Samstag, 11. März 2023

Oscars 2023: Meine Prognose für die 95. Academy Awards


Es ist wieder "Hinterher werden alle Gewinner:innen sowas von offensichtlich sein"-Zeit!

Bester Animationsfilm
  • Guillermo del Toro's Pinocchio
  • Das Seeungeheuer
  • Marcell the Shell with Shoes On
  • Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch
  • Rot
Auch wenn Der gestiefelte Kater: Der letzte Wunsch seit Ende Dezember kontinuierlich neue Fans gewinnt und beispielsweise der Held des filmaffinen Internets ist (zweitbestbewerteter Film des Jahres 2022 bei Letterboxd): Ich denke, dass es hier keinen Weg gibt, der an Pinocchio vorbeiführt. Dafür ist sein Ansehen in der Filmbranche zu gut, sind seine Besprechungen in der Breite zu positiv, ist del Toros Anziehungskraft innerhalb der Academy zu groß.
Und auch wenn mein Herz etwas lauter für den Kater schlägt: Es wäre ein verdienter Sieger.

Bestes adaptiertes Drehbuch
  • Im Westen nichts Neues, Edward Berger, Lesley Paterson & Ian Stokell
  • Top Gun: Maverick, Peter Craig, Ehren Kruger, Justin Marks, Eric Warren Singer & Christopher McQuarrie
  • Living, Kazuo Ishiguro
  • Glass Onion, Rian Johnson
  • Die Aussprache, Sarah Polley
Ich glaube, das Rennen wird sich zwischen Im Westen nichts Neues, der seit Wochen im englischsprachigen Raum ordentlich an Zugkraft zulegt, und Sarah Polleys wenig gesehene, aber viel bewunderte Romanadaption Die Aussprache entscheiden. Knapp sehe ich Polley vorne: Es ist die Kategorie, um dem Film etwas Liebe zukommen zu lassen, und vereint die Votingfraktion "Starke Dialoge" mit diejenigen, die eine starke Erzählstruktur würdigen.

Bestes Original-Drehbuch
  • Triangle of Sadness, Ruben Östlund
  • The Banshees of Inisherin, Martin McDonagh
  • Everything Everywhere All at Once, Daniel Kwan & Daniel Scheinert
  • Die Fabelmans, Steven Spielberg & Tony Kushner
  • Tár, Todd Field
Selbst in einem Jahr, in dem sich das Klima innerhalb der Filmindustrie nicht für die schräge Art von Everything Everywhere All at Once geöffnet hätte, wäre der Film hier ein Topkandidat. Dieses Jahr und nach den zahlreichen Auszeichnungen erst recht.

Beste Kamera
  • Im Westen nichts Neues, James Friend
  • Elvis, Mandy Walker
  • Empire of Light, Roger Deakins
  • Tár, Florian Hoffmeister
  • Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten, Darius Khondji
Ich denke, das machen Im Westen nichts Neues, Elvis und Tár unter sich aus. Und tippe mal auf die hypnotische Sogkraft von Elvis.

Beste Kostüme
  • Babylon, Mary Zophres
  • Black Panther: Wakanda Forever, Ruth E. Carter
  • Elvis, Catherine Martin
  • Mrs. Harris und ein Kleid von Dior, Jenny Beavan
  • Everything Everywhere All at Once, Shirley Kurata
Der "Wow, das und das und das ikonische Outfit haben die aber sehr gut getroffen"-Effekt könnte Elvis zum Sieg bringen.

Bester Schnitt
  • The Banshees of Inisherin, Mikkel E.G. Nielsen
  • Tár, Monika Willi
  • Elvis, Jonathan Redmond & Matt Villa
  • Everything Everywhere All at Once, Paul Rogers
  • Top Gun: Maverick, Chris Lebenzon & Eddie Hamilton
Noch bevor sich abgezeichnet hat, dass Everything Everywhere All at Once von den großen Filmpreisen akzeptiert wird, meinte ich: Dieser Film müsste den Oscar für den besten Schnitt gewinnen.
Ich werde diese Haltung jetzt nicht verraten, indem ich einen anderen als Sieger vorhersage.

Bestes Produktionsdesign
  • Avatar: The Way of Water, Dylan Cole, Ben Procter & Vanessa Cole
  • Babylon, Florencia Martin & Anthony Carlino
  • Elvis, Catherine Martin & Karen Murphy
  • Die Fabelmans, Rick Carter & Karen O'Hara
  • Im Westen nichts Neues, Christian M. Goldbreck, Ernestine Hipper
So viele detailreich ausstaffierte Sets in Babylon, kann das die generell spaltende Art des Films übertrumpfen?

Bester Dokumentarfilm
  • All that Breathes
  • All the Beauty and the Bloodshed
  • Fire of Love
  • A House Made of Splinters
  • Navalny
Die Doku-Sparte bringt mich regelmäßig zur Verzweiflung: Sage ich den vermeintlich sicheren Gewinnerfilm vorher, gewinnt eine Überraschung. Und umgekehrt. Für mich entscheidet es sich dieses Jahr zwischen Fire of Love (hervorragende Kritiken, wird für seine Bildgewalt und seine Emotionalität gefeiert, ist dank Disney+ leicht zugänglich und hatte somit viel Zeit, Buzz zu gewinnen) und All the Beauty and the Bloodshed (thematisch schwerer, aufwühlender und "wichtiger", spricht über die Relevanz von Medien). Ich gehe dieses Jahr auf "Relevanz" statt "Gefühl".

Bester Doku-Kurzfilm
  • Die Elefantenflüsterer
  • Haulout
  • How Do You Measure a Year?
  • The Martha Mitchell Effect
  • Stranger at the Gate
Meine Prognose: Die Horden an Walrössern ziehen die Aufmerksamkeit der Oscar-Stimmberechtigten auf sich.

Bester internationaler Film
  • Argentina, 1985, Argentinien
  • Im Westen nichts Neues, Deutschland
  • Close, Belgien
  • The Quiet Girl, Irland
  • EO, Polen
Pans Labyrinth verlor einst in dieser Kategorie gegen Das Leben der Anderen, obwohl del Toros Film auch in weiteren Sparten nominiert war. Es wäre also ausgleichende Gerechtigkeit, wenn dieses Mal ein vielfach nominierter deutscher Film den vermeintlich sicheren Oscar versäumt. Doch es wäre auch eine statistisch unweise Prognose. Müsste ich raten, wer in einer Wiederholung des 20 Jahre zurückliegenden Ereignisses dem Antikriegsfilm ein Schnippchen schlägt: Mein Gefühl sagt The Quiet Girl.

Bestes Makeup & Hairstyling
  • Im Westen nichts Neues
  • The Batman
  • Black Panther: Wakanda Forever
  • Elvis
  • The Whale
Die tollen Frisuren in Elvis (plus die zusätzlichen Pfunde an Austin Butler gen Ende) gegen die zusätzlichen Kilos on The Whale und Colin Farrell Verwandlung in The Batman. Oder zieht Im Westen nichts Neues mit seinem rundum großen Buzz davon? Nur das Marvel-Sequel erscheint mir hier trotz guter Arbeit eine unwahrscheinliche Wahl, und sage: Elvis hat einfach mehr Razzle Dazzle und gewinnt daher.

Beste Filmmusik
  • Babylon, Justin Hurwitz
  • The Banshees of Inisherin, Carter Burwell
  • Die Fabelmans, John Williams
  • Im Westen nichts Neues, Volker Bertelmann
  • Everything Everywhere All at Once, Son Lux
Eines Tages wird die Filmgeschichtsschreibung kollektiv den Kopf schütteln, weshalb Babylon bei den Oscars nicht mehr abgeräumt hat. Aber Justin Hurwitz' Ohrwürmer sind zu mitreißend, als dass sie ignoriert werden könnten.

Bester Song
  • Lift Me Up aus Black Panther: Wakanda Forever
  • This is a Life aus Everything Everywhere All at Once
  • Naatu Naatu aus RRR
  • Applause aus Tell It Like A Woman
  • Hold My Hand aus Top Gun: Maverick
Ich halte den Sieg von Naatu Naatu nicht für derart sicher, wie manche Kolleg:innen. Schließlich kommen zwar die Nominierungen aus der Musiksparte der Academy, während die gesamte Academy über den Sieg entscheidet. Und da rechne ich mit einigen, die RRR nicht gesehen haben und lieber diese Kategorie nutzen, um hier für einen favorisierten Film abzustimmen. Sollte sich hier also beispielsweise Top Gun: Maverick durchsetzen: Ich werde keine verwirrten Fragezeichen über dem Kopf haben. Dennoch: Mein Tipp geht gen Indien, weil sich die großen, ernst(er)en (Abspann-)Nummern gegenseitig auf den Füßen rumtreten.

Bester Animations-Kurzfilm
  • The Boy, the Mole, the Fox and the Horse
  • The Flying Sailor
  • My Year of Dicks
  • Ice Merchants
  • An Ostrich Told Me the World Is Fake and I Think I Believe It
Hoffentlich verleiht Riz Ahmed den Preis in dieser Kategorie, damit er diese Titel noch einmal vorlesen kann. Und obwohl die Trick-Kurzfilmkategorie seit vielen Jahren sehr mainstreamig ist und oft der niedlichste Nominierte gewinnt: Die stilistisch vielseitige, intim-ehrliche Coming-of-Sexual-Age-Geschichte My Year of Dicks wird gewinnen, so mein Gespür.

Bester Kurzfilm
  • An Irish Goodbye
  • Le Pupille
  • Nattrikken
  • The Red Suitcase
  • Ivalu
Indikatorpreise und "Es liegt Irland in der Luft" ergeben zusammen diese Prognose.

Bester Ton
  • Im Westen nichts Neues
  • Avatar: The Way of Water
  • The Batman
  • Elvis
  • Top Gun: Maverick
Top Gun: Maverick brachte die Kinos zum Beben und damit die Kassen zum Klingeln, nun ist es an der Zeit, dafür einen Oscar einzusacken.

Beste Effekte
  • Avatar: The Way of Water
  • Black Panther: Wakanda Forever
  • The Batman
  • Im Westen nichts Neues
  • Top Gun: Maverick
Es gewinnt nicht jedes Mal der teuerste Film, wie Ex_Machina bewiesen hat. Und nachdem monatelang fehlberichtet wurde, dass Top Gun: Maverick ja komplett praktisch gedreht wurde, könnte die Erkenntnis, wie viel hier top getrickst wurde, den Film an James Camerons Epos vorbeitragen.

Bester Nebendarsteller
  • Brendan Gleeson, The Banshees of Inisherin
  • Barry Keoghan, The Banshees of Inisherin
  • Ke Huy Quan, Everything Everywhere All at Once
  • Brian Tyree Henry, Causeway
  • Judd Hirsch, Die Fabelmans
Ke Huy Quan hat praktisch alles gewonnen, wofür er in den vergangenen Monaten nominiert wurde. Sehe diese Siegesserie nicht mehr abreißen.

Beste Nebendarstellerin
  • Kerry Condon, The Banshees of Inisherin
  • Jamie Lee Curtis, Everything Everywhere All at Once
  • Stephanie Hsu, Everything Everywhere All at Once
  • Hong Chau, The Whale
  • Angela Bassett, Black Panther: Wakanda Forever
Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass Bassett für "Ein bisschen streng und traurig gucken in einem Marvel-Film" einen Oscar gewinnt, und tippe daher auf "Oh, eine Ikone in einem vielfach beachteten Film"-Gewinnerin Curtis.

Beste Hauptdarstellerin
  • Ana de Armas, Blonde
  • Michelle Yeoh, Everything Everywhere All at Once
  • Cate Blanchett, Tár
  • Michelle Williams, Die Fabelmans
  • Andrea Riseborough, To Leslie
Es entscheidet sich zwischen Yeoh und Blanchett, in beiden Fällen habe ich jetzt schon die Schnauze voll von den reißerischen Essays und Tweets am Folgetag, in beiden Fällen gewinnt eine starke Schauspielerin in einer großartigen Rolle. Aber ich sage hier Blanchett vorher, die einfach noch eine Spur magnetischer ist in ihrem Film (so jedenfalls meine Meinung) und weil dies die Kategorie ist, wo Academy-Mitglieder, die Tár mögen, am ehesten ihre Begeisterung kanalisieren werden.

Bester Hauptdarsteller
  • Paul Mescal, Aftersun
  • Colin Farrell, The Banshees of Inisherin
  • Austin Butler, Elvis
  • Bill Nighy, Living
  • Brendan Fraser, The Whale
Es ist fatal, auf die "Willkommen zurück"-Narrative reinzufallen, schließlich hat Mickey Rourke auch keinen Oscar für The Wrestler bekommen. Aber da alle Zeichen darauf deuten, dass beim Nebendarsteller sehr wohl diese Karte gespielt wird, tippe ich hier ebenfalls darauf, dass sich die Academy in einer sentimentalen Stimmung befindet.

Beste Regie
  • Ruben Östlund, Triangle of Sadness
  • Martin McDonagh, The Banshees of Inisherin
  • Daniel Kwan & Daniel Scheinert, Everything Everywhere All at Once
  • Steven Spielberg, Die Fabelmans
  • Todd Field, Tár
Wenn die Daniels diesen Oscar nicht gewinnen, wird "Bester Film" nochmal richtig spannend.

Bester Film
  • Im Westen nichts Neues
  • Avatar: The Way of Water
  • The Banshees of Inisherin
  • Elvis
  • Everything Everywhere All at Once
  • Die Fabelmans
  • Tár
  • Top Gun: Maverick
  • Die Aussprache
  • Triangle of Sadness
Wären die vielen Indikatorpreise nicht gewesen, ich würde denken, dass der Film "zu seltsam" für Branchenpreise ist, aber so langsam zieht das Argument nicht. Aber wenn ein Film Everything Everywhere All at Once ausstechen könnte, dann The Banshees of Inisherin.

Dienstag, 28. Februar 2023

Gastbeitrag: Von blutigen Bären und dampfenden Mäusen

EdiGrieg ist ein Disney-Experte, wie er im Buche steht und ein Meister im Fachbereich Synchronisation. Daher solltet ihr alle seine Seite Trickfilmstimmen kennen, das beste Disney-Synchron-Archiv des World Wide Webs! Aber auch in anderen Themengebieten kennt er sich bestens aus, wie ihr nun feststellen werdet...


2022 erlebte die nicht aufzuhaltende Welle von Realfilm-Umsetzungen klassischer Disneyfilme durch "Pinocchio" einen neuen Tiefpunkt, während Guillermo del Toros Umsetzung des hölzernen Bengels im selben Jahr von Lob geradezu überschüttet wurde. 2023 wird nun der Film "Winnie-the-Pooh: Blood and Honey" Streamingnutzern eine blutige Version von A. A. Milnes berühmten Kinderbuch präsentieren, welches 1926 veröffentlicht wurde und 2021, 95 Jahre später nach US-Recht den Status "Public Domain" (Gemeinfreiheit) erlangte. Nach Christopher Robin Milnes Tod am 20. April 1996 verkaufte seine Witwe die Rechte an Puuh dem Bären an die Walt Disney Company. Solange Regisseur Rhys Frake-Waterfield im oben genannten Horrorfilm nichts verwendet, was wiederum Disney seinerzeit kreativ hinzu fügte, hat der Maus-Konzern aufgrund des PD-Status jedoch nun keine rechtliche Handhabe mehr.
 
Die Rechtsgrundlage vom Schutz geistigen Eigentums ist ein Thema, das Bücher füllen könnte und hat nirgendwo eine derartige Komplexität erlangt wie in den USA. Da nun in den kommenden Jahren viele bekannte und berühmte Werke der 20er Jahre aus Literatur, Musik und Film in die erwähnte 95'er Frist kommen, könnte die Medienlandschaft von Hollywood und Co., die sich unlängst in eine kreative Sackgasse aus Reboots, Remakes und Spin-Offs verrannt hat, noch um einige bekannte Franchises "bereichert" werden. Dieser Umstand entfachte unlängst Diskussionen in entsprechenden Fachkreisen. Ruth Bader Ginsburg, Richterin am Obersten Gerichtshof, gab zu Protokoll, dass (Zitat:)
"Wir an der Schwelle zu einer Zeit stehen, in der Urheberrechte für eine Reihe visueller Werke auslaufen." und auf einen eventuell kaum überschaubaren Ansturm an Rechtsverletzungsverfahren hinweist.
 
So haben diverse Nachrichtendienste reißerisch Artikel mit dem Thema veröffentlicht, dass Walt Disneys Micky Maus 2024 PD-Status erlangen wird und fröhlich darüber spekuliert, was dies wohl alles nach sich ziehen könnte. Nach Persönlichkeitsrecht hätte Micky sogar eine 70-Jahres-Frist nach dem Ableben Disneys bekommen, die erst 2036 ausläuft ... Nur ist Micky, Fans wissen das, nicht Walts persönliche Erfindung, sondern die von Ub Iwerks, der 1971 verstarb und die Frist damit sogar bis 2041 verlängern würde. Das Alles zählt aber nicht, weil Disney schon lange vorher festgelegt hatte, seine Kreationen ins Firmenrecht zu integrieren. Natürlich hatte er damals von der heutigen Rechtslage noch keinen Schimmer.
 
Und somit werden Figuren wie King Kong, Popeye, Flash Gordon, Superman und auch Micky & Donald im Laufe der nächsten Jahre gemeinfrei werden. Aber was bedeutet das im Detail? Vereinfacht gesagt geht es darum, dass Micky im Laufe der Jahrzehnte optisch immer wieder verändert wurde, wobei jeder Stil wiederum seinen eigenen Urheberrechtsanspruch einfordern kann.

Anders herum gesagt: Jeder darf eine Micky Maus öffentlich ausstellen, solange sie nicht wie eine von Disney gezeichnete Micky aussieht. Dieser "optische Schutz" verwirkt jedoch nach 95 Jahren. Aktuell geht es um die Verwendung Disneys erster Micky-Cartoons von 1929, allen voran der Klassiker "Steamboat Willie". Kann und darf ein Drittunternehmen ab 2024 die berühmte Dampferszene auf ein T-Shirt drucken und verkaufen, ohne von Disney belangt werden zu können? Nach US-Recht grundsätzlich ja!

Natürlich ist die kleine Maus nicht nur Copyright- sondern auch Marken-geschützt, und dieses Trademark läuft grundsätzlich NICHT ab, solange Disney existiert. Gerade hier wird es mit der Rechtsgrundlage aber etwas schwammig. Ein Trademark beinhaltet, dass die "Ideale" eines Unternehmens nicht gefährdet werden dürfen, und DAS treibt Rechtsexperten Schweißperlen auf die Stirn angesichts eines Unternehmens, dem zur Zeit angedichtet wird, sich auch noch Sony oder/und Netflix unter den Nagel zu reißen, um seinem Medien-Monster weitere Tentakel hinzufügen zu können.
 
Selbstredend beschäftigt der Konzern nicht nur einige der besten Künstler der Welt sondern wohl auch einige der besten Rechtsanwälte; und dass Disney mit Rechtsverletzungen nicht zimperlich umgeht, hat er schon des Öfteren unter Beweis gestellt. So wurde eine Kindertagesstätte in Florida gezwungen, ein nicht autorisiertes Minnie-Maus-Wandbild zu entfernen. Im Jahr 2006 sagte Disney einem Steinmetz, dass das Schnitzen von Winnie Puuh in den Grabstein eines Kindes das Urheberrecht verletzen würde, und 2020 berechnete eine Disney-Tochtergesellschaft einer Grundschule 250 US-Dollar, weil sie "Der König der Löwen" ohne Erlaubnis bei einer PTA-Spendenaktion gezeigt hatte.

Der darauf folgende Mediensturm war so heftig, dass sich Robert A. Iger entschuldigte und sagte, er würde eine persönliche Spende leisten. "Wenn es etwas gibt, das Disney ernster nimmt als geistiges Eigentum, dann ist es das Image in der Öffentlichkeit.", frotzelte Rechtsanwalt Aaron J. Moss, der explizit auf die ständig anwachsende "Creator Culture" der sozialen Medien von YouTube bis TikTok aufmerksam macht. Diese Landschaft könnte für Disney eine Herausforderung darstellen, wenn "Steamboat Willie" PD-Status erhält. "Sie werden nicht in der Lage sein, alle zu verfolgen", sagt Moss, "Kampflinien müssen gezogen werden." Frau Ginsburg gibt an, sie beobachte genau, ob Disney und andere Medien-Unternehmen versuchen, das Markenrecht als Ersatz oder Erweiterung des Urheberrechts anzuwenden, um, wie sie es ausdrückt, "einen separaten Schutz anzuwenden, der letztendlich greifen kann".
 
Im Falle von "Steamboat Willie" hat Disney dies unlängst getan. 2007 wurde das Firmenlogo neu gestaltet, der pfeifende Steamboat-Micky darin integriert und damit markengeschützt. Vielleicht - ich spekuliere hier - ist sogar Mickys optische wie charakterliche (freche) Rückkehr in alte Zeiten, welche 2013 begann (aktuelles Franchise: "The Wonderful World of Mickey Mouse"), nicht nur eine künstlerische Frischzellenkur, sondern schlägt auch rechtlich einen Bogen in die Vergangenheit, um später eventuelle Ansprüche des Konzerns unterfüttern zu können.
 
Die Themen Micky Maus und Urheberrecht sind seit Ende der 1990er Jahre im öffentlichen Bewusstsein, als sich Disney und andere Medienunternehmen erfolgreich für eine Ausweitung des Urheberrechtsschutzes im Kongress einsetzten. In vielerlei Hinsicht ist Micky dabei zum ultimativen Symbol für geistiges Eigentum geworden. Die Verlängerung des Urheberrechts von 1998 löste einen hässlichen Rechtsstreit aus, wobei Kritiker argumentierten, der Kongress habe die Verfassung missachtet, die klar vorsieht, dass Urheberrechtsschutz nur für eine begrenzte Zeit gewährt werde.

Laut Paul Goldstein, Professor an der Stanford Law School und Autor einer fünfbändigen Abhandlung über das US-Urheberrecht, tauchten damals erstmals "Free the Mouse"-Autoaufkleber auf. "Disney hat nicht aktiver auf die Verlängerung gedrängt als alle anderen, aber der Konzern habe einen bequemen Bösewicht abgegeben.", sagte er. Ginsburg und ihre Richter-Kollegen segneten zwar damals die Kongress-Entscheidung ab, warnten aber vor einer erneuten Verlängerungs-Forderung, die wohl nur in einer unsäglichen Schlammschlacht enden würde. Auch Rechtsanwalt und Medienexperte Daniel Mayeda erklärt: "Sie haben ihre Amtszeit für Micky & Co. erfolgreich verlängert, aber ich denke, dies wird das Ende der Fahnenstange sein."
 
EdiGrieg
unter Zuhilfenahme eines Artikels von Brooks Barnes
(New York Times, 27.Dezember 2022)