Dienstag, 18. Juni 2019

Die irre Heldentour des Billy Lynn


Ang Lees gesellschaftskritisches, dezent humoriges Drama Die irre Heldentour des Billy Lynn ist ein kurioser Fall. Im Laufe dieser Geschichte über eine fiktive Footballspiel-Halbzeitshow, in der ein frei erfundener Kriegsheld eines realen militärischen Konflikts zelebriert wird, heißt es, dass Hollywood damit liebäugle, die Heldentaten des wortkargen Soldaten verfilmen zu wollen. Jedoch müsse der in George W. Bushs Irakkrieg dienende junge Erwachsene schnell einen Deal abschließen. Denn das Publikum verfüge nur über ein kurzes Erinnerungsvermögen.

Es ist irgendwo zwischen Poesie und bitterer Ironie zu verordnen, wie sehr sich diese Aussage am Exempel von Die irre Heldentour des Billy Lynn bewahrheitet. Denn stückweise ist die Adaption eines Ben-Fountain-Romans durchaus bemerkenswert. So ist die Struktur des Films einprägsam: Life of Pi-Regisseur Ang Lee und Kameramann John Toll verfolgen in semidokumentarischen, gestochen scharfen Bildern den Titelhelden Billy Lynn auf Schritt und Tritt.

Es ist fast so, als sei man Lynns stummer Kompaniekamerad, der sich ihm unbemerkt an die Fersen heftet, um mitzuerleben, wie Lynn bei seiner Heimkehr von seiner Familie begrüßt wird und wie er gemeinsam mit dem Rest seiner Truppe ohne größere Vorwarnungen in die Halbzeitshow einer wichtigen Footballpartie eingebunden wird. Die nüchternen Beobachtungen, wie Passanten anno 2004 in den Vereinigten Staaten auf ihre Soldaten reagieren und wie sich die auf kurzem Heimurlaub befindlichen Jungs geben, werden durch Rückblenden auf Billy Lynns Zeit im Irak aufgebrochen.

So ergänzen sich Erinnerungen und deren Folgen, gegenwärtiges Handeln und die Taten, die zur jetzigen Situation führten, stimmig zu einem unaufgeregten, detailreichen Gesamtbild. Das von Jean-Christophe Castelli verfasste Drehbuch ist fein beobachtet, konsequenterweise sind die gesellschaftskritischen Aspekte des Films keine reine Plattitüden, sondern ausgewogen. Die irre Heldentour des Billy Lynn lässt keinen Zweifel am Unrecht des Irakkrieges und mahnt entsprechend vor Kriegspropaganda – und auch das Bild der ungestümen Alphamännchen in Uniform wird wiederholt gezeichnet. Gleichwohl zeigt Regisseur Ang Lee große Empathie für seinen Protagonisten und mehrere seiner Kameraden, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen zur Armee gemeldet haben – um kleine Fehltaten vergessen zu machen, um ihre Familie zu versorgen, um Leuten zu helfen, ohne vorher zu ahnen, wie sehr Andere diese Hilfe kaputt machen werden. Und Kriegsfilme? Naja, die spülen armen Soldaten, die der Staat gerne vergisst, sobald sie unpraktisch werden, wenigstens etwas Geld zu …

Eine grau-graue Weltsicht mit wenigen tiefschwarzen, schwer zu verurteilenden Randerscheinungen und ebenso wenigen, hell scheinenden Beispielen des tragischen, aber strahlenden Heroismus: Billy Lynns irre Heldentour eröffnet zwar keine neuen Erkenntnisse, macht sie aber dank der originellen Präsentation auf ungewöhnliche Form spürbar. Dabei hilft auch der lakonische Humor – etwa, wenn Lee süffisant die Doppelzüngigkeit vorzeigt, mit der die USA ihren Kriegshelden begegnen oder wenn der Regisseur mit jeder Menge Spektakel vorführt, wie absurd feierliche Events zu Ehren von Militärhelden sind. Obendrein bekommt Tron: Legacy-Hauptdarsteller Garrett Hedlund mehrere Schmunzler zugeschustert: Als Sgt. Dime übernimmt er auf augenzwinkernd-übertriebene Weise den Part des taffen, keinerlei Sentimentalität duldenden Vorgesetzten, der eine eher machohafte Sicht der Dinge hat – wenn er nicht gerade spitzbübisch Zivilisten verschaukelt. Gelegentlich lässt er auch seine einsichtsreiche und nachdenkliche Seite aufblitzen, womit er die rundeste Figur dieses Films ist.

Neben Hedlund fallen sonst vor allem Chris Tucker (humorvoll, aber längst nicht so grell wie in seinen früheren Rollen) und Kristen Stewart als Billy Lynns liberale, desillusionierte, fürsorgliche, etwas direkte Schwester auf. Joe Alwyn hingegen ist solide, aber (was auch dem Drehbuch zuzuschreiben ist) recht blutarm in der Hauptrolle. Was uns allmählich zu den Stolperschwellen dieser Heldentour führt – trotz all dieser Elemente ist Ang Lees Produktion insgesamt betrachtet keinesfalls denkwürdig. So, wie im Film beschrien, droht Billys Story zu einem Nichts zu verpuffen. Es bleibt einfach kaum etwas haften von diesen zwei Stunden in den Schuhen eines Irakkriegsveteranen. Die Rückblenden auf die Zeit im Irak? Blass, lasch, und durch den sich zwar bemühenden, aber fehlbesetzten Vin Diesel als hobbyphilosophischer Sergeant recht klischeehaft. Und auch die eigentliche Handlung lässt einfach Pepp vermissen, ein gewisses Etwas, das aus dem theoretischen Widerhaken der Story („Wird Billy Lynn beantragen, nicht in den Irak zurückkehren zu müssen?") eine spürbare Dringlichkeit macht.

Stattdessen experimentiert Lee halbseiden mit der Vermittlung seiner Filmbilder: Gelegentlich driftet Lee aus der semidokumentarischen Ästhetik ab, hin zum Erzählen aus direkter Egoperspektive. Wenn die Kamera das Kinopublikum jedoch wortwörtlich in Billy Lynns Position versetzt, bricht die Illusion zusammen: Sein Gegenüber ist stets zu nah, zu akkurat drapiert und mit zu hoher Zielstrebigkeit auf ihn fokussiert, als dass es sich nicht echt anfühlt. Es gleicht eher einer Egoshooter-Zwischensequenz – also dem Gegenteil dessen, was dem Tonfall dieser geknickten Heldentour zugutekäme. Obwohl Lee nur eine Handvoll solcher Einstellungen verwendet, zieht ihre Wirkung große Kreise: Diese so glaubhafte, bodenständige, unspektakuläre Erzählung mit ihren plausiblen Kommentaren zum Irakkrieg (und Militärhandlungen sowie -feiern generell) kommt letztlich falsch und gekünstelt daher, so dass sie eher fluffig, denn dramatisch wirkt.

Fazit: Gute Einzelaspekte machen nicht immer einen guten Film: Ang Lees Drama über den Umgang mit und die Gedankenwelt von Kriegsveteranen hat reizvolle Ansätze, verpufft aber ohne denkwürdigen roten Faden. Für Lee-Komplettisten und alle, die das Thema fasziniert, dennoch ein solider Film.

Montag, 10. Juni 2019

Verborgene Schönheit



Jeder Plot hat eine Daseinsberechtigung. Jede Geschichte ist erzählenswert. Sie muss nur in einem angemessenen Kontext erzählt werden. Und selbstredend kommt es auf die Umsetzung an. Struktur, Tonfall, handwerkliches Können und künstlerischer Einfallsreichtum – diese Elemente prägen eine Geschichte viel stärker als der rudimentäre Plot. Selbstredend steckt in manchen Plots ein größeres, stärkeres Potential. Eine aus sich heraus strahlende, sich nahezu sofort aufdrängende Herangehensweise, die frisch und fesselnd erscheint. Der Plot von Verborgene Schönheit ist haarsträubend – und kann daher als Saatkorn für einen fiesen, feinen Film herhalten, der eine ungewöhnliche Story erzählt. Per se lassen sich die folgenden Zeilen also irgendwo zwischen neutral und reizvoll einordnen:

Die Werbefachleute Whit Yardshaw (Edward Norton), Claire Wilson (Kate Winslet) und Simon Scott (Michael Peña) bangen um die Zukunft ihrer Firma: Ihr bester Freund und Vorgesetzter, Howard Inlet (Will Smith), ist seit dem Tod seiner Tochter vor wenigen Jahren depressiv, ja, nahezu katatonisch. Er weigert sich, zu reden, zu arbeiten oder mehr als das Nötigste zu essen. Um ihre finanzielle Zukunft abzusichern, wollen sie ein letztes großes Geschäft abschließen, bräuchten dafür jedoch eigentlich Howards Unterschrift. Da dieser aber weiterhin apathisch durch den Tag stapft, beschließen sie, die drei Laiendarsteller Amy (Keira Knightley), Raffi (Jacob Latimore) und Brigitte (Helen Mirren) anzuheuern. Sie sollen Howard gegenüber die Verkörperungen der Liebe, der Zeit und des Todes spielen und ihn so in den Wahnsinn treiben, damit er endlich als unzurechnungsfähig attestiert wird und Whit, Claire sowie Simon die Geschicke der Firma ohne ihn leiten können.

Daraus ließe sich nach der Schule des ersten Kill the Boss-Teils eine schwarze Komödie spinnen. Oder ein Thriller, der zu ähnlich großen Teilen aus der Sicht des Opfers und der Täter erzählt wird – eine Art Gaslicht oder Das Haus der Lady Alquist fürs Jetzt. Oder ein beklemmender Mystery-/Psychothriller aus der Sicht des Opfers – inklusive gemeinem Plottwist, der dessen beste Freunde als Strippenzieher enttarnt.

Stattdessen ist Verborgene Schönheit ein noch krasserer Fall narrativer, tonaler und inszenatorischer Fehlgriffe als die kurz zuvor veröffentlichte Sci-Fi-Liebesgeschichte Passengers, in der moralische Kurzschlussentscheidungen auf kitschigste, konventionellste Weise romantisiert werden. Allan Loebs Drehbuch platzt förmlich vor Glückskeksweisheiten und Kalendersprüchen, die Komponist Theodore Shapiro (Trumbo) mit durchaus wunderschönen, allerdings somit drastisch fehlleitenden Melodien untermalt. Knightley, Mirren und Latimore bieten diese Kitschphrasen in einem konsequent abgedroschenen Tonfall und mit weit aufgerissenen, staunenden Augen feil – und auch SPECTRE-Nebendarstellerin Naomie Harris muss als Trauerbegleiterin durchweg einen anbiedernd-belehrend-entzückten Singsang von sich geben.

Will Smith wiederum spielt sich in den ersten vier Fünfteln des Films die Seele aus dem Leib – und das so sehr, dass er die hauchdünne Schicht an ehrlicher Emotionalität in dieser cineastischen Geschmacklosigkeit zum Zerreißen bringt. Wenn er als Howard mit verquollenen Augen und steinerner Miene in einem Gefühlsmix aus Wut und Trauer Dominosteine aufbaut oder Fahrrad fährt, agiert Smith so aufgesetzt und gewollt, dass es förmlich von der Leinwand runterbrüllt: „GEBT MIR ENDLICH DEN VERDAMMTEN OSCAR! BITTE!!!!!!!!!!!!“ Im letzten Fünftel hingegen rutscht Smith schlagartig in den Kamillentee-und-Seelenbalsam-Tonfall seiner Kollegen ab – damit auch ja niemand aufgewühlt den Saal verlässt.

Kamerafrau Maryse Alberti (The Wrestler) kann mit ihren stimmig ausgeleuchteten Bildern leider nicht David Frankels Regieführung aushebeln. Der Regisseur solch deutlich gelungener Filme wie Marley & Ich und Der Teufel trägt Prada setzt den Stoff wie eine weihnachtliche, pseudophilosophische Spezialfolge einer 80er- oder 90er-Jahre-Sitcom um – inklusive mit im Kino versackenden Lachpausen, wann immer eine der Figuren einen schlagfertigen Spruch von sich gibt. Doch abgesehen von wenigen perfekt getimten, staubtrockenen Kommentaren Helen Mirrens oder der dauerverzweifelt agierenden Keira Knightley gibt es in Verborgene Schönheit nichts zum Lachen:

Die Dialoge und der generelle Tonfall sind zu verkitscht-zuckrig, um den potentiell schwarzhumorigen Kern würdigen zu können. Im Gegenzug sind die Absichten von Howards Freunden zu abgebrüht, als dass sich dieser Story irgendetwas Inspirierendes abgewinnen ließe. Verborgene Schönheit ist der noch hässlichere, noch stärker missratene und moralisch fragwürdigere junge Bruder des ebenfalls schon überaus kritischen Will-Smith-Pathosdramas Sieben Leben.

Fazit: Eine Story, die in diversen Genres funktionieren könnte, doch niemals als inspirierend-philosophische Dramödie, wird mit nichtigen Alltagsweisheiten bespickt als ungeheuerlich bemühte, inspirierend-philosophische Dramödie ins Kino entlassen. Um die hier verborgene Schönheit zu finden, braucht es ein Hochleistungsmikroskop.