegel funktioniert, und 22 ist ein liebenswert-schrulliger Dickschädel. Das führt zwangsweise zu sehr viel Dialoghumor und Situationskomik - und die vielen, vielen, nie aufgesetzt wirkenden Lacher machen diese nachdenklich stimmende, rührende Geschichte nicht bloß verdaulicher. Sie sind essentiell, um diese positive Story authentisch zu vermitteln. Denn ein nachdenkliches, rührseliges Drama darüber, wie schön das Leben allen Hürden zum Trotz ist, trägt nahezu zwangsweise das Päckchen mit, so zu wirken, als würde es sich verstellen, damit man es ernst nimmt. Soul dagegen ist, wie es ist.


Soul ist ab dem 25. Dezember 2020 auf Disney+ abrufbar.