Samstag, 12. November 2011

Fantasia - Elemente eines Meisterwerks: Le Sacre du Printemps

Fantasia is timeless. It may run 10, 20 or 30 years. It may run after I'm gone. Fantasia is an idea in itself. I can never build another Fantasia. I can improve. I can elaborate. That's all.“ - „We all make mistakes. Fantasia was one, but it was an honest mistake. I shall now rededicate myself to my old ideals.
- Walt Disney


Ganz im Sinne dieser geradlinigen Beurteilung seines Schöpfers möchte ich in dieser Artikelreihe Im Schatten der Maus Walt Disneys zeitlosen Fehler näher beleuchten:

Fantasia – Die Elemente eines Meisterwerks
Das nächste Segment ist ein Stück der Superlative. Es ist der längste und jüngste Teil von Fantasia, der einzige ohne Fantasy-Elemente und neben dem Tanz der Stunden auch der einzige, der keine deutschen Wurzeln hat: Le sacre du printemps

Igor Strawinski schrieb das Ballett 1912 unter dem vollständigen Namen Le sacre du printemps. Tableaux de la Russie païenne en deux parties (auf deutsch Das Frühlingsopfer. Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen, bzw. Весна священная, Vesna svyashchennaya). Später erzählte er, die Idee zu dem Werk sei ihm als traumartige Vision erschienen: Das Bild eines jungen Mädchens, das sich inmitten einiger Stammesältester in einem Todestanz wiegt um mit ihrem Opfer den Gott des Frühlings günstig zu stimmen.
Die Choreographie stellt dieses rituelle Jungfrauenopfer auf der Bühne traditionell inmitten einer Serie von Stammestänzen im prähistorischen Russland dar. Diese „klassische“ Interpretation war für Strawinski allerdings nicht die einzig mögliche: Er wollte durch die rythmische Struktur und die Nutzung von Dissonanzen ganz allgemein einen Eindruck des „primitiven Lebens“ erwecken; eine prähistorische Frühlingsgeburt.

Das innovative Werk blieb nicht wirkungslos: Bei der Uraufführung 1913 in Paris kam es zu Randalen und die Zuschauer unterbrachen die Aufführung durch Pfiffe und spöttisches Gelächter. Schließlich wurde der Tumult so laut, dass die Tänzer die Musik nicht mehr hören konnten und man ihnen den Takt aus dem Hintergrund zurufen musste.
Obwohl der Skandal mehr auf die Inszenierung als auf die Musik zurückzuführen war, nutze Strawinski ihn geschickt, um den Grundstein für seine internationale Berühmtheit zu legen.

Walt Disney plante früh, ein Werk von Strawinski für Fantasia zu benutzen, doch die Wahl lag lange auf dem Feuervogel. Erst nachdem die Künstler einige Monate lang auf keine geeignete Idee kamen, das Stück visuell umzusetzen, schlug Deems Taylor schließlich vor, stattdessen Strawinskis Frühlingsopfer zu nutzen. Disney hatte schon länger nach einer Musik gesucht, die sich für ein prähistorisches Thema eignete und war schnell von dem Werk überzeugt.
Für 6.000 Dollar kaufte Disney die Rechte, das Stück in freier Form zu nutzen und beliebig zu überarbeiten. In der finalen Version wurde diese Möglichkeit der Umstrukturierung ausgiebig genutzt: Der erste Akt wurde erheblich gekürzt und statt dem eigentlichen Finale von Akt II wurde das markante Eröffnungssolo am Ende wiederholt.

Als Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts war Strawinski der einzige Inspirationsgeber von Fantasia, der die Umsetzung seines Werkes begutachten und vor allem öffentlich bewerten konnte.
In späteren Jahren äußerte er sich über das Segment alles andere als begeistert, doch schenkt man den Berichten aus dem Hause Disney Glauben, so war seine ursprüngliche Reaktion weit gemäßigter. Es heißt, dass er bei einem Besuch in den Studios die Konzeptbilder und unfertigen Ideen interessiert gemustert habe; er soll sogar gesagt haben, dass die Neuinterpretation seines Werkes die Grundidee sehr wohl wiedergebe. Auch die Tatsache, dass er kurze Zeit nach der Premiere Disney auch die Rechte an dem Feuervogel und zwei weiteren Stücken verkaufte spricht dafür, dass Strawinski der fertigen Umsetzung nicht abgeneigt war.
Gleichwohl hatte er in späteren Jahren für die Umsetzung des Stückes kein gutes Wort übrig. Er verdammte die musikalische Präsentation und bezeichnete die Animation als “unresisting imbecility”, eine “bedingungslose Idiotie”.

Zur Entstehungszeit von Fantasia war die Evolutionstheorie noch vergleichsweise jung und in der Bevölkerung noch nicht allgemein bekannt. Dinosaurier wurden eher als mythologische Wesen denn als wissenschaftliche Tatsache empfunden und standen in Filmen auf einer Stufe mit King Kong und Godzilla.
Im Gegensatz dazu entschied sich Disney dafür, das Thema auf einer absolut wissenschaftlichen Ebene anzugehen. Das Ergebnis ist ein aus acht Sequenzen bestehender Film, der die Entstehung der Welt erstmals anschaulich darstellt und bis heute offiziell in Schulen benutzt wird.
Die Künstler wollten dem Stück das Gefühl einer Dokumentation geben, oder, wie Disney es ausdrückte, einer Expedition des Studios zurück in die Urzeit. Ihn faszinierte die Vorstellung, dem Zuschauer ein einmaliges Schauspiel bieten zu können, wie es noch kein Mensch gesehen hatte und er fühlte, dass die Natur selbst, der Rhythmus von Erde, Feuer und Wasser, auf diese Weise dargestellt werden könnte.

Die ersten Sequenzen des Frühlingsopfers stellen den Beginn unseres Planeten vor rund einer Milliarden Jahre dar; aufwändige Animationen, die ausschließlich aus Effekten bestehen. Zur Zeit von Fantasia war das Medium des Zeichentricks noch jung und gerade in Bezug auf Spezialeffekte gab es für die Zeichner keine Größen, an die man sich halten konnte. Walt Disney sorgte dafür, dass die Künstler ihre Ideen teilten und versuchten, sich die grundlegenden Kunstfertigkeiten der Animation gegenseitig beizubringen. Vielleicht liegt es daran, dass die Ideen für die verschiedenen Effekte für Fantasia um einiges unkonventioneller wirken als die in späteren Filmen.
Um den Eindruck des unendliches All zu erschaffen, arbeitete man mit realen Aufnahmen einer dunklen Wand mit Löchern und eines Modells der Erde, über das dann gezeichnete Kometen gelegt wurden, außerdem wurde für die Aufnahmen des Universums eigens eine kreisförmige Multiplane-Kamera entwickelt. Auch für die ersten Szenen auf der noch unbewohnten Erde wurde mit einer Kombination von realen Aufnahmen und Animation gearbeitet: Der Rauch der Vulkane entstand durch Tinte in klarem Wasser und die platzenden Lavablasen basieren auf einerm Gemisch von Mehl, Schlamm und Kaffee, in das Luft geblasen wurde.
Es ist eine bemerkenswerte Parallele, dass eine derart eng verknüpfte Mischung von echten Hintergründen und animierten Bewegungen wohl erst 2000 in Disneys „Dinosaurier“ wieder zustandekam.


Nachdem durch die Magie der Animation zu Beginn der Raum – um genau zu sein, etwa 50 Millionen Lichtjahre – in wenigen Minuten komprimiert werden, geschieht anschließend dasselbe mit der Zeit. In einer berückenden Sequenz kann der Zuschauer den Fortschritt der Evolution plastisch mitansehen; die Entwicklung von der Amöbe bis zum atemberaubenden Dinosaurier.
Vor Fantasia waren Dinos im Zeichentrickgenre ausschließlich zu Comedy-Zwecken präsent, der Ansatz, sie als realitätsnahe Urzeitgiganten darzustellen, war vergleichsweise radikal. Zu diesem Zweck studierten die Zeichner die Anatomie von prähistorischen Funden und kombinierten diese mit den Bewegungen von noch lebenden Repitilien, wie einem Baby-Aligator, der in die Studios gebracht wurde. So gelang es, den Dinosauriern – Tiere, von denen heute nur noch Knochen übrig sind – natürliche Bewegungen zu verleihen und sie somit erstmals auf der Leinwand zum Leben zu erwecken; 50 Jahre vor „Jurassic Park“.

Es war Disneys Idee, das ursprüngliche Opferthema in Form eines Kampfes um Leben und Tod als Höhepunkt des Segments zu verwirklichen. Der brutalen Kampf zwischen einem Tyrannosaurus Rex und einem Stegosaurus wurde von Wolfgang „Woolie“ Reiterman umgesetzt, dem Zeichner, der auch andere monumentale Begegnungen wie Monstros Jagd nach Pinocchio und den Kampf zwischen Phillip und dem Drachen großartig umsetzte. Um den Eindruck eines realistischen Größenverhältnisses zu erzeugen, zeichnete er als Hilfe zuerst hohe Wolkenkratzer, zwischen denen er die Dinosaurier dann einfügte.
Die ersten Entwürfe sahen als Opfer einen Triceratops vor, doch der stachelbesetzte Schwanz des Stegosaurus versprach eine eindrucksvollere Verteidigung und so erhielt er die Rolle. Aus heutiger Sicht vielleicht eine unglückliche Entscheidung, bedenkt man, dass nach modernem Wissen Tyrannosaurus Rex und Stegosaurus im Abstand von 75 Millionen Jahre zueinander gelebt haben.

Auch das Aussterben der Dinosaurier, das in der vorletzten Sequenz eindrucksvoll dargestellt wird, entsprach der wissenschaftlichen Vorstellung seiner Zeit. Damals ging man davon aus, dass ein Klimawandel und die damit verbundene Erderwärmung den Giganten den Garaus machte, auch wenn es der heutigen Theorie zufolge wohl eher die Folgen eines Meteoriteneinschlags waren.
Die früheren Konzepte für das Frühlingsopfer sahen vor, das Stück mit dem Erscheinen der Menschen und dem Gewinn des Feuers abzuschließen, doch die Furcht vor der Kritik von Kreationisten und allgemeinen Boykotten ließe Disney schließlich davon absehen. Nun endet das Segment mit einer großen Überschwemmung, die das Aufeinandertreffen von Feuer und Wasser vom Anfang wiederaufgreift – in beiden Fällen der Beginn einer neuen Ära. Unterstrichen wird diese Symbolik von der Musik, die ganz zum Schluss das Eingangsthema wiederholt.
Disney hatte Anfang Bedenken, dass der Schluss des Frühlingsopfers den Rest des Filmes überschatten würde und wollte es ans Ende des Filmes setzen; nun stellt das Segment immerhin das Finale des ersten Aktes dar und in der Originalversion entließ es die Zuschauer in die Pause.


Zu der modernen und skandalträchtigen Musik von Strawinski schuf Disney ein grenzendurchbrechendes Stück Filmgeschichte. Es ist sicher eines der kontroverseren Stücke von Fantasia; ein Kritiker bezeichnete es als „vielversprechende Montrosität“.
Obwohl die Geschichte der Evolution bis hin zum qualvollen Ende der Dinosaurier auf den ersten Blick ein unwahrscheinliches Thema für einen Disneyfilm scheint, ist es typisch für den Geist von Walt Disney und die Ambition, den er gerade in der Anfangszeit seines Studios an den Tag legte: Es ging ihm darum, Grenzen auszutesten und neue Wege zu beschreiten.

Auch in ihrem heutigen Verlauf ist die Geschichte der Disney-Studios beeindruckend genug, doch was die „Traumfabrik“ noch alles geleistet hätte, wäre Fantasia ein Erfolg gewesen, lässt sich kaum erahnen.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

2 Kommentare:

Hoyrica hat gesagt…

Hervorragender Artikel!
Kommentar der Jury: Einen Stokowski ziehen wir ab (die richtige Antwort lautete Strawinsky), macht also 9, plus Spitze: 10 Punkte!

Ananke hat gesagt…

Huch - Schande über mein Haupt!
Dass die so ähnlich klingen müssen - Stokowski ist doch auch kein Name für einen Briten ... ;-p

Fehler ist behoben, ansonsten danke für das Lob.

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