Mittwoch, 22. April 2015

Avengers: Age of Ultron


Es könnte so einfach sein, zu erläutern, was die Marvel Studios und Joss Whedon mit Avengers: Age of Ultron bewerkstelligt haben. Eine kurze und knappe Gegenüberstellung genügt: Age of Ultron verhält sich zu Marvel's The Avengers wie Pirates of the Caribbean: Am Ende der Welt zu Fluch der Karibik. Damit habe ich alles gesagt. Viel Spaß im Kino! Adieu!

Na gut. Ganz so leicht ist es wohl leider nicht. Schließlich ist Am Ende der Welt hinsichtlich seiner Rezeptionsgeschichte ein ziemlich schwieriger Film. Einerseits steht er mit einem Einspielergebnis von 963,4 Millionen Dollar deutlich stärker da als Käpt'n Jack Sparrows 658,3 Millionen Dollar schweres erstes Leinwandabenteuer. Andererseits ist der dritte Teil der Piratensaga mit einem IMDb-Durchschnittswert von 7,1 Punkten ein gutes Stück unpopulärer als das mit 8,1 Punkten bewertete Original. Und die professionellen Rezensionen erst: Während Teil eins nahezu einhellig umjubelt wurde, spaltete der dritte Teil die Gemüter: Harsche Kritik, vollkommene Gleichgültigkeit und verhaltener Positivismus hielten sich nach Kinostart nahezu die Waage. Dann wiederum gibt es jene eloquente Minderheit, die Am Ende der Welt energisch über den grünen Klee lobt. Wie etwa Filmkritiker Mark Sinker, der Gore Verbinskis bislang kostspieligste Regiearbeit in die renommierte Sight & Sound-Rangliste gehievt hat, oder Filmprofessor Henry Jenkins. Dieser sieht die über den Rand der Welt hinausführende Reise als Höhepunkt der ursprünglichen Trilogie an und feiert sie als transmediales Entertainment in Höchstform.

Angesichts einer derart schizophrenen Rezeptionsgeschichte muss ich meinen "Age of Ultron ist wie Am Ende der Welt"-Vergleich wohl genauer erläutern ... Zunächst ist mein Vergleich keineswegs als qualitative Einschätzung beabsichtigt, laut der beide Werke gleich gut sind. Er ist eher als persönlich gefärbte Zeugenaussage gemeint. Denn zwischen den beiden Filmen bestehen gewaltige Parallelen. Sie sind eng verwandt hinsichtlich ihrer Art des Geschichtenerzählens und ihres Tonfalls. Und sie gleichen sich dahingehend, wie sie sich vom Erstling (hier gemeint: Fluch der Karibik und Marvel's The Avengers) entfernen und sogar in ihrer Optik haben sie vergleichbare Ansätze. 


Um das Pferd (den Roboter? den Windjammer?) von hinten aufzuzäumen: Am Ende der Welt und Age of Ultron teilen sich keine Schauplätze. Allerdings teilen sie die Mentalität, im Gegensatz zum jeweiligen Original Orte zu besuchen, die in ihrem Genre weniger naheliegend sind. Fluch der Karibik ist ein Piratenfilm, der in der Karibik spielt, inklusive Schatzhöhle, weißem Sandstrand und einer historisch weitestgehend akkuraten Hafenstadt. Der Endkampf in Avengers derweil spielt, wie es sich für einen Superheldenfilm wohl gehört, in Manhattan, und auch der militaristische Helicarrier ist ebenso wie das S.H.I.E.L.D.-Quartier kein Schauplatz mit völlig ungewohnter Ausstrahlung. Am Ende der Welt unterdessen führt unsere Karibik-Piraten unter anderem in einen versifften Hafen in Singapur, quer durchs ewige Eis, ins Reich der Toten und in eine Stadt, die aus zerstörten Segelschiffen erbaut wurde. Thematisch und atmosphärisch alles angebracht für ein Fantasy-Piratenepos, trotzdem ist es weit, weit davon entfernt, generisch zu sein. Age of Ultron geht nicht ganz derart verschrobene Wege wie das von Ted Elliott und Terry Rossio erdachte, rumgetränkte Abenteuer. Dessen ungeachtet erhält das neue Superhelden-Aufeinandertreffen sehr viel seines Flairs dadurch, dass Joss Whedon nicht stets die für ein US-Superheldenspektakel offensichtlichsten Orte besucht.

Verstärkend kommt hinzu, dass Whedon und Guardians of the Galaxy-Kameramann Ben Davis selbst filmisch bereits ausgeloteten Schauplätzen wie Johannesburg etwas Frisches, Ungewöhnliches abringen: Sie filmen die südafrikanische Metropole nicht wie District 9-Macher Neill Blomkamp in allem Detailreichtum ab, sondern fangen Johannesburg (und sämtliche weiteren Kampfplätze) expressionistisch ein. Mit kräftigen, teils anaturalistischen Farben und starker Linienbetonung distanzieren sie die Hintergründe von Avengers: Age of Ultron zumindest ein Stück weit unserer Realität. Sie werden abstrahiert, um ein komplexes Spiel mit der Handlung und dem Gemüt der Figuren einzugehen, ohne aber die Avengers je völlig unserer Welt zu entreißen und zu einer kosmischen Comicheft-Chaostruppe wie die Guardians of the Galaxy zu formen. Die Marvel Studios erheben dank Whedons Inszenierung, Davis' Lichtsetzung und der subtil-außergewöhnlichen Produktionsgestaltung von Charles Wood, Ray Chan und Domenico Sica die Avengers-Geschichte stattdessen nach langem Warten zu einer Mythologie. Genauer gesagt zu einer nerdig-verqueren Mythologie, die ihre (mehr und mehr ins Verborgene kehrenden) Wurzeln in unserem Alltag hat.

Womit sich die nächsten entscheidenden Parallelen zwischen Am Ende der Welt und Age of Ultron aufdrängen. Denn beide Filme bieten an der äußersten Oberfläche eskapistische Unterhaltung im Stile des jeweiligen Originalfilms – bloß um ein Vielfaches pompöser (sowohl im Hinblick auf die Laufzeit als auch hinsichtlich des Tumults in den Actionszenen) und dramatischer: Es steht mehr auf dem Spiel und es geht mehr zu Bruch! Sobald man sich als Betrachter aber nicht einfach nur von den überwältigenden Bildern berieseln lässt, eröffnet sich eine Narrative, die gänzlich neue Horizonte eröffnet als die ursprünglichen Produktionen. Fluch der Karibik ist hauptsächlich daran interessiert, ein Swashbuckler mit launigem, übernatürlichem Element zu sein. Und Marvel's The Avengers verlässt sich (zu äußerst vergnüglich-mitreißenden Ergebnissen) auf den "Wow, viele coole Superhelden müssen an einem Strang ziehen!"-Faktor.

Joss Whedons zweite Marvel-Mission hingegen schert sich, genauso wie Verbinskis 300-Millionen-Dollar-Mammutproduktion, kaum mehr um Einsteigerfreundlichkeit und lässt zudem viele der im Popcornkino üblichen Stützen fallen. Beide Filme setzen darauf, dass sich Kinogänger entweder gänzlich ohne Widerrede auf eine wilde Reise mitnehmen lassen oder dass sie genau der Erzählung folgen. Klassisch-offensichtliche Plot-Exposition und die ausführliche, unmissverständliche Erläuterung sämtlicher Spielregeln der jeweiligen Filmuniversen werden dagegen ausgelassen. Gelegenheitsnörgler und Zuschauer, die zwar gewisse Ansprüche an den Plot stellen, aber angesichts der immensen Materialschlachten nicht jedes minutiöses Detail aufsaugen wollen, lassen Am Ende der Welt und Age of Ultron also mit einer selbstbewussten Attitüde außen vor. Entweder betrachtet man die Filme als cineastisches Feuerwerk oder als ausgefeilte Mythen mit opernhafter Tragweite und komplexen Mechaniken, die im Hintergrund ablaufen und so dem simplen Grundplot zusätzliche Dimensionen verleihen. Ein halbherziges "Ein bisschen Story, ein wenig Krawall!" ist da als Betrachtungsweise nicht vorgesehen.


In weiser Voraussicht gestaltet Joss Whedon den zentralen, stets vorantreibenden Plot von Avengers: Age of Ultron simpel genug, damit er in seiner rudimentärsten Ausführung ganz leicht verfolgt werden kann: Die problemfreie Zeit der Avengers nimmt ein jähes Ende, als Tony Stark eine Künstliche Intelligenz namens Ultron erschafft, die den Begriff 'Weltfrieden' sehr radikal interpretiert und daher dringend gestoppt werden muss. Aber ganz oberflächlich betrachtet handelt Am Ende der Welt ja auch nur davon, dass der Ära der Piraterie ein brutales Ende droht, weshalb die berüchtigsten aller Piraten vereint werden müssen, ehe sie sich ihren extrem fähigen Widersachern stellen. Und trotzdem finden sich zahllose professionelle Kritiken, laut denen das Epos "schwer verständlich", "verwirrend", "überreizend und kompliziert" oder schlicht undurchschaubar "kopflastig" sei. Was auch daran liegt, dass jede der Figuren ihre eigene geheime Agenda hat und eine eigene Hintergrundgeschichte mitbringt, deren Verständnis für den groben Gesamtüberblick kaum von Bedeutung ist, dafür umso mehr Relevanz hat, möchte man begreifen, wie die zahllosen Zahnräder dieses verflochtenen Handlungskonstrukts ineinander greifen.

Avengers: Age of Ultron ist da kaum anders. Wer bei diesem mit überragenden Effekten bespickten filmischen Ritt durch eine faszinierende Comic-Mythologie nicht nur die spektakuläre, abwechslungsreiche Action bestaunen und über die raffinierte Dialog- und Situationskomik lachen will, bekommt ein minutiös ausgearbeitetes Geflecht aus Charaktermotivationen und innerhalb des Filmkosmos geltenden Legenden geboten. Bei dieser Bandbreite an Figuren, Orten, Artefakten und Ereignissen den Überblick über sämtliche Zusammenhänge zu bewahren ist im Anbetracht der umwerfenden Schauwerte, des zügigen Erzähltempos und der niedrigen Anzahl an "Erklärpausen" nicht das Einfachste in der jüngeren Popcorn-Kinogeschichte. Unnötig verschachtelt ist Age of Ultron dank des zielsicheren Storytellings aber auch nicht. Dieses Crossover ist bloß reich an Elementen, die das Erlebnis bereichern. Umso faszinierender, dass der Film bei komplett zurückgelehnter Zuschauerhaltung problemlos funktioniert. Noch erstaunlicher, und reizvoller, ist aber das Seherlebnis, wenn man sich in Gänze auf diesen durchgeknallten Mythos mit einem unvergleichlichen Helden-Quartett, einer beängstigend-charismatischen Killer-Intelligenz mit Charakterschwächen sowie einem übernatürlichen Zwillings-Duo einlässt. Denn diese energische, selbstbewusste Maschine von einem Film läuft wie geschmiert! Sämtliche Elemente beeinflussen andere Aspekte des Films, selbst das Kostüm- und Requisitendesign dient dazu, Lücken innerhalb des 'Marvel Cinematic Universe' zu schließen. Und wirklich jeder Avenger steht mit seinen Teammitgliedern auf einer Augenhöhe, was die charakterlichen Feinheiten angeht. Ebenso ist die Detailliebe, mit der Whedon und das Ensemble den Kampfstil, das Humorverständnis und das Verhalten der Figuren in dramatischen Momenten voneinander abgrenzen.

Hinzu kommen die beneidenswerte Selbstverständlichkeit, mit der Avengers: Age of Ultron sein nerdiges Anderssein innerhalb der Blockbuster-Welt nach außen kehrt, und die Art wie grundehrlich Whedon den dramatischeren Tonfall in die Erzählung einwebt, ohne je den Spaßfaktor zu gefährden. Und nicht zuletzt daher lässt sich der elfte 'Marvel Cinematic Universe'-Film als das bislang seltsamste Biest innerhalb seines Rasters bezeichnen. Es ist zugleich das imposanteste und facettenreichste. Und ich gönne ihm in jeglicher Hinsicht einen massiven Erfolg. Den Schneid, in diesem Genre und bei exorbitanten Produktionskosten darauf zu verzichten, jedes einzelne Publikumsmitglied so fest anzuschnallen, dass es auf keinen Fall verloren geht, muss man erst einmal haben. Erst recht, wenn sowohl ein atmosphärisch dichtes, weit verzweigtes Filmuniversum gestaltet wird und dann obendrein die Geschichte ebenso elegant wie tolldreist eine ganze Tonleiter an Stimmungen durchläuft.

Nicht zu vergessen: Dank virtuoser Regieführung, einem grandiosen Ensemble, spaßig-abwechslungsreicher Action die ausnahmslos von Relevanz ist und feschen Sprüchen bleibt Avengers: Age of Ultron darüber hinaus verdammt unterhaltsam. Aber, wow, mit seiner Mischung aus opernhafter Seele und exzentrischen Verwicklungen ist dieser Film auch äußerst verschroben. Glücklicherweise hat Marvel sein Publikum fest in der Hand. Vielleicht erhält Age of Ultron daher nun all die Anerkennung, die ich schon Am Ende der Welt gegönnt habe?

1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für diese Review. Grundsätzlich lese ich mir vorab all deine Blockbuster-Reviews
durch. Es kann auch durchaus vorkommen, dass aufgrund deiner Meinung mal ein Film für mich steht oder fällt.

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