Samstag, 26. Dezember 2015

Men & Chicken


Na, das hat aber gedauert: Zehn Jahre ließ Anders Thomas Jensen die Filmwelt auf seine neue Regiearbeit warten. Jetzt meldet sich der Däne, der schon Blinkende Lichter, Dänische Delikatessen und Adams Äpfel auf die Leinwand brachte, endlich zurück – und bleibt sich dabei nach all den Jahren in einem nicht unerheblichen Punkt treu. Wieder einmal spielt Mads Mikkelsen eine zentrale Rolle, und das, obwohl der dänische Schauspielgott seit Jensens Regiearbeit aus dem Jahr 2005 einen gehörigen Karriereschub erlebte und neuen internationalen Ruhm genießt. Von Eitelkeit aber keine Spur: Mikkelsen unterwirft sich hier völlig der absurd-boshaften und zugleich aufgeweckten Geschichte, die zwar nicht unbedingt als Jensens mitreißendste Skriptarbeit in Erinnerung bleiben wird, aber sehr wohl eine ganz eigene Faszination entwickelt ...
Die Brüder Gabriel (David Denick) und Elias (Mads Mikkelsen) könnten unterschiedlicher nicht sein – abgesehen von einer mehr (bei Gabriel) oder minder (bei Elias) erfolgreich wegoperierten Hasenscharte. Während der schüchterne, gebildete Evolutionspsychologe und studierte Philosoph Gabriel halbwegs sicher im Leben steht und empathisch ist, mangelt es Elias an Geduld, Zurückhaltung und Bücherwissen. Dass er zudem wie besessen davon ist, mehrmals täglich zu masturbieren, und sein fehlendes Glück bei Frauen mit Prahlerei kompensiert, macht Elias für Gabriel endgültig zu einem anstrengenden Verwandten.
Als die Brüder via Videobotschaft von ihrem Vater erfahren, dass sie nur adoptiert sind und verschiedene Mütter haben, machen sie sich trotzdem gemeinsam auf, ihren leiblichen Vater kennenzulernen. Dieser soll längst biblisches Alter erreicht haben und ein berüchtigter Wissenschaftler sein, der sich auf die schwach besiedelte Insel Ork zurückgezogen hat. Auf der kargen Insel angelangt, bricht eine Überraschung auf Elias und Gabriel herein: Sie haben drei Halbbrüder. Gregor (Nikolaj Lie Kaas), Franz (Søren Malling) und Josef (Nicolas Bro) leben von der restlichen Bevölkerung abgekapselt, sehen schräg aus und haben extreme Launen. Aber wegen seiner Sehnsucht, seinen leiblichen Vater zu treffen, lässt sich Elias nicht verscheuchen …
Das Kinopublikum ist gut beraten, es Elias gleichzutun und dem schweren Einstand zum Trotz eine kleine Portion Geduld mitzubringen. Denn ehe sich Men & Chicken voll entfaltet, mutet diese genussvoll-absonderliche Erwachsenenfabel wie eine stumpfsinnige Hinterwäldlerkomödie an, in der Gabriel als einzig zurechnungsfähige Figur einen dauerwichsenden Bruder, verquere Inselbewohner und seine neu entdeckte, schräge Familie zu erdulden hat. Zwar verkürzt geschliffener Dialogwitz die nicht ganz ausgefeilten ersten Minuten (Elias' Umgang mit seinem Date setzt Maßstäbe für spätere Wortwechsel im Film), dennoch gibt sich Anders Thomas Jensen zum Einstieg von einer arg rüpelnden Humorseite. Nachdem Gabriel und Elias aber eine erste Nacht im gewaltigen, abgeranzten Ex-Sanatorium verbracht haben, das ihre Halbbrüder Heimat nennen (und als Tennisplatz, Käserei sowie Bauernhof nutzen), kommt Men & Chicken aber endlich in Gang.
Nicht, dass diese obskure Geschichte mit einem Schlag zügiger erzählt werden würde – sehr wohl aber mit viel mehr Einfühlungsvermögen. Wobei das vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist. Viel mehr lebt sich Jensen nach der ersten Übernachtung bei der irren Sippschaft allmählich in deren Gepflogenheiten ein. Und so gewinnt Men & Chicken einerseits an Dimension, was die Charakterzeichnung der drei Ork-Originale anbelangt. Mit Treuseligkeit und Neugierde, umfassendem Bücherwissen und unerwarteter Sportlichkeit oder mit einer tief, tief unter der herrischen Oberfläche versteckten Verletzlichkeit entwickelt jeder im dysfunktionalen Trio einen eigenen Charakter mit reizvollen Widerhaken. Gleichwohl geht mit der voranschreitenden Laufzeit eine wachsende Anzahl an grotesken, teils abscheulichen Details einher. Dass sich die Brüder mit Nudelhölzern und ausgestopften Tieren verprügeln, ist nämlich noch das Normalste an ihnen.
Jensen balanciert seine Zuneigung zu den Außenseitern und seine Faszination fürs Makabere sowie Schräge aus, indem er seiner pechschwarzen, vor Ideen platzenden, gemächlich erzählten Geschichte eine verstört-verträumte Atmosphäre verleiht. Dazu tragen überzeichnete Situationskomik und die unwirkliche Musik ebenso bei wie die abstrus-assoziative Weise, wie Men & Chicken seine Gedanken über Zivilisation, Sozialisation und biologischer Veranlagung anreißt (besonders pfiffig: Jensens Einbindung der Bibel!). Für einen Film, der fast so viel Hintersinn enthält wie amüsanten Irrsinn, ist diese doppelbödige Sippschaft-Chronik ungewohnt leichtgängig und unverkopft erzählt. Damit geht zwar auch einher, dass die zur Verständigung aufrufende Botschaft gen Schluss etwas schwammig wird, jedoch wissen die Albernheit, Bitternis, und Unkorrektheit vermengenden Pointen zweifelsohne dafür zu entschädigen.
Obwohl das ganze Ensemble gute Leistungen abgibt, sind es an vorderster Front die Verantwortlichen für Szenenbild, Produktionsdesign und Kostüme, die eine gesonderte Nennung verdient haben: Beim Anblick der abgeranzten Villa bekommt man glatt Angst, sich Herpes, Tetanus, Typhus und sonstwas einzufangen. Und wenn sie schattig ausgeleuchtet wird, erhält sie zudem eine Ausstrahlung wie ein uriges Horrorfilmhaus. Trotzdem wächst sie einem ans Herz – mit all ihren durchgeknallten Details ist sie zu interessant, als dass man sie in den Szenen an anderen Schauplätzen nicht vermissen würde.
Schlussendlich ist Men & Chicken ein willkommen andersartiges, bizarres Stück dänisches Kino, das in aller Seelenruhe ein schwarzhumoriges Familiendrama erzählt und dieses mit den grotesken Qualitäten einer skurrilen Böse-Nacht-Geschichte anreichert. Das wird vielleicht selbst manchen Jensen-Anhänger verprellen, ist aber vom lahmen Anfang abgesehen so passioniert und besonders geraten, dass es sich lohnt, über seinen Schatten zu springen. Denn dieser Wahn hat Respekt verdient!

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