Donnerstag, 21. Juli 2022

Bibi & Tina – Einfach anders

Menschen sitzen abends am Lagerfeuer. Während sie ein aufmunterndes Lied singen, wippen, schunkeln und wackeln sie unbeschwert. Gestikulierend unterstreichen sie den Songtext, nähern sich einem Augenblick der vollkommenen Gleichgesinntheit. Sie lassen ihren Frust, ihre Sorgen und ihren Stress der vorherigen Tage hinter sich. Dennoch handeln sie nicht unisono. Unterbewusst drücken alle tänzelnd ihrer Einzigartigkeit aus.

Der Eine zögert bei wiederkehrenden Bewegungen dieser spontanen Choreografie, als sei er sich unsicher, welche Geste wann genau drankommt. Zwei beste Freundinnen lächeln sich strahlend an und beginnen einen schwungvollen Sitztanz, als hätten sie ihn spontan non-verbal miteinander ausgemacht. Das schüchterne und etwas schroffe Reiterhof-Ferienkind geht mit der Stimmung mit, wippt aber lieber in sich selbst hinein. Und die Mundwinkel des freundlichen Exzentrikers in galanter Aufmachung könnten sich nicht feister in seine Backen graben, so begeistert ist er ob seiner mit Affekt durchgezogenen Gesten. Ein losgelöster Glücksmoment im kleinen, schief um das Feuer gebildeten Kreise...

So feiern die Titelheldinnen und die Ihren in Detlev Bucks Bibi & Tina – Einfach anders gemeinschaftlich die Individualität – und bewegen sich dabei zu den Klängen des von Joshua Lange, Peter Plate und Ulf Leo Sommer geschriebenen Songs Anders ist gut mühelos aus einer argumentative Zwickmühle. Zeigte doch schon Monty Pythons Das Leben des Brian auf, wie urkomisch widersprüchlich es zumeist ist, wenn eine Menschengruppe gleichzeitig ausruft, individuell zu sein. Entweder handeln alle gemeinschaftlich oder alle individuell, aber beides zugleich ist ein Ding der Unmöglichkeit – sollte man meinen.

Aber Detlev Bucks Interpretationen des aus Hörspielen und dem Trickmedium bekannten Bibi & Tina-Kosmos lächeln dem Unmöglichen unbeeindruckt ins Gesicht, ehe sie von einem kecken "Hex-hex!" begleitet drüber hinweg springen. Das bewies sich bereits in vier Realfilmen. Stets fanden Buck und Autorin Bettina Börgerding neue Wege, um quirlig freidrehende Kreativität, spielerisch aufbereitete Genrekonventionen, ironisches Zwinkern und eine aus tiefstem Herzen kommende Grundehrlichkeit zu vereinen, damit Hexe Bibi Blocksberg und ihre normalsterbliche Freundin Tina Martin in farbenfrohen, spaßigen Abenteuern dem Kinotrott davonreiten können. Mit einem exzessiv aufgezäumten Film gegen Gier, einer schrägen Komödie, die uns beibringt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren, einer Mädchen gegen Jungs betitelten Attacke gegen den Geschlechterkrieg. Oder in einer verschroben-fabelhaften Musical-Dramödie über Flucht und Ankunft, die anmutet, als wäre es ein bislang verschollener Film des Schwarze Katze, weißer Kater-Regisseurs Emir Kusturica, der darin seinem zuvor verheimlichten Faible für deutsche Kinderhörspiele frönt.

Mit der 2020 veröffentlichten Bibi & Tina-Serie änderten sich die Besetzung, die Drehorte und einige filigrane Stellschrauben, wie die Verantwortlichen die erzählerischen sowie inszenatorischen Mechanismen einsetzen. Diese Neuerungen werden im fünften Film beibehalten. Katharina Hirschbergs Bibi ist etwas kindlich-frecher als die pubertierend-emotionale Bibi à la Lina Larissa Strahl. Harriet Herbig-Matten nimmt die verschrobenen Eskapaden auf dem Martinshof und rund herum öfters verdattert-wohlwollend hin, statt sich wie Lisa-Marie Korolls Tina abenteuerlustig reinzustürzen. Alex von Falkenstein (zuvor: Louis Held / nun: Benjamin Weygand) ist etwas bodenständiger geworden, sein Vater Graf Falko (Michael Maertens / Holger Stockhaus) etwas meckeriger. Hofbesitzerin Susanne Martin (Winnie Böwe / Franziska Weisz) hat jetzt eine etwas alltäglich-mütterlichere Art, ihre Seite als verschrobene Alleinunterhalterin tritt in den Hintergrund. So, wie auch die Farbsättigung nunmehr reduzierter ist als noch in den ersten vier Filmen.

Es sind dieselben Figuren, aber wir begegnen ihnen in einer neuen Kontinuität, wo sie dezent neu interpretiert werden. Es ist halt alles Einfach anders, womit der Filmtitel bereits eine klare Ansage ist. Aber er verweist auch auf den Namen des Internats, aus dem drei neue Ferienkinder kommen, die den Martinshof durcheinander wirbeln. Und er fasst eines der Leitthemen des Films zusammen, in dem es Buck, Börgerding und ihren zahlreichen dramaturgischen Helfer:innen mit Leichtigkeit gelingt, voller Gemeinschaftssinn den Wert der Individualität zu feiern. Denn das Bibi & Tina-Universum ist so musikalisch, so freundlich-kauzig und in dieser Interpretation zugleich so eindrucksvoll-vorbildlich gelassen, dass sich diese Story gar nicht erst in die vorhin erwähnte Zwickmühle manövrieren kann

In Bibi & Tina – Einfach anders wird nicht erklärt, nicht erarbeitet und vor allem nicht erkämpft, sondern mit völliger Selbstverständlichkeit ausgelebt, dass Harmonie nicht dadurch entsteht, dass alles identisch ist – sondern dadurch, zusammen unterschiedlich zu sein.

"Eure Welt ist wirklich lächerlich. Langweilig. Langweilig!"

Selbstredend kommen selbst Bucks Bibi & Tina-Kosmen nicht völlig ohne Konflikte aus. Irgendeinen Antrieb brauchen die Pferdemädchen, um sich zielstrebiger auf ihre geliebten Unpaarhufer Amadeus und Sabrina zu schwingen, statt gelassen spazierzureiten oder spontane Wettreiten frei von Fallhöhe vom Zaun zu brechen. In Bibi & Tina – Einfach anders gibt es sogleich drei Ursachen dafür, das Chaos ausbricht:

Graf Falko von Falkenstein erfährt von einer forschen Justizbeamtin, dass er gar kein Graf sei. Der Martinshof ändert seine Ausrichtung, und begrüßt daher erstmals drei Jugendliche bei sich, die vom Internat Einfach anders vermittelt wurden – und dort kann man froher nicht sein, dass die rotzige Disturber (Emilia Nöth), die mit glühender Begeisterung von wissenschaftlichen Grenzbereichen schwärmende Spooky (Pauletta Pollmann) und der schweigsame Silence (Leander Lesotho) vorübergehend weg sind. Und dann ist auch noch über Falkenstein ein Meteorit abgestürzt, weshalb die örtliche Bevölkerung völlig außer sich ist – angestachelt durch die völlig verantwortungslose Berichterstattung der Radio-Flamingo-Moderatorin Funky Fröhlich (Judith Richter).

Wo Individualität thematisiert wird, ist der Themenkomplex Identität nicht fern. Die grellste Identitätskrise macht Falko durch, der sich kopflos und wirr fragt, wer er sein soll, wenn er doch kein Graf ist. Der passionierte Westenträger versteift sich derart auf Labels, dass er sich schlagartig für einen blutdurstigen Vampir hält, bloß weil er erfährt, Vorfahren in Siebenbürgen zu haben. Selbst Bibi lässt sich derart vom Etikettendenken leiten, dass sie allein deshalb die Unterlagen der Justizbeamtin hinterfragt, weil sie davon überzeugt ist, dass eine derart traditionsbewusste, stocksteife Person wie Falko ein Graf sein muss. Da reagiert sein Sohn Alex schon gelassener: Er sagt sich, dass er er ist, egal ob Adelstitel oder nicht. Ihm geht es bei den Ermittlungen gegen die Behauptungen der schrillen Frau nur um Gerechtigkeit, nicht um eine Bestätigung seines Selbstbilds.

Diese Entspanntheit muss er von Butler Dagobert (Herman van Ulzen) gelernt haben, der einfach eine treue Seele ist, ganz gleich, ob er nun als Butler eines Grafen agiert oder doch nur als besonnener, weiser und wortkarger Freund eines wechsellaunigen Exzentrikers. Auch Susanne Martin und ihr Sohn Holger (Richard Kreutz) sind mit ihrer Identität im Reinen. Zumindest auf persönlicher Ebene. Beruflich zögern sie zwischendurch, ob die für den Erhalt des Hofes als nötig erachtete Neuausrichtung eine gute Idee war, oder sie sich mit der Aufnahme dreier "Problem-Teenager" übernommen haben. Jedoch sind die Beiden derart tiefenentspannt, dass ihnen kaum mehr als ein erschöpftes Schnaufen oder ein Augenrollen entfleucht, wenn sie beim Verfolgen ihrer Obhutspflichten ins Schleudern geraten. Wenn eine rebellierende Jugendliche ihnen ins Ohr brüllt und ins Gesicht singt, wie langweilig und lächerlich diese heile Kuschelwelt sei, gehen sie hingegen unbeirrt ihrem Tagwerk nach.

Tina hadert unterdessen arg mit sich. Von Disturber als die Stinknormale beschimpft, die sich Hexe Bibi lediglich als Wegbegleiterin ausgesucht hat, um umso außergewöhnlicher zu wirken, und bei all dem Chaos in Falkenstein wiederholt zum reinen Sidekick degradiert, entwickelt sie Frust. Tina hinterfragt angesichts ihrer vermeintlichen Austauschbarkeit ihren Wert, beginnt sogar zu granteln: Leute wie Disturber, die so aufsehenerregend anders sind und damit zum Gesprächsthema werden, die machen das doch allein aus Geltungsbedürfnis. Um aufzufallen, sich nach vorne zu drängeln, langweilige Normale zu überschatten. Grummelt Tina jedenfalls in einem flüchtigen Augenblick der charakterlichen Schwäche, bevor Bibi ihr aufzeigt, dass auch sie hervorstechende Eigenschaften hat. Und dass ihre pampige Eifersucht auf Disturber unangebracht ist, weil es gute Gründe gibt, weshalb manchen Menschen gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil kommt – Fürsorge und Unterstützung für jene bedeutet nicht sogleich ein Abwerten anderer.

Nicht, dass Bibi frei von Fehlern wäre. Selbst wenn man ihre Spitzen gegen Falkos Traditionsliebe ignoriert. So steckt sie Disturber gedanklich mit Vehemenz, zwischenzeitlich gar mit Jähzorn, in die Schublade "Böswillige Unruhestifterin" und will dies zunächst als einzige Eigenschaft Disturbers anerkennen. Gewiss, die mit raspelkurzen Haaren, Vorhängeschloss-Halskette und Zehn-Tage-Regenwetter-Miene auftretende Disturber präsentiert sich beim Kennenlernen als (tief-)schlagfertig und sarkastisch, steckt verbal zügig Grenzen ab. Doch wie kann es sich Bibi, die Tina unter anderem wegen ihrer Sehkraft aufzieht, bitte erdreisten, eine andere Sprücheklopferin als Schurkin abzustempeln, während sie sich darin badet, von allen als freundliche, hilfsbereite Hexe, als Sonnenschein auf zwei Beinen bezeichnet zu werden? Frisur, Kleidungsstil und die Breite des Lächelns allein können ja nicht über das gesamte Wesen eines Menschen entscheiden...

Identitätsfragen durchziehen den Dialogwitz, die Situationskomik und die charaktergetriebenen Handlungsbögen von Bibi & Tina – Einfach anders, und da kommen solche Mini-Konflikte wie die blitzschnell geäußerte Vermutung aller, Silence sei wegen eines unverarbeiteten Traumas stumm, noch hinzu. Und eine Gesangseinlage über die blendenden Schein der Prominenz. Oder die Szenen, in denen der Lederjacken tragende, handwerklich interessierte Motorrad-Rockerbubi Freddy (Dominikus Weileder) zu einem ratlos stammelnden Jungen wird, weil er sich in die vom Geschehen im Weltall fabulierende Spooky verliebt, und damit nicht umzugehen weiß. Wie sehr würde ihm erst der Kopf kreisen, würde er wie V. Arscher (Kurt Krömer) von Identität zu Identität wechseln, und im damenhaften Abendkleid mindestens so eine gute Figur machen wie in Sakko und Melone oder im altmodischen Ringel-Badeanzug...

"Das beste an der Suppe: Ohne dich schmeckt sie nicht!"

Im Presseheft zu Bibi & Tina – Einfach anders erläutert Buck seine Beweggründe, sich einmal mehr auf den Bibi & Tina-Regiestuhl zu setzen. Er erzählt von seiner Tochter, die nach dem Abitur kurzfristig dachte, im Leben angekommen zu sein – bloß um orientierungslos festzustellen, dass sie glaubt, nicht zu wissen, wer sie ist. Dies sei die Initialzündung gewesen, der Moment der Erkenntnis, welche Mission Bibi und Tina noch zu erfüllen haben. Eine positiv-anspornende Geschichte über den Fragenkomplex "Was kann ich eigentlich? Was will ich? Wer bin ich?" müsse her. Bucks Statement windet sich in seinem typisch sprunghaft-assoziativen, lakonischen Schreib- und Redestil weiter zu den ganzen Kosmos umspannenden Fragen, zur Einordnung wo wir herkommen und wer wir denn schon sind mit unseren Problemen, in den Weiten der Galaxie. 

Alles Fragen und Sorgen, die das junge Publikum angesichts der "aktuellen Weltlage, der Anspannung und Isolation, Hysterie, Unsicherheiten, absichtlicher Falschmeldungen" mitbekäme und sich nur durch Freundschaften leichter durchstehen ließen. Was nach Bucks Überzeugung bedeute, dass man auch Freunde bräuchte, die anders sind als man selbst. Zum Abschluss seines Regiestatements berichtet Buck kurz von seinem Besuch einer queeren Jugendgruppe und deren Motto: "Wir können den Wind nicht drehen, aber die Segel anders setzen!"

Dieses Motto wird im Film weder zitiert noch paraphrasiert, gleichwohl verkörpert er es vollauf. Buck und Börgerding breiten in ihrer Erzählung die Erkenntnis aus, dass stürmische Zeiten allein schwerer zu meistern sind als zusammen. So, wie der Leitspruch bewusst vom "Wir" spricht, statt sich ratschlagend an die Betrachtenden zu richten: "Du kannst den Wind nicht drehen, aber die Segel anders setzen!" Ebenso sehr liegen dem Motto und dem Bibi & Tina – Einfach anders-Drehbuch die Feststellung inne, dass es Widrigkeiten gibt, denen man nicht unmittelbar Herr werden kann. Doch statt aufgrund ihnen zu resignieren, rät es sich, ihnen mit Zuversicht und Findigkeit zu begegnen, um sie zu umschiffen und letztlich sehr wohl zum Ziel zu gelangen. Dieses Vorgehen gilt gleichermaßen für Feindseligkeiten (im Film vertreten durch Mobbing und Vorverurteilungen) als auch für Stress verursachende, unruhige Situationen und pures Chaos (wie die sonderbaren Himmelsphänomene, Lebensentwürfe aus der Bahn werfenden Nachrichten und die Alien-Massenpanik in Einfach anders).

Angesichts dessen, wie viel Eindruck die queere Jugendgruppe bei Buck hinterlassen hat, wie sehr Bibi & Tina – Einfach anders von Akzeptanz sowie Identitätsfindung handelt, und dass im Film der von Lange, Plate und Sommer verfasste, in einer abgewandelten Form bereits 2020 von Michelle veröffentlichte Song Einfach anders vorkommt, inklusive sLyrics wie "Es ist wichtig, dass du dich liebst, wie du bist" oder "Was denkst du? Was bist du, woher kommst du? Was träumst du und wen liebst du? So wie du bist, ist’s gut!", ist es durchaus verwunderlich, dass nicht-heteronormative Identitäten nicht konkret in der Handlung vorkommen. Zumal bereits Bibi & Tina: Tohuwabohu total! eine Nebenfigur zeigte, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt.

Zweifelsfrei: In Bibi & Tina– Einfach anders keine offen queere Figur auftauchen zu lassen, bleibt eine vertane Chance. Gleichwohl: Bucks und Börgerdings Verzicht darauf, im Vielfalt zelebrierenden Selbstakzeptanz-Film Bibi & Tina– Einfach anders queere Identitäten auch als Handlungskonflikt aufzugreifen, ist vollends nachvollziehbar.

Nicht nur, weil es den Falkensteinern, so wie sie von den Beiden bisher gezeichnet wurden, schwer abzukaufen ist, sollten sie LGBTQIA+-Fragen problematisieren. Sondern auch, weil es nicht zum Duktus dieses Films gepasst hätte: Eine mit sich hadernde, Intoleranz durch Andere befürchtende, geschweige denn erfahrende Figur, würde die realweltliche Dramatik aus Bibi & Tina: Tohuwabohu total! replizieren. "Das befürchten, mitunter passiert nicht-heteronormativen Jugendlichen", wäre Teil der filmischen Aussage, was daraufhin mit einem "Und das sollte nicht sein" beantworten werden müsste.

Bibi & Tina – Einfach anders lebt aber eine idyllischere, gediegenere Konflikte aufweisende Welt vor. Menschen, die in unserer Wirklichkeit bedauerlicherweise tatsächlich gesellschaftliche Sanktionen befürchten müssen, einfach weil sie sie sind, daran zu erinnern, um daraufhin die Kurve ins Idyll zu kriegen, würde den "Vorleb-Charakter" des Films schmälern. Dass Bibi & Tina – Einfach anders den Weg von Pixars Luca geht, der gemeinhin eine Geschichte über Selbstakzeptanz, Vielfalt und gegenseitigen Respekt erzählt, doch ziemlich flink unter anderem auf queere Identität übertragen werden kann, ist da schon cleverer:

Die Krisen, die die Figuren im fünften Bibi & Tina-Film Bucks durchmachen, dürften den Allerwenigsten Kindern und Jugendlichen 1:1 aus ihrem Leben bekannt vorkommen. So viele Adlige, deren Herkunft hinterfragt wird, und aufgrund eines Nietzsche-Zitatshirts aus dem Kloster geflogene Rebellinnen dürfte es in Deutschland ja wohl nicht geben. Aber den erzählten Konflikten und Identitätskrisen zum Trotz sind die Abläufe und Gefühle, die dahinterstecken, mit großem Identifikationspotential aufgeladen, da sie im Film eindringlich-pointiert geschildert und nachvollziehbar umgesetzt werden.

Und so darf jede:r im Publikum auf die Figurenbande dieses Films blicken und eigene Ängste, Befürchtungen, Herausforderungen oder auch Hoffnungen hinein projizieren, ungeachtet der demografischen und biografischen Umstände, und ohne während der Schilderungen emotional unbequem angepackt zu werden. Daher ist es auch völlig kohärent, dass der von Lesotho charmant-dauerentspannt angelegte Silence schwarz ist, aber den gesamten Film über niemand darauf eingeht – das Vielfaltsthema also ebenso wenig über Hautfarbe, Ethnie oder Herkunft behandelt wird, wie über die Hürden, die unsere Gesellschaft queeren Menschen in den Weg stellt:

Geschichten über Rassismus müssen im deutschen Kino dringend erzählt werden, doch genauso sollte Vielfalt im Casting alltäglicher werden. Das sind zwei unterschiedliche, sich insgesamt ergänzende Ansätze. Silences "Andersartigkeit" lässt sich ohne weitere Umstände so aufnehmen, wie im Film präsentiert, nämlich als Schweigsamkeit, die in redseligen Kreisen zuweilen sonderbar aufgefasst wird. Genauso kann man sie als Chiffre auffassen, als Stellvertreter für jeglichen demografischen,  charakterlichen oder interessensbasierten Aspekt, der gegebenenfalls zu Ausgrenzung oder Missverständnissen führt, obwohl dem nicht so sein sollte.

Der Unterschied ist bloß, dass Silence so oder so Repräsentation darstellt, wohingegen queere Repräsentation gar nicht stattfindet, obwohl es auch möglich gewesen wäre, sie im Film zu haben, ohne sie mit den Akzeptanzkonflikten zu verbinden. Kurzum: Die versäumte, konkrete Repräsentation von LGBTQIA+-Identitäten, mag auffallen, fällt jedoch schlussendlich jedoch wenig ins Gewicht, da wie in Pixars Luca die Aussage und der Vibe des Films die größeren Bände sprechen. Und falls man gönnerhaft drauf ist, ist mit V. Arschers unbeeindruckt zwischen den Gendernormen switchendem Modegeschmack und dem blau-lila-pinken Farbschema während Disturbers Solo-Gesangsnummer sehr wohl Repräsentation gegeben, wenngleich keine verbalisierte.

Ein anderes Thema packt Bibi & Tina – Einfach anders derweil unvermittelt an, nutzt es sogar als Knüpfungspunkt zwischen den drei großen Plotfäden: Das Toleranz-Paradoxon. Denn wie Vollblut-Miesepeter, geschweige denn hauptberufliche Mentalitätsbrandstifter gerne argumentieren: Wenn man doch so tolerant und duldsam sein will, muss man dann nicht auch Dinge hinnehmen, die gegen solch eine Einstellung ackern?

Bibi & Tina – Einfach anders verhandelt das hohlste und am kürzesten gedachte Totschlagargument unter allen Totschlagargumenten nicht in einer ausformulierten Diskussion, sondern konstant beiläufig auf Handlungsebene. Denn selbst auf dem genügsamen Martinshof und im einladenden Schloss Falkenstein finden Geduldsfäden ihre Enden. Nicht aber so rasch, wie man in einem Film erwarten dürfte, der eine lobende Gesangseinlage über Kuschelmentalität umfasst, in der die Titelheldinnen sich umarmend und knuffige Tiere streichelnd darum bitten, sich nach all den schlechten Zeiten nicht mehr zu streiten.

Disturbers ruppige Art beispielsweise wird der von Emilia Nöth so mitreißend-schnippisch gespielten, sympathisch-ungestümen Figur nicht abtrainiert, wie es in einem seichteren, didaktisch-konservativeren Film gewiss geschehen würde. Ihr mit Metahumor gewürztes pampiges Protestlied Nein Danke wird konsequenterweise auch nicht als Schurkensong aufgezogen, sondern als erfrischendes, nachvollziehbar motiviertes Freibahnen von Gefühlen des Frusts, Dickschädel-Stolzes und Abgrenzens von all der Reiterhofromantik. Ergänzend wird wenige Minuten später Alex ein punkig angehauchter Wutsong zugestanden, mit dem er seinem Vater Grenzen aufzeigt, wofür ihn Dagobert mit zustimmendem Nicken entlohnt und Tina mit Herzchenaugen.

Die Freude an Vielfalt und das erfreute Annehmen von Eigensinnigkeiten enden in Bibi & Tina – Einfach anders bei unvertretbaren Einstellungen und schädlichem Verhalten. Das beschränkt sich hier symbolisch auf Mobbing, boshaft motivierte Lügen und das leichtfertige Ignorieren von Fakten – das genügt allerdings völlig, um den Punkt rüberzubringen und das Toleranz-Paradoxon problemlos zu knacken.

Anders als in Tohuwabohu total! zügeln Börgerding und Buck ihre tagesaktuellen Verweise, wenn sie die Wurzeln der behandelten Probleme anpacken. Ein paar gut platzierte Seitenhiebe konnten sie sich trotzdem nicht verkneifen. Beispielsweise löst der leichtsinnige Sensationsjournalismus von Radio Flamingo eine Massenpanik aus, die wiederum zu überhasteten Hamsterkäufen führt (Zitat: "Wieso eigentlich immer Klopapier? Es ist doch genug für alle da!") – weder den Vernunftsverweigernden noch Funky Fröhlichs Integritätsarmut gesteht Buck inszenatorisch Sympathie zu. Geschweige denn der immergleichen Echokammer aus engstirnigen Erwartungen und Fehlinformationen, die Funky und ihr Publikum gemeinsam aufbauen. Anderer Input tät ihnen gut...

Zumeist gerät die Abgrenzung zu Fehlverhalten zeitloser, frei von Tagespolitik. Etwa wenn in einer Rückblende jemand für seinen Mut, einfach zu sich zu stehen und zu tun, was ihn erfüllt, fertig gemacht wird. Das filmt Buck in Einfach anders deutlich beiläufiger, "kleiner" und harmloser als das Mobbing in Mädchen gegen Jungs, geschweige denn die dramatischen Elemente in Tohuwabohu total!, und doch wirkt es nicht unbedeutend oder gar weichgespült: Die Erwachsenen im Cast spielen jegliches Überschreiten der Falkenstein-Benimmgrenzen (wo das, was bei uns leider Alltag ist, schon Anlass für jahrzehntelang eingefädelte Komplotte ausreicht), so, dass es ein sanft-amüsiert gerauntes "Oh, das ist wirklich der Grund dafür?!" gestattet, bevor die schwerere Emotion dahinter Überhand gewinnt.

Krömer etwa ist ein herrlich amüsanter, sich selbst genießender, dick auftragender Widersacher, doch wenn er traurig dreinblickt, rührt dies aller zuvor zur Schau gestellten Exzentrik und gemessen an den vorherigen Bibi & Tina-Filmen läppischen Motiven zum Trotz. Ähnliches gilt für Stockhaus, dessen nachdenklichen, geknickten Blicke ins Leere zwischen den großen Paraden an spaßiger Affektiertheit deutlich mehr aussagen, als man angesichts der Kinderhörspiellogik seines Handlungsfaden vermuten dürfte.

Wenn das Drehbuch dann im letzten Viertel kurzzeitig den süffisant-spritzigen Duktus pausiert, damit sich Figuren ironiebefreit auf Augenhöhe austauschen, Dagobert kurz zum Erzähler wird, und sogar ein Hauch von Shakespeare durch den Stall weht, um ebenso kompakt wie prägnant das zuvor Unausgesprochene aus dem Weg zu schaffen, wird klar: Buck und Börgerding vermochten es, ernste, echte Probleme in einem Bibi & Tina-Kosmos zu verarbeiten. Aber genauso gelingt es ihnen, sperrige Ärgernisse ins Falkenstein-Vokabular zu übersetzen, kleinzuschrumpfen und wegzukuscheln, ohne sie damit zu verharmlosen. 

"Wie Zukunft uns verändern kann … Nur ein Moment und nichts ist, wie es war."

In Terence Malicks Tree of Life schweift der zugleich als Hauptfigur dienende Erzähler in seiner Sinnsuche ab und kehrt zurück zum Beginn allen Seins, womit er die seelischen Narben, die er durch seine unglückliche Kindheit davongetragen hat, in Relation mit der Geschichte des Universums setzt. Ohne suggerieren zu wollen, dass Bibi & Tina – Einfach anders in seiner Gesamtheit schlussendlich "Tree of Life – Familien-Edition" darstellt, darf festgehalten werden, dass Börgerding und Buck etwas ähnliches vollziehen, wenn sie ihre kleine, reiterhofzentrierte Selbstfindungs- und Akzeptanzgeschichte um ein außerirdisches Element ergänzen.

Der Film eröffnet mit kunterbunten, farbgesättigten Weltallbildern, durch die ein Alien mit seinem Raumschiff gleitet, bevor wir Bibi und Tina erblicken, die staunend den Nachthimmel beäugen. Sie fragen einander über ihn aus und rätseln über ihren Platz in der endlosen Weite. Nachdem die Handlung(en) des Films ins Rollen gekommen sind und die besten Freundinnen förmlich überrollt haben, wenden sie erneut, zunächst erschöpft, ihren Blick gen Himmel, ehe sie sich singend gegenseitig anspornen, wieder ihre frohe Neugier auszuleben (und dem Film eine seiner schrulligsten Passagen zu verleihen). Sie wundern sich in Liedform, ob es andere Welten gibt, "und wer sich außer uns Gedanken macht". In den Köpfen der Pferdemädchen kreisen Gedanken, die weit über ihre persönlichen Sorgen hinausgehen, klingen halblaut zwischen den von Außerirdischen fabulierenden Zeilen wie "Sind sie besorgt?" und "Haben sie ‘ne Idee, wie es weitergeht?" doch globale Zukunftsängste an.

Während Bibi und Tina angesichts des sie direkt betreffenden Rummels auf dem Martinshof ihren Kopf wieder aus den Wolken und weltweiten Krisen nehmen, steckt Spooky gedanklich dort fest. Sie sucht den Sinn dort draußen, opfert jegliche Aussicht auf entspannende Ferien auf dem idyllisch-harmonischen Martinshof der Suche nach, Erforschung von und Spekulation über extraterrestrisches Leben. Obwohl sie früh erahnt, dass Freddy sich in sie verschossen hat, und dies auch erwidert (immerhin bezeichnet sie sich erfreut als seine "Gefährtin"), braucht es lange, bis sie den Aussichten einer ganz und gar bodenständigen Liebesgeschichte ernstlich Aufmerksamkeit schenkt.

Pauletta Pollmann spielt die abgedreht gekleidete Spooky mit einer faszinierenden Verschrobenheit: Eloquent, aber kindlich näselnd, streng fokussiert in ihren Zielen, jedoch mit schweifendem Blick, changiert Spooky zwischen kindlicher Unbedarftheit und verkopftem Nerdtum. Allzu schnell will man sie aufgrund solcher Formulierungen wie "Nicht ich hab mir den Namen ausgesucht, der Name hat mich ausgesucht" oder ihrer Alienobsession in die Querdenker-Ecke stellen, allerdings entkräftet sie dergleichen konsequent durch Belesenheit, Begeisterung für wissenschaftliche Fakten und das kritische Hinterfragen der örtlichen Massenhysterie.

Somit wird Spooky, obwohl sie für das Voranschreiten der diversen Handlungsfäden weniger verantwortlich ist als der saukomisch-alberne V. Arscher und die emotional komplexe Disturber, zum Scharnier zwischen zwei entscheidenden Konzepten dieses Films: Sie steht für die erschlagene Fragestellung "Wer sind wir? Woher kommen wir? Sind wir allein?" und die allzu schnell daraus resultierende, fälschliche Mutmaßung, dass individuelles Unbehagen doch im Gesamtbild belanglos sei. Gleichzeitig wird Spooky in den wiederkehrenden Themenkomplex der Selbstakzeptanz und des gegenseitigen Hinnehmens, wie man ist, eingewoben  – und darf sogar die Initiative bei der pointierten, finalen Begegnung des Films übernehmen. Selbstredend frei von Vorverurteilung.

So abgespaced Bibi & Tina – Einfach anders inhaltlich sein kann, ist die große Erdung in seiner Erzähltemperatur und Bildsprache nicht nur eine Möglichkeit zur Abgrenzung von den vier Filmen mit der früheren Besetzung, sowie ein vollauf verinnerlichtes Vorleben seiner Botschaft. Sie gestattet Buck zudem, eine andere Facette seines filmemacherischen Seins auszuleben und somit zweimal authentisch, doch grundverschieden Bibi & Tina seinen Stempel aufzudrücken.

Nach den vier Filmen, die das überdrehte, stolz-feist Dinge ausprobierende Wesen des Rubbeldiekatz- und Asphaltgorillas-Regisseurs zum Ausdruck brachten, steht in Einfach anders die in sich ruhend-urgemütliche "Ja, das is' halt so, guck nich' so verdattert!"-Charakteristik Bucks hinter der Kamera. Während dabei sein Gespür für Ironie etwas seltener durchschimmert, glänzt nun umso mehr sein aus Filmen wie Erst die Arbeit und dann? und Karniggels bekanntes Händchen für Lakonie. 

Ebenso selbstverständlich wie schillernd führt ausgerechnet eine Kartoffelernte-Passage in Einfach anders vor, wie mühelos Buck zwischen Wesenszügen wechselt – womit er als Regisseur die "Du kannst mehreres gleichzeitig sein, und trotzdem 100% du"-Erkenntnis vormacht, die beispielsweise die Rebellin Disturber verinnerlichen muss, um zu erkennen, dass sie sich nicht verrät, wenn sie Freundschaften knüpft: Erst fängt er mit liebevollem Blick für's Detail die banal-simple, urige Form der Kartoffelernte mit Pferd und Pflug ein. Dann lässt er den entadelten Grafen mit breitem Grinsen und quirlig-sprudelnder Stimme ein Loblied auf die Mannigfaltigkeit der Kartoffel singen, womit Falko durchblicken lässt, dass er die langweilige Normkartoffel bedauert und jede Eigenheiten aufweisende Knolle beneidet. Eine inhaltlich schräge Nummer, die Buck zeigt, als sei sie Alltag auf den Feldern Falkensteins, ohne ihr dabei den Witz zu rauben.

Dieser Ansatz, ein quirliges Wesen geerdet zu vermitteln, setzt sich in der Darstellung der Titelheldinnen fort: Hirschberg und Herbig-Matten haben ihre Rollen nun noch stärker verinnerlicht als in der Bibi & Tina-Realserie. Sie spielen im Kinofilm mit weniger Campiness als ihre Vorgängerinnen, und legen sie mit weniger pubertärer Launenhaftigkeit an – ganz so, wie es zu Skript und Regieführung passt. Trotzdem geben Hirschberg und Herbig-Matten Bibi und Tina unbeirrt eine für diese Figuren nahezu unerlässliche Fröhlichkeit und Unbeschwertheit mit, die je nach Situation Facetten dazugewinnt, die ins Freche, Trotzige oder Mitfühlende tendieren. Kuschelwelt-Cartoonfiguren, ins Reale übertragen – eine diffizile schauspielerische Aufgabe, die hier wirkt wie das Leichteste auf der Welt.

Von diesen gewitzt-sympathischen Figuren geschultert, ist Bibi & Tina – Einfach anders eine wundervolle Kinozeit. Trotz seiner klaren Haltung ist er zu keinem Zeitpunkt didaktisch. Er mag auf wunderbare Weise die Werte der Vielfalt, des Zusammenhalts und der Authentizität vorleben, allerdings versprüht er in erster Linie eine einladende, unaufgeregte Atmosphäre: Einfach anders ist der filmgewordene Entspannungsurlaub auf einem kauzigen Reiterhof, auf dem es trotz aller Heile-Welt-Kuschelmentalität dank der einzigartigen Charakterköpfe, die sich dort tummeln, niemals langweilig wird. Einfach anders: Einfach schön.

Bibi & Tina – Einfach anders ist in vielen deutschen Kinos zu sehen.

Samstag, 16. Juli 2022

Men

Harper (Jessie Buckley) braucht dringend eine Auszeit. Ihre Heimatstadt London erinnert sie zu deutlich an das Grauen, das sie kürzlich durchgemacht hat. Also mietet sie sich ein luxuriöses Cottage in der Provinz, um Abstand zu gewinnen. Aber nicht nur, dass Harper weiterhin an die vergangenen Schrecken zuhause erinnert wird. Ihre Lage verschlechtert sich drastisch: Ihr Vermieter Geoffrey (Rory Kinnear) ist unangenehm, ein nackter Wanderer verfolgt sie, ein Geistlicher macht ihr ein schlechtes Gewissen, ein vorlauter Bube beschimpft sie, und die Polizei nimmt ihre Sorgen nicht für voll. Aus einem Dauerfeuer der Unangenehmlichkeiten wird bald ein Strudel des Elends...

Nach dem ebenso spannenden wie feinfühligen Ex_Machina und dem fesselnden, niederschmetternden, komplexen Auslöschung steht für Alex Garland nun Men an. Die Kernaussage steckt bereits im Titel. Die Wurzel allen Übels im Leben Harpers (und nicht nur ihr) ist männlicher Natur. Kein weiterer Interpretationsspielraum vorhanden. Die Kunst in Men ist nicht, wie filigran Garland vorgeht, und wie genau man hinschauen muss, um seine Aussage begreifen zu können. Sondern mit welch voller Wucht er sie vermittelt, ohne dabei monoton zu werden.

Großen Anteil daran, dass Men uns mit Garlands Vorgehensweise nicht von Sekunde eins an erschlägt, sondern auch Spannung erzeugt, indem wir mit Harper mitfiebern, hat ihre Darstellerin: Jessie Buckley, die vor zwei Jahren noch durch Charlie Kaufmans surreal-dramatisches Grauen I'm Thinking Of Ending Things geisterte, stapft nun in einem schneidigen Übergangswettermantel durch Alex Garlands Provinz-Folk-Horror, der ebenfalls surreale Elemente aufweist, sie aber "uriger" ausspielt als Kaufman, der nicht ein unwohles Bauchgefühl erreichen will, sondern den Intellekt zum kreisen bringt.

Buckley gelingt es konsequenterweise, ihre zwei von ihrem Umfeld genervten bis verstörten, emotional mitgenommenen Protagonistinnen individuell zu gestalten. Harper ist erschöpft, wiederholt aus nachvollziehbaren Gründen genervt, aber auch verbissen willens, ihren Urlaub zu genießen, weshalb sie mehrmals versucht, die vorherigen Ereignisse abzuhaken. Es dauert, bis sie Angst zulässt - und die weicht rasch einem Angeekeltsein, bevor Harper einfach nur noch dezent verdattert hinnimmt, Teil dieser Welt zu sein, die es allem Anschein nach auf sie abgesehen hat.

Dadurch, wie Buckley Harpers Reaktionen variiert, bleibt Men bis zum letzten Viertel dynamisch erzählt. Dann wechselt Garland Tonalität und Intensität. Ein Silberstreif an Harpers Horizont ist zuvor die bildhübsch fotografierte, abgeschiedene englische Provinz mit pittoresken Straßenzügen und saftigem Grün, dem Kameramann Rob Hardy eine einladende Unberührtheit zu verleihen versteht, ehe die schaurige Aura durchschimmert und letztlich Überhand gewinnt.

Dass Harper von Erinnerungen an einen sie emotional auslaugenden Mann geplagt wird, moderne wie uralte gesellschaftliche Strukturen ihr das Sicherheitsnetz nehmen, und Garland durch Folk-Horror-Elemente auch die personifizierte Natur auf seine Protagonistin hetzt, wirkt vielleicht zunächst wie ein wahlloser Generalumschlag. Und die Frage drängt sich auf "Was soll das der Diskussion um toxische Maskulinität noch hinzufügen?" Aber genau das ist der springende Punkt, wie gen Schluss klar wird! 

Wir haben bereits unzählige Filme, die mit ihrer Darstellung des Patriarchats Angst, Kummer und Wut erzeugen. Aber nur sehr, sehr wenige Filme lassen uns wie Harper in Men mit einem erschöpften Gesicht auf den grotesken, widerlichen Reigen blicken, den selbstgefällige Männer aufführen, womit sie ihren Menschenschlag am Leben erhalten.

Men macht Ermattung greifbar. Zeigt auf, wieso sich so viele Frauen haben ermüden lassen, weswegen sie einfach nur noch abgestumpft alles aussitzen, statt für sich einzustehen. Das ist nicht gerade der Thrill, den man von einem Horrorfilm erwarten würde. Sondern ein ganz anderes, länger im Kopf bleibendes Gefühl des Unwohlseins.

Men ist ab dem 21. Juli 2022 im Kino zu sehen.

Montag, 11. Juli 2022

Z-O-M-B-I-E-S 3


2018 strahlte der Disney Channel mit der Musicalkomödie Z-O-M-B-I-E-S einen Film aus, der mein Herz im Sturm erobert hat. In einem Farbschema irgendwo zwischen Pastell-Postkartenmotiv und Kaugummi-Verpackung gehalten und mit einer inszenatorischen Energie versehen, die einem Zucker-und-Koffeinschock gleicht, erzählt der Disney Channel Original Movie von der unmöglichen, gesellschaftlich verpönten Liebe zwischen einem menschlichen Cheerleader-Mädchen und einem von einer Football-Karriere träumenden Zombie-Jungen. Absurd, schrill, energiegeladen und superdeutlich in seiner Botschaft ist Z-O-M-B-I-E-S das uneheliche Kind zwischen der campigen Unschuld der High School Musical-Trilogie und dem feistem Fantasy-Camp der Descendants-Reihe. Herrlich.

2020 wurde der Film fortgeführt. Noch lauter. Noch bunter. Noch durchgedrehter. Und erstmals in der Geschichte des Disney Channels mit anamorphem Objektiv im kinoreifen Bildformat 2.39:1 gedreht. Z-O-M-B-I-E-S 2 wurde, wie schon sein Vorgänger, zu einem meiner liebsten Filme seines Jahrgangs. Meine Erwartungen auf Teil drei waren entsprechend hoch.

Hinsichtlich der Ambitionen zielt Z-O-M-B-I-E-S 3 nach oben. Es ist der Film mit dem höchsten Budget innerhalb der Reihe, mit gerüchteweise 20 Millionen Dollar im Rücken, und das sieht man ihm auch zu großen Teilen an. Weiträumigere Schauplätze. Mehr Schauplätze. Die Figuren machen viel mehr Make-up-Veränderungen und Kostümwechsel durch. Es gibt viel mehr Figuren, Punkt. Und Mensch, haut Regisseur Paul Hoen mit (gewollt) knallig-quietschigen Special Effects um sich!

Kein Wunder, dass Z-O-M-B-I-E-S 3 einen auf High School Musical 3: Senior Year macht und die Filmreihe in ein anderes Medium transportiert: Nach jeweils zwei TV-Premieren geht es dieses Mal nicht rüber ins Kino, sondern zu Disney+ (selbst wenn Z-O-M-B-I-E-S 3 weiterhin als Disney Channel Original Movie gelistet wird). Doch qualitativ geht Z-O-M-B-I-E-S 3 für mich leider nicht diesen Weg der Steigerung...

Alien-Invasion
Für Addison (Meg Donnelly) und Zed (Milo Manheim) stehen große Änderungen bevor: Ihr letztes Schuljahr endet bald, und sollte Zed das heiß ersehnte Sport-Stipendium erhalten, so kann er seiner Freundin auf's College folgen — und für alle Nicht-Menschen die Türen zur höheren Bildung aufsprengen. Doch der erhoffte, geordnete Abschied aus Seabrook gestaltet sich für das Grenzen überschreitende Traumpaar plötzlich viel chaotischer als gedacht. Denn die Ankunft von blauhaarigen Aliens stürzt das Städtchen in eine neuen Welle der Intoleranz: Menschen, Zombies und Werwölfe reiben sich gleichermaßen an der Ankunft dieser Neulinge. Nur die weiterhin ihre Identität hinterfragende Addison reagiert offenherzig...

Seabrook lernt einfach nicht dazu. Erst stören sich die Menschen an Zombies, die aus dem Ghetto rauswollen, dann ärgern sich Menschen und Zombies gleichermaßen über die Ankunft von Werwölfen, die in Wahrheit zuerst dieses Land besiedelt haben, dann jedoch von den Menschen in Reservate gescheucht wurden. Und jetzt raufen sich Menschen, Zombies und Werwölfe die Haare, weil Aliens in Seabrook aufschlagen. Das ist wenig originell, hat aber eine löbliche Methode, denn nicht nur Seabrook muss andauernd dazulernen...

Doch in der Umsetzung holpert diese Methode. Die Drehbuchautoren David Light & Joseph Raso predigen mit den Aliens erneut Toleranz, Verständnis und den Willen, sich in die Schuhe seines Gegenübers zu versetzen. Aber der Irrsinn ist futsch, dass Seabrook zugleich mit Hingabe und Irreverenz endlich die Augen über ein realweltlich überdeutlich gemeintes Pendant geöffnet bekommt. Es ist dieses Mal ein "Ja, hier, deutet es, wie ihr wollt, passt schon"-Rundumschlag. 

Vor allem aber gerät der "Wir führen schon wieder neue Figuren ein!"-Ansatz ins Holpern, weil sich die Filmschaffenden in der Umsetzung dabei übernehmen, all ihren Figuren gerecht zu werden.

Zu viel des Guten, zu wenig des Irren
Die Aliens platzen förmlich in Zeds und Addisons Vorstellungen dessen, wie ihr Schulabgang verlaufen wird, woraufhin sämtliche Storyentwicklungen massiv ausgebremst werden. Obwohl bereits zahlreiche Wege eingeschlagen wurden, hechten Light und Raso erst im letzten Drittel eilig durch die Charakterentwicklungen und Handlungsbögen.

Das bedeutet: Bei Z-O-M-B-I-E-S 3 drehen die Reifen auf der Stelle, bis es qualmt, und dann knallt der Film im Abschlussakt durch Konflikte, Herzschmerz, Freude, Enthüllungen und Irrwitz, um irgendwie die Story abzurunden. Ganz ohne Gefühl dafür, die ehrlichen Momente so atmen zu lassen, dass es den Figuren emotional gerecht wird, und nur mit einem Bruchteil der Spaßigkeit, die diese Reihe als Camp-Fest so genüsslich macht. Eine Reduzierung der Figuren, oder eine längere Laufzeit, hätte dem Film gut getan. Oder schlicht eine bessere Verteilung der großen Storymomente, denn während sich in der ersten Hälfte kaum etwas tut, aber der Dialogwitz, die Situationskomik und die herrlich-stolze Absurdität der Vorgänger wenigstens ansatzweise erreicht werden, überstürzen sich in der zweiten Hälfte zunehmend die Ereignisse, doch der Entertainment-Faktor bleibt auf der Strecke.

Dessen ungeachtet gelingt es Light & Raso durchaus, ihre Welt und ihre Figuren konsequent weiterzuspinnen und dabei eine hübsche Balance aus unerwarteten Wendungen und "Es kommt, wie es kommen musste" zu finden. Die Ideen sind da, aber sie hätten nochmal schön durchgeknetet werden müssen, bevor der Teig im Ofen landete. Oder so in der Art, wer wäre ich, in einer Kritik zu Z-O-M-B-I-E-S 3 meine Metaphern konsequent durchzudenken?

Hoen kann seine inszenatorische Irreverenz trotz Höher-schneller-weiter-Mentalität und Alien-Zusatz nicht erneut steigern, kreiert aber ein paar hübsch-quirlige Randmomente — Seabrook-High-Maskottchen Shrimpy ist ein echter Szenendieb! Und wenn Zed und Addison mit jugendlichem "Uns gehört die Welt"-Leichtsinn froh durch zig Gefahrensituationen tänzeln, komme ich nicht umher, hoch amüsiert und mit anerkennendem Grinsen im Gesicht mit der Zunge zu schnalzen.

Trotzdem wird der Film gen Schluss inszenatorisch bleiern. Wirklich paradox: Erst dreht der Film bildlich und klanglich frei, aber es passiert wenig. Dann überschlägt sich der Inhalt, aber der audiovisuellen Komponente geht die Puste aus. Das große, feierliche Finale mit Rückgriffen auf frühere Highlightszenen wirkt sogar absonderlich beengt in Szene gesetzt. Schade, denn die Szene hätte bei mir als Fan der Vorgänger allein schon aufgrund ihres Konzepts voll einschlagen müssen, statt mir nur ein sanftes Strahlen abzuringen.

Musik, Vielfalt und ein Fazit
An den einmal mehr eingängigen, positiv-verrückten Songs (mit immer größer werdenden Elektro-Einflüssen) können meine Kritikpunkte aber nicht rütteln. Ebenso wenig am Cast: Meg Donnelly und Milo Manheim sind geradezu mit ihren Figuren verschmolzen und glühen vor Spielfreude und Charisma, insbesondere, wenn sie die absurden tonalen Turnübungen meistern dürfen, die dieser Film von ihnen abverlangt. In Sekundenschnelle switchen sie zwischen ironischer Distanz, kindlicher Naivität, Campiness-Gravitas und herzlich-ehrlicher Amüsiertheit, und dennoch wirken ihre Figuren kohärent, nicht etwa wie Fähnchen im Wind.

Auch der altbewährte Neben-Cast scheint sich, dem Mangel an prägnanten Momenten, weiterhin wohl in seinen Rollen zu fühlen und hilft dabei, Z-O-M-B-I-E-S 3 durchweg in seiner eigenen, wirr-irren Welt zu verankern, Pacing-Probleme hin oder her. Unter den Alien-Neuzugängen wiederum bekommt High School Musical: Das Musical: Die Serie-Alumni Matt Cornett fast gar nichts von Belang zu tun, obwohl er einen beachtlichen Anteil der Laufzeit einnimmt, womit wir wieder beim "Zu viele Figuren, die irgendwie da sein müssen, aber nicht zur Geltung kommen"-Problem wären. 

Kyra Tantao als A-Li, die auf der Erde ihre aufbrausende und ungeduldige Seite an sich entdeckt, und Terry Hu als A-Spen, die erste nicht-binäre Figur in einem Disney Channel Original Movie, dürfen dem Film derweil etwas stärker ihre Stempel aufdrücken. Wie bei A-Spen Begeisterungsfähigkeit und Begriffsstutzigkeit gewaltig aufeinanderprallen, und Hu dabei ein stets zuvorkommendes, fast schon entschuldigendes Lächeln aufsetzt, hat bei mir für die größten Lacher abseits Shrimpy, Zed und Addison gesorgt.

Somit kommen wir zu meinem ernüchterten, dennoch versöhnlichen Fazit: Z-O-M-B-I-E-S 3 ist weder der Film, den ich wollte, noch der, den ich erhofft habe. Und selbst wenn er mit seinem Glitzer, seinen grellen Effekten und seiner schieren, fast aus den Nähten eines Disney Channel Original Movie platzenden Größe definitiv für viel Razzle Dazzle sorgt. So sorge ich mich, dass der Film aufgrund seiner Struktur, dem gedrosselten Witz und dem überhasteten Jonglieren mit all seinen vielen Figuren, schneller verblassen wird als seine Vorgänger. 

Und doch ist es ein lauter, schriller, stolzer, lieber, gesund-beknackter Film, der sich redlich abrackert, seine Vorgänger mit einem großen Finale zu feiern. Kurzweil ist gegeben, und ich kann Light, Raso und Hoen einfach nicht böse für diesen tolldreisten Versuch sein, sich zu übertreffen. Ein Mundwinkel hängt betrübt runter, weil die Drei sich übernehmen. Aber der andere schmunzelt.

Z-O-M-B-I-E-S 3 ist ab dem 15. Juli 2022 auf Disney+ zu sehen.