Mittwoch, 30. September 2015

Alles steht Kopf


Irgendein Sommertag. Irgendwo in Deutschland. Zu irgendeiner Uhrzeit spätnachts. Telefongeklingel. Schlechte Neuigkeiten brechen drein. Darauf kann man keine Tagesform aufbauen! Auch nach mehrmaligem Beteuern meines Umfelds, ich dürfte nun traurig sein, ich sollte traurig sein, ich müsste traurig sein ... Ist dem nicht so. Angst verspüre ich auch nicht. Und Ekel sowieso nicht. So verquer, mich über eine nach allen Maßstäben unserer Gesellschaft als schlecht markierte Nachricht zu freuen, bin ich aber auch nicht. Ich bin ... ruhig, fast apathisch.

"Na, klasse ...", stöhne ich nach einigen Stunden in einem kurzen Anflug von Gefühlsleben mit zynischer Gedankenstimme auf. "Beste Voraussetzungen, um in einen Tag zu starten, der mit einem Pixar-Film über Emotionen endet ..."

Die Stimmen in meinem Kopf
Der Film, von dem die Rede ist, ist natürlich Alles steht Kopf, der zu besagtem Zeitpunkt noch weit von seinem Deutschlandstart entfernt ist. Doch frühem Lob aus Übersee sei Dank wusste ich, dass mich etwas Sehenswertes erwartet. Und aufgrund meiner Tätigkeit als Filmkritiker durfte ich mich schon mit stattlichem Vorlauf über eine Vorführung freuen. Naja, "freuen" blieb letztlich auf die Theorie beschränkt, denn ich konnte emotional gar nichts mehr mit mir anfangen. Zunächst, weil ich nach dem ersten Schockmoment unverhofft ruhig blieb. Und dann, weil mich meine Besonnenheit verwirrte. Müsste ich nun nicht aufgewühlt sein? Nein. "Gefühle haben heute Urlaub", schien die Devise. Was mich, ohne dass ich es geahnt habe, in eine ähnliche Position brachte, wie die kleine Riley aus Pixars 15. abendfüllenden Trickfilm. Nicht, dass auch sie nachts mit schlechten Nachrichten wachgeklingelt wurde. Aber auch sie wird in den Beginn eines neuen Lebensabschnitts geschubst. Und reagiert daraufhin nicht wie von ihr gewohnt ...

Riley ist eine verspielte, stets gut gelaunte, alberne Elfjährige. In der Schaltzentrale inmitten ihres Verstands hat dementsprechend Freude (engl. Stimme: Amy Poehler, dt. Stimme: Nana Spier) das Sagen. Die quirlige Emotion ist unentwegt darauf bedacht, dass Riley Grund zum Lachen hat. Daher lässt sie nur selten und für kurze Zeit ihre Kollegen ans Schaltpult. Etwa Wut (Lewis Black / Hans-Joachim Heist), der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Riley aufschreien zu lassen, wenn ihr Ungerechtigkeit widerfährt. Angst (Bill Hader / Olaf Schubert) hingegen ist insbesondere um Rileys Sicherheit bessorgt, während Ekel (Mindy Kaling / Tanya Kahana) alles ablehnt, was das Mädchen vergiften könnte. Ob nun aus gesundheitlicher oder sozialer Sicht. Während sich Freude halbwegs mit diesen drei Emotionen arrangieren kann, ist ihr Kummer (Phyllis Smith / Philine Peters-Arnolds) ein Rätsel auf zwei Beinen. Wann immer sie sich in Rileys Befinden einmischt, will Freude dies schnellstmöglich rückgängig machen. Ein völlig misslungener Umzug überfrachtet Riley mit derart vielen neuen Eindrücken, dass in der Schaltzentrale alles völlig aus dem Ruder läuft. Als sogar persönlichkeitsbildende Erinnerungen von der misslichen Lage betroffen sind, will Freude Konsequenzen ziehen, die ihr Können übersteigen. Dies löst eine Kette von Missgeschicken aus, die Freude und Kummer aus der Schaltzentrale katapultiert und in gänzlich anderen Winkeln von Rileys Verstand landen lässt. Daraufhin müssen sich die weiteren Emotionen im Alleingang darum kümmern, die Elfjährige durch den neuen, noch fremden Alltag zu manövrieren. So beginnt für die schwer kompatiblen Kolleginnen Freude und Kummer ein unbeschreibliches Abenteuer in den Windungen des Bewusstseins. Und wie ergeht es Riley in der Zwischenzeit, so ganz ohne die Fähigkeit, glücklich oder traurig zu sein ..?

Emotionen stehen Kopf
Es dürfte außer Frage stehen, dass die neue Regiearbeit von Oben-Regisseur Pete Docter bei mir offene Türen eingerannt hat: Nach einem Tag der Apathie auf der großen Leinwand in kräftigen Farben und kristallklarem 3D Emotionen in Aktion zu erleben, wie sie nicht nur sie selbst sind, sondern auch miteinander umzugehen lernen, war, als sei ein Knoten geplatzt. Ich erlaubte mir, meinen Zustand der Überraschung zu verlassen und wieder zu lachen. Und, wie es mir als passioniertem Fan bei den ganz großen Animationsfilmen gelegentlich passiert, vor Rührung ob der genialen Ideen und ästhetischen Bilder vor mich hinzuschmelzen. Und natürlich hatten nicht nur die Themen von Alles steht Kopf solch einen mitreißenden Effekt auf mich. Sondern auch, wie das Pixar-Storyteam sie in eine Geschichte packt, die zu gleichen Teilen Abenteuer, Ensemble-Situationskomödie und fantasievolle Emotionsachterbahn darstellt. Man darf Freude ob ihres Optimismus bewundern und wegen ihrer miesen Behandlung von Kummer den Kopf schütteln. Mit Kummer Mitleid haben, sich aber über ihre planlose Selbsteinschätzung ärgern. Und es gibt noch so viel mehr zu durchleben ...

Warum berichte ich euch an dieser Stelle überhaupt davon? Nun, wir alle haben wohl so eine Situation durchgemacht: Ab einem gewissen Alter können wir alle wohl davon berichten, dass wir in einer Lage waren, in der wir nicht die Emotionen durchlaufen haben, die unser Umfeld von uns erwartet. Oder die wir von uns selbst erwartet haben. Doch das muss nicht schlimm sein!

Ja, schon auf der Oberfläche berichten die Pixar-Künstler in Alles steht Kopf von einer wertvollen Lektion: Ständig Kummer zu unterdrücken, nur um Fröhlichkeit vorzutäuschen, ist keine ergiebige Lebenseinstellung. Das ist eine Erkenntnis, die in unserer Gesellschaft, die jeden Anflug von Trübsinn sofort verurteilt, von großem Gewicht. Man täte Pete Docter und seinem Team aber Unrecht, den Film darauf zu beschränken. Allgemein gesprochen handelt er nämlich davon, dass es uns nur gut tun kann, wenn wir lernen, ehrlich mit unseren Emotionen umzugehen. Dazu zählt natürlich, zu trauern, wenn sich der Kummer meldet. Aber genauso wenig ist es gesund, sich einzureden, nicht fröhlich sein zu dürfen, wenn man einsieht, mit einer Entwicklung unerwartet zufrieden zu sein. Womit sich kurioserweise die Brücke zurück zu Pixars vorhergegangene Produktion Die Monster Uni schlagen lässt, die aussagt: Manchmal kommt es anders als man denkt, doch auch Umwege können einen erfreuen.

Und, was ich ebenfalls bezeugen kann: Alles steht Kopf funktioniert im emotionalen Ausnahmezustand genauso gut wie im emotionalen Alltag. Als ich den Film zum zweiten Mal sehen durfte, dieses Mal in der makellosen Synchronfassung, war "mein Tagesthema" der ersten Vorführung längst abgehakt, geklärt, verarbeitet und meine generelle Tagesform so, wie sie meistens ist. Aber aufgemerkt: Selbst ohne den entsprechenden "Das ist gerade alles so relevant!"-Bonus brillierte der Geniestreich so sehr wie noch bei der Erstsichtung.


Die Wissenschaft der Vorstellungskraft
Was das Thema von Alles steht Kopf so besonders macht, ist das Paradoxe an seiner Thematik: Einerseits ist es der Pixar-Film, der unserem Alltag am nächsten ist – denn es geht um menschliche Gefühle, also um etwas, das uns tagtäglich, im Grunde genommen sogar in jeder einzelnen Minute begegnet. Andererseits ist das grundlegende Setting dieser Produktion ferner von unserer Realität, als alles, was Pixar bislang in die Lichtspielhäuser gebracht hat. Die Toy Story-Filme spielen in Kinderzimmern, Spielwarengeschäften und Kindertagesstätten. Das große Krabbeln auf einer Wiese, die Monster-Filme sowie Die Unglaublichen in abgewandelten Formen unserer Großstädte, Findet Nemo im Meer, Ratatouille in Paris, die Cars-Filme in den staubigen Staaten der USA und in weiteren Großstadt-Abwandlungen, Oben im Dschungel, Merida in den Highlands. Und mit gewaltigen Mülldeponien und einem gigantischen Raumschiff, das wie eine Luxuskreuzfahrt verkauft wird, hat selbst WALL•E Referenzpunkte aus der realen Welt. Das Innere des Verstands hingegen ist kein Ort, den wir besuchen können oder von Fotografien kennen. Das Gros der Schauplätze und Figuren von Alles steht Kopf musste daher von Grund auf durch die Produktions- und Figurengestalter der Traumfabrik aus Emeryville erdacht werden.

Abgesehen davon, dass letztlich sehr wohl intensive wissenschaftliche Recherchearbeit vonnöten war. Denn wir alle haben Gedanken, Träume und Gefühle, so dass wir als Betrachter des Films auch ohne Psychologie-Abschluss wenigstens unterbewusst mitbekommen würden, wenn Alles steht Kopf die Funktionsweise unseres Innenlebens zu frei interpretiert. Plausibilität und Beobachtungen, die auf Erfahrung und wissenschaftlich fundierte Thesen stützen, sind daher auch in Pixars 15. Langfilm unerlässlich. Eben dieses komplexe Spannungsfeld aus Fakt und künstlerischer Freiheit schafft enormes Potential für ein faszinierendes Animationserlebnis – und Docter sowie sein Ko-Regisseur Ronnie Del Carmen schöpfen wirklich aus dem Vollen, um diesem Potential gerecht zu werden.

So werden in der Psychologie verschiedene Modelle vertreten, wie viele Emotionen wir Menschen empfinden können, wobei der auf Emotionalität spezialisierte Psychologe Paul Ekman eine grundlegende Sechsergruppe ausmacht: Die fünf, auf die sich das Pixar-Team begrenzt hat, sowie Überraschung. Obwohl Pixar Ekman zu Rate gezogen hat, wurde aus Gründen der Erzählökonomie diese Emotion gestrichen – es war schlichte eine Figur zu viel, zumal in der Handlungsentwicklung jede einzelne der fünf restlichen Emotionen die Position von Überraschung einnehmen kann. Von einem weiteren Berater lernten die Pixar-Macher drei der wichtigsten Lektionen zum Thema Gefühlsleben, die ihren Film in eine neue Richtung gelenkt haben: Kummer hilft, Bindungen zu festigen. Erinnerungen sind emotional aufgeladen und können sich entsprechend ändern. Und: Jede Emotion ist gleichberechtigt. Es gibt keine „schlechten“ Gefühle, sondern nur schlechtes Ausleben seiner Emotionen.

Dennoch vereinfachten sie gewisse Aspekte, um sie im Dienste der Story leichter begreifbar zu machen. So wurden Docter und seinen Kollegen darauf geeicht, Erinnerungen wie Kopien zu betrachten: Wann immer wir uns erinnern, wird eine neue Kopie gemacht und die vorläufige Version zerstört. Dies ließe sich zwar filmisch darstellen, hat aber weder die Entwicklung des Konzepts vorangetragen, noch räsoniert es mit der gesellschaftlich empfundenen „Wahrheit“, Erinnerungen seien wertvolle, zerbrechliche Dinge. So nahmen sie letztlich die Gestalt von Glaskugeln an – wunderbar unterstrichen durch das Sounddesign von Ren Klyce, der einem bei jedem Sturz durch scheppernde Geräusche eine Angst einjagt, sie könnten nun kaputt gehen. Die Gefahr des Verfälschens oder Verblassen der Erinnerungen wird inhaltlich dennoch angerissen und auch visuell eindrucksvoll vermittelt, so dass Alles steht Kopf auch in dieser Hinsicht nah genug an den Fakten ist, um die bezaubernde Fiktion glaubwürdig zu verankern.

Überhaupt brilliert das Produktionsdesign von Ralph Eggleston mit schier endlosen Momenten, die man perfekt beschreiben könnte als: „Darauf wäre ich nie gekommen, aber: Na klar, natürlich würde es so aussehen!“ Wie etwa die Kommandozentrale, in der die Emotionen das Geschehen beobachten und durch Berührung des Pults Riley eine emotionale Einfärbung geben können – oder durch weitere Schalter, Knüppel und Mechanismen auch Tagträume oder Erinnerungen hervorrufen. Oder das Langzeitgedächtnis inklusive Persönlichkeitsinseln, die durch sogenannte, starke Kernerinnerungen betrieben werden: Mary Blair trifft Apple-Chic, also kindlich-fantasievoll trifft intuitive Funktionalität. Das sieht nicht nur spitze aus, sondern ist auch einleuchtend – und wird mit zahllosen kleinen, cleveren Überraschungen zum Leben erweckt. Hinzu kommt, dass Lichtsetzung und Kameraarbeit innerhalb von Rileys Verstand an Filme der Goldenen Ära Hollywoods angelehnt sind, während entsättigte Farben und eine freier schwebende Kamera die Außenwelt-Sequenzen subtil „alltäglicher“ aussehen lassen. Einfach genial!

Emotionen zum Liebhaben
Die Figuren sind ungeheuerlich sympathisch geraten – und gerade Freude und Kummer haben aber zudem einige Ecken und Kanten, die für Reibung und somit zusätzliche Spannung sorgen. Dass Kummer immerzu neugierig/ahnungslos Erinnerungen und Schalter anfasst, lässt das Publikum zunächst auf Freudes Seite stehen – bis klar wird, wie sehr Kummer der Möglichkeit beraubt wird, ihrer Aufgabe nachzugehen. Auf der anderen Seite ist Freudes Optimismus beneidenswert und ihre Intention, Riley stets glücklich zu machen rein oberflächlich betrachtet die beste Absicht. Allerdings ist ihr vehementes Unterdrücken Freudes wenig vorbildlich. So ist das Geschehen in Rileys Kopf viel abwechslungsreicher und mitnehmender, als reagierten die personifizierten Emotionen unentwegt einseitig. Auch Wut, Ekel und Angst weichen gelegentlich von ihrer Standardnote ab und zeigen sich stolz, kooperativ oder amüsiert, was zumeist für hervorragend sitzende Dialog- und Situationskomik genutzt wird. Diese verwirklichen die Animatoren, ganz Pixar-unytpisch, mit sehr cartoonhaften Bewegungen: Die Emotionen, vor allem Angst, dehnen und biegen sich zu einem äußerst überhöhten Maß und wecken in Slapstickmomenten somit Erinnerungen an den wild-frenetischen Spaß von Chuck Jones oder Tex Avery, während der charaktergesteuerte Humor an die graziöse Linienführung von Milt Kahl und plausibel-karikaturenhafte Dynamik des Goofy-Meisters John Sibley erinnern.

Dahingehend passt es auch, dass die emotionalen Stimmen in unseren Köpfen für Pixar keine simplen Menschlein sind, sondern originelle Fantasiegeschöpfe, die sich dennoch „echt“ anfühlen. Die Charakterdesigner Albert Lozano und Chris Sasaki haben mit diesen Gestalten den Nagel auf den Kopf getroffen, und vermengen ikonografische Vorstellungen dieser Gefühle – etwa das Hitzige an Wut – mit unverbrauchten Details, so dass man sagen könnte: Sie erinnern uns an Etwas, das wir noch nie gesehen haben. Etwas betörend schönes, sollte mnn hinzufügen: Die herumschwebenden Partikel, insbesondere um Freude herum, brechen das übliche Design der Traumfabrik Pixar auf, lassen es so aussehen, als hätten Kreidemalereien das Laufen gelernt. Bloß, dass diesen Malereien ein inneres Glühen verliehen wurde, das so nur mit der Computertechnologie machbar ist. Rileys imaginärer Freund Bing-Bong derweil ist ein bunter Zuckerwatte-Tiermix, der wie ein arbeitsloser Stummfilmdarsteller durch ihr Bewusstsein schlendert – und sich vom Kuriosum zur Comedy-Goldmine zum heimlichen Helden des Films aufschwingt.

Zu guter Letzt werden die abenteuerlichen, geistreichen und lustigen sowie zuweilen aufwühlenden Erlebnisse dieser unvergesslichen Figuren von ebenso unvergesslichen Melodien begleitet: Oscar-Preisträger Michael Giacchino vermengt seine typische Percussionarbeit mit jazzigen Elementen, einem simplen, wiederkehrenden und sich sanft um einen schmiegenden Pianostück und spielerischen, spaßigen Elementen. Das Ergebnis ist ein wunderbarer Score, der selbst den zu Oben alt aussehen lässt!

Fazit: Albert Lozano und Chris Sasaki. Ganz gleich, ob Alles steht Kopf einen wachrüttelt, einfach nur bespaßt oder zum Nachdenken bringt: Pete Docter ist es gelungen, der großen Ruhmeshalle an Pixar-Produktionen einen weiteren modernen Klassiker hinzuzufügen!

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