Samstag, 1. Juli 2023

Crater


Disney hat einen seiner schönsten Realfilme der jüngeren Vergangenheit offline genommen. Und das nur eineinhalb Monate nach seiner Veröffentlichung. Es ist ärgerlich, traurig und führt vor, weshalb die aktuelle Streaming-Strategie mehrerer Hollywood-Studios unverschämt ist.

Und es ist der Grund, weswegen ich diesen Artikel schreibe. Denn ich hatte ungeheuerliches Glück: Crater erschien am 12. Mai als Disney+-Exklusivfilm und landete prompt auf meiner Watchlist. Doch aufgrund auslaufender Veröffentlichungsfenster anderer Produktionen in diversen Mediatheken habe ich erst einmal andere Filme priorisiert. So weit, so schlüssig: Wenn ich weiß, dass mehrere Filme, die mich reizen, nur noch kurze Zeit abrufbar sind, schaue ich die zuerst. Der für Disney+ produzierte Crater wird ja jederzeit abrufbar sein... So dachte ich.

Als ich dazu kam, Crater zu schauen, war ich hingerissen und hatte vor, ihn bei der nächstbesten Gelegenheit weiterzuempfehlen. Allerspätestens in meinen Jahrescharts 2023, also irgendwann im Herbst 2024 oder so. Hetzt mich nicht, diese Bestenlisten mache ich nur zum Spaß, warum sollte ich sie mit aller Gewalt in den Dezember hebeln? Zeit ist eine komische Sache, Leute.

Gar nicht komisch ist dagegen, dass ich wenige Tage nach dem Sehgenuss von Crater via Twitter erfahren muss, dass Disney+ den Film offline genommen hat. Ohne jede Vorwarnung und ohne derzeit bekanntes Veröffentlichungsdatum auf einer anderen Plattform. Möglich, dass er irgendwann als digitaler Leih- und Kauftitel angeboten wird. Oder im Fernsehen läuft. Oder nichts dergleichen. 

Um also zu unterstreichen, was Disney+ uns genommen hat, und vielleicht dabei zu helfen, genug Druck zu erzeugen, damit Crater wieder online geht, habe ich mich an die Tastatur gesetzt. Auf dass er sich in euren Hinterköpfen festsetzt und ihr euch auf ihn stürzt, solltet ihr ihn im Frühling 2025 beim Zappen auf dem Disney Channel entdecken. Oder sowas.

Crater: Darum geht es

In einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit ausgebreitet: Die Erde wird weiterhin bewohnt, doch es gibt zudem eine weit entfernte, idyllische Kolonie namens Omega.  Außerdem wurde der Mond als Lebensraum erschlossen. Die Mondkolonie dient vornehmlich der Ressourcengewinnung, ist trist und Arbeitsverträge auf dem Mond sind voller ausbeuterischer Klauseln, weshalb alle Mond-Bewohner*innen nur einen Traum haben: Sie wollen ihn wieder verlassen! Bloß Caleb (Isaiah Russell-Bailey) hat anderes im Sinn. Er ist kürzlich Vollwaise geworden und soll daher zu einer Pflegefamilie auf Omega gebracht werden.

Das bedeutet jedoch, dass er für 75 Jahre in einen Kryoschlaf versetzt wird. Und genau daher sträubt er sich gegen die Aussicht, den Mond zu verlassen. Das würde nämlich bedeuten, dass er seine Freunde wohl nie wieder sehen wird. Oder erst, wenn sie dank des paradoxen Verlaufs der Zeit deutlich älter sind als er. Also raufen sich Dylan (Billy Barratt), der empfindsame Anführer der Clique, der fürsorgliche sowie abergläubische Borney (Orson Hong) sowie der ruhige und herzkranke Marcus (Thomas Boyce) zusammen: Sie wollen ein letztes, gemeinsames Abenteuer erleben und einen besonderen Krater besuchen, von dem Calebs Vater schwärmte. 

Zu diesem Zweck müssen die Freunde ein Gefährt stehlen. Und das gelingt ihnen nur, wenn sie die kürzlich auf den Mond gezogene Addison (Mckenna Grace) überreden, die als Tochter eines Technikers über die nötigen Sicherheitscodes verfügt...

Ruhige Abenteuer auf dem Mond

John Griffins Crater-Drehbuch geisterte seit Mitte der 2010er-Jahre durch Hollywood und galt als viel versprechendes Projekt, das auf die richtigen Verantwortlichen wartet, um umgesetzt zu werden. Nach kurzzeitiger Entwicklung bei 20th Century Fox (mittlerweile: 20th Century Studios) als Regie-Vehikel für Free Guy-Macher Shawn Levy landete es letztlich bei den Walt Disney Studios, wo Crater als Disney+-Exklusivfilm angedacht wurde.

Die Regie übernahm schlussendlich Kyle Patrick Alvarez, der unter anderem drei Episoden der hervorragenden ersten Tote Mädchen lügen nicht-Staffel inszenierte. Und obwohl Crater nicht derart niederschmetternde, drastische Kost ist wie das auch hierzulande besser unter dem Originaltitel 13 Reasons Why bekannte Suizid-Jugenddrama, ist dem Film diese Vorerfahrung Alvarez' anzumerken.

Denn was sich zunächst anschickt, ein Mond-Roadmovie-Abenteuer mit einer Kinder-Chaotengruppe zu werden, das bei Die Goonies abschaut, enthüllt sich schnell als wesentlich sanfter, introspektiver und melancholischer. Die eingeschworenen Freunde und ihre neue Bekannte bemühen sich auf ihrer Reise, unbeschwerte Spielereien loszutreten. Aber immer wieder wird ihr Streben nach Spaß und Freude unterbrochen. Zuweilen durch die Gefahren ihrer Umgebung, aber viel häufiger dadurch, dass sich beim Rumblödeln und in Gesprächen die seelischen Narben dieser Jugendlichen offenbaren.

Denn die Mondjungs sind das Produkt eines kaputten Systems: In der Schule erhalten sie keine den Geist fördernde Allgemeinbildung, sondern werden schlicht zu effizienten, unkritischen Arbeitskräften erzogen. Zu Arbeitskräften, die sich für den Luxus anderer kaputtackern und ihren Kindern zwangsweise vor allem Schwermut und Zorn vermachen, anstelle einer besseren Zukunft. Addison derweil ist voller Wehmut, weil sie die Erde verlassen musste und in ihren jungen Jahren bereits viel Zurückweisung zu verarbeiten hatte.

John Griffin lässt die dystopischen Abläufe auf dem Mond vornehmlich im Hintergrund, allerdings wirken sie sich konsequent auf das Seelenleben der jungen Hauptfiguren aus. Es ist eine unmissverständliche, dennoch nie klobige Herangehensweise, um Sozialkritik zu üben und zugleich die Figuren mit (tristem, Empathie weckendem) Leben zu füllen. Alvarez setzt dies feinfühlig sowie melancholisch um, ohne durch diesen Kummer die Freude zu übertönen, die sich die Figuren durch ihr Abenteuer wenigstens phasenweise erkämpfen. Crater ist somit ein Film, der überzeugend den Wert der kleinen Funken Glück, Hoffnung und Zusammenhalt in einem sorgenreichen Dasein ausbreitet, ohne ein filmisches "Wenigstens hattest du etwas Freude, also beschwer dich nicht!"-Opiat zu werden.

Dass Crater nach einer kurzen Introsequenz eine Rückblende und dann eine Rückblende innerhalb einer Rückblende aufweist, noch bevor Alvarez die inszenatorische Sprache des Films komplett skizzieren kann, sorgt für einen etwas holprigen Start. Und eine Budgetspritze hätte den digitalen Tricks, und somit der Immersion, die von der Filmwelt ausgeht, durchaus gut getan. Aber das ändert nichts daran, dass sich dieses Sci-Fi-Abenteuer dank des nachdenklichen Skripts, der glaubhaften Performances des authentisch interagierenden Casts und der besonnenen Inszenierung zu einer einfühlsamen Erzählung entwickelt.

Genauer gesagt zu einer traurig-schönen Erzählung über Ungerechtigkeit, die Flecken, die bereits junge Menschen auf ihrer Seele tragen, Verlust und Abschied. Das Finale hat mich mit voller Tränen zurückgelassen und ich hoffe sehr, dass auch ihr die Gelegenheit erhalten werdet, Crater zu gucken.

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