Samstag, 14. Januar 2012

Fantasia - Elemente eines Meisterwerks: Die Pastorale

Fantasia is timeless. It may run 10, 20 or 30 years. It may run after I'm gone. Fantasia is an idea in itself. I can never build another Fantasia. I can improve. I can elaborate. That's all.“ - „We all make mistakes. Fantasia was one, but it was an honest mistake. I shall now rededicate myself to my old ideals.
- Walt Disney


Ganz im Sinne dieser geradlinigen Beurteilung seines Schöpfers möchte ich in dieser Artikelreihe Im Schatten der Maus Walt Disneys zeitlosen Fehler näher beleuchten:

Fantasia – Die Elemente eines Meisterwerks
Diesmal kommt es zu einer wahren Sensationsausgabe. Sie beschäftigt sich mit ausgetauschten Komponisten, herausgeschnittenen Darstellern und dem am höchsten kritisierten Stück des Films: Die Pastorale

Auf der Suche nach geeigneten Stücken für Fantasia gelangte das Ballett Cydalise et le chèvre-pied von Gabriel Fierné schnell in den Fokus des Disney-Studios. Es schien sich gut für eine Verarbeitung zu eignen und bald fingen die Zeichner an, Figuren und Konzepte zu entwickeln, um das in der griechischen Mythologie angelegte Werk originalgetreu darzustellen.
Die Bilder und Ideen fanden allgemein großen Anklang, doch während der Besprechungen wurde mehr und mehr klar, dass Fiernés Stück zu kurz und zu undramatisch war, um das Potential der entwickelten Figuren voll auszuschöpfen.

So wurde schließlich eine Entscheidung getroffen: Ein anderer Komponist musste her. Eine Zeit lang stand die Frage im Raum, ob man ein zeitgenössisches Werk suchen oder sogar einen Komponisten anstellen solle, ein entsprechendes Stück zu schreiben. Doch nach einigen Wochen des Hin- und Herüberlegens wurde schließlich der Entschluss gefällt, Ludwig van Beethovens Sechste Sinfonie für das Segment zu verwenden, die Pastorale.

Diese Idee galt allgemein als kühnes Vorhaben und Disney erntete selbst aus den eigenen Reihen viel Protest. Selbst Strawinski war dagegen und meinte, Beethovens Musik sei zu berühmt und die Art der Verwendung zu trivial. Dazu sagte Disney nur souverän: „This will make Beethoven.“
Diese Einschätzung mag hochgegriffen sein, aber für viele Menschen - die Autorin dieser Zeilen inbegriffen - war Fantasia die erste Einführung in Beethovens Werk.

Als die Entscheidung einmal gefallen war, war es ein Leichtes, die vorgefertigten Olympischen Ideen in Beethovens Landschaftsidylle zu versetzen. Die Pastorale ist eines der wenigen Programmstücke Beethovens und erzählt in fünf Abschnitten die Geschichte eines idyllischen Tages auf dem Lande mit der Ankunft, Szenen am Fluss, einem Fest, einem Gewitter und dem beschaulichen Ausgang. Bedenkt man die Umstände, so kann man sagen, dass sich Disneys Version erstaunlich nahe an die originale Intention des Stückes gehalten hat.
Walt Disney sagte selbst, er wolle die eigentliche Pastorale darstellen - nur eben auf eine Weise, wie sie nur im Zeichentrick und nicht auf der Bühne möglich wäre.

Das Segment beginnt mit einem idyllischen Morgen auf dem Olymp, und durch die ersten Einhörner, die nicht einfach erscheinen, sondern langsam eingeblendet werden, wird sofort das Traumartige der gesamten Idee unterstrichen. Schnell wird klar, dass hier nicht die Hallen der Götter und die üblichen Olympischen Schauplätze gezeigt werden, sondern die Umgebung, in der die mythischen Wesen leben und ihre Zeit verbringen.
Für den Art-déco-Stil, in dem die Götterwelt entworfen wurde, waren dieselben Leute verantwortlich, die später die Pläne für Disneyland entwerfen sollten.

Das Erscheinen von Pegasus und seiner Familie war das erste Mal, dass ein fliegendes Pferd im Film dargestellt wurde - nicht nur auf der großen Leinwand ein atemberaubender Anblick.
Die Animation der fliegenden Pferde stellte die Zeichner vor ganz unerwartete Fragen, wie die nach der genauen Flügelbewegung, oder wie solch ein Tier im Wasser aufkommen würde. Walt Disney selbst entschied, dass sich die Pferde im Wasser wie Schwäne bewegen sollten, mit Flügeln, die über dem Rücken majestätisch aufgestellt bleiben.

Unter den vielen Konzeptbildern von ungenutzten Ideen und Figuren sind auch einige Zeichnungen von Nixen und Wassernymphen. Es ist wohl anzunehmen, dass ein paar dieser Bilder zur Inspiration für das erste Erscheinen der Zentaurinnen wurden.
Der Moment der ersten Begegnung mit den Zentaurinnen spielt sanft mit den Erwartungen der Zuschauer, während er eine langsame Metamorphose darstellt: Von der Blüte auf dem Haupt des einsamen Mädchens über den Reigen der badenden Grazien, die sich als nicht menschlich herausstellen, bis schließlich zur vollen Enthüllung der ersten Zentaurin.
Diese unvergleichliche Szene ist einer der Gründe, warum ich die erweiterte Erklärung, die Taylor in der neuesten (und ursprünglichen) Fassung des Films zu dem Segment abgibt, nicht mag. Der Eindruck, den diese Szene hinterlässt, ist so stark, dass ich mich heute noch an meine Gedanken während des ersten Males erinnern kann und ich kann nur vermuten, dass Taylors im Vorhinein gegebener Hinweis auf das Kommende den Zauber der Szene für einen erstmaligen Zuschauer trüben würde.

Auf einem anderen Blatt steht, dass Taylor die Zentaurinnen (engl. centaurettes) implizit als völlig neue Schöpfung Disneys darstellt. Dabei sind solche Wesen naturgemäß praktisch so alt wie die Darstellung der Zentauren selbst.

Als Zentauriden oder Kentauriden wurden sie schon von Ovid erwähnt und auch in Shakespeares „König Lear“ werden weibliche Zentauren beschrieben, obwohl sie dort keine eigene Bezeichnung tragen.

Nach einem Blick auf Disneys Version der Fabelwesen dürfte klar sein, dass wir es hier mit dem Werk von Fred Moore zu tun haben, dem Künstler, der in den Studios bekannt für seine lasziven Mädchen- und Frauengestalten war. Was die Gewagtheit der Zeichnungen angeht, so konnte sich Moore wohl in keinem Film mehr verwirklichen, als bei diesen jugenlich-sinnlichen, nackten Körpern - auch wenn die fertigen Bilder gegenüber den Zeichnungen sogar noch ein wenig entschärft wurden.
Die gleiche „Entschärfung“ dürfte es allerdings sein, die den männlichen Zentauren einiges von ihrem Potential genommen hat. Sie sehen zart und beinahe weibisch aus und die nackten, konturlosen Oberkörper geben ihnen stellenweise ein gummiartiges Äußeres.
Vielleicht wäre für die männlichen Gegenstücke der Zentaurinnen ein anderer Zeichner als Moore geeigneter gewesen. Speziell Bill Tytla drückte großes Interesse an dieser Aufgabe aus; ihm schwebten „große Hengste mit dunklen, mediterranen Gesichtern“ statt der „kastrierten Pferdchen mit angelsächsischen Köpfen“ vor. Stattdessen wurde er von Walt Disney zur Animation von Chernabog im letzten Segment des Films eingeteilt. Dessen dunkles Äußeres und seine animalische Kraft können einen Eindruck vermitteln, was Tytla aus den Zentauren hätte machen können.

Den gleichen Kontrast von Konzeptbildern und fertiger Animation trifft man auch bei den Göttergestalten, insbesondere Bacchus und Vulkan an. Spielten die ursprünglichen Bilder noch mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Karikatur, so sind die beiden im fertigen Film zu reinen Cartoons geworden.

Nebenbei sollte man den Namen von Bacchus‘ Esel-Einhorn erwähnen, Jacchus. Zum besseren Verständnis bitte englisch aussprechen ;-)

Zeus selbst - da die Götter von Taylor in beliebiger griechisch-römischer Mischung angekündigt wurden, passe ich mich hier seinen Bezeichnungen an - tritt mit eher ungewohnter Charakterisierung auf, die eher an den überschwänglichen germanischen Donnergott erinnert. Vielleicht ist dies sogar eine der Inspirationen für die ebenso untraditionelle Darstellung in Disneys „Hercules“.

Es folgt eine beeindruckende Sturmszene, die natürlich perfekt mit Beethovens Unwetter zusammenpasst, eine Hommage an das Bild „Der Sturm“ von Pierre-Auguste Cot und der wohl größte Weinfluss, den man bei Disney je erleben wird - abgemildert nur durch die Tatsache, dass seit dem Zerstampfen der Trauben wohl noch keine allzu große alkoholische Gärung eingesetzt haben dürfte.
Wir sehen, was wirklich am Ende des Regenbogens liegt, und betrachten die Spiele der Cherubim im Wasser, die verdächtig an die Silly Symphony „Waterbabies“ erinnern. Nun hat eine Auswahl der populäreren Götter noch ihren großen Auftritt, und spätestens bei Apollos Himmelsfahrt sollte klar sein, dass Beethovens Genie und die griechische Götterwelt wirklich eine beeindruckende Kombination abgeben.

In einem der letzten Bilder des Segments sieht man Melinda und Brutus, das blaue Zentaurenpaar, eng aneinandergeschmiegt unter einem Baum schlafen. Auffällig an diesem Bild ist, dass nun Melindas Haare erstmals offen hängen und sie damit das einzige Kleidungsstück, dass sie trug, verloren hat. Dadurch gewinnt das Idyll meiner Meinung nach eine reizende Implikation.
Gegen diese Deutung könnte man natürlich auf die kleinen Faune hinweisen, die unschuldig zwischen ihnen liegen. Nach einer kurzen Erinnerung an die mythische Bedeutung von Faunen sollte allerdings klar sein, dass diese Wesen als Anstandshüter denkbar ungeeignet sind ...


Was übrigbleibt ist das, was die Amerikaner als einen „Elefant im Raum“ bezeichnen - wie könnte man einen Beitrag über die Pastorale schreiben, ohne auf Sunflower und ihre weniger populäre Schwester Otika zu sprechen zu kommen?
Auch wenn auf diesem Plakat praktisch keine Farbe korrekt dargestellt ist: Ja, das dort ist ein kleines schwarzes Zentaurenmädchen, das ihrer Herrin die Schleppe hinterherträgt.

Es handelt sich um Sunflower, eine schwarze Zentaurin, die als Dienerin oder Gehilfen der älteren Zentaurinnen eine kleine Rolle hat. Sie und Otika kommen in insgesamt vier kurzen Szenen vor, die seit Ende der sechziger Jahre konsequent aus allen Veröffentlichungen des Film herauszensiert sind - so drastisch, dass eine Zeit lang nicht einmal ihre Existenz als bewiesen galt.

In Zeiten des Internets ließ sich dieses vollständige Verschweigen nicht mehr aufrechterhalten, und so wird Sunflower zumindest in einem der Audiokommentare auf der neuen Blu-ray erwähnt - mit dem Hinweis, dass es für Geschichtsinteressierte sicher genug Möglichkeiten gibt, an die gewünschten Informationen zu kommen.
Deutlicher kann Disney kaum auf YouTube und Bootlegs verweisen ...


Da die Bilder und die Musik in Fantasia eine perfekte Einheit bilden, war es mit größeren Schwierigkeiten verbunden, die beiden Mädchen unbemerkt aus der Szene zu schneiden.
In der Version auf der alten SC-DVD wurden sie soweit möglich aus dem Bild herausgezoomt, und wo Schnitte unvermeidbar waren, wurde das Bildmaterial durch Spiegelung und Wiederholung auf die benötigte Länge gestreckt.
Die neuere Fassung, die auf der neuen DVD und der Blu-ray zu finden ist, macht sich die Mühe, die zwei Zentaurinnen Bild für Bild herauszuretuschieren und lässt so das Original so unangetastet wie möglich. Leider ist für zwei Sekunden auch hier die Wiederholung einer Szene nötig, die zwar kürzer ist, aber dafür stärker auffällt als in der alten Version.
Im Übrigen gibt es nach Videos auf YouTube noch mindestens eine weitere Schnittversion, in der auch hauptsächlich gezoomt wird.

Bei den folgenden Vergleichsbildern ist jeweils links das Original, in der Mitte die ältere SC-Fassung und rechts die neuere Blu-ray-Fassung zu sehen.


Diese Szene stellt für die Retuschierung die größte Herausforderung dar:
Da Sunflower alleine im Bild ist, lässt sich das Material weder zoomen noch retuschieren, daher die unglücklichen Wiederholungen der zensierten Versionen. in der SC-Version wird später eine Einstellung der männlichen Zentauren wiederholt, in der Blu-ray-Fassung fährt sich die gelbe Zentaurin später mit der gleichen Geste zweimal durch das Haar.
Beide Maßnahmen führen dazu, das Bild und Ton einige Szenen lang leicht verschoben sind - da sich währenddessen die Zentaurinnen aber nur leicht zur Musik bewegen, fällt diese Verschiebung praktisch nicht auf.



Während Sunflower wirklich vollkommen aus dem Film geschnitten wurde, hat es Otika zumindest zwei Bilder lang in die SC-Version geschafft:

Mit zeitgerecht gedrückter Pausetaste kann man hier zumindest ein Stückchen ihres Hinterteils entdecken. Die neue Fassung hat allerdings auch diese Winzigkeit behoben.


Es sollte auf einen Blick klar sein, warum Sunflower und Otika aus dem Film herausgeschnitten wurden. Ihr Darstellung ist nach heutigen (soll heißen, objektiven) Standards definitiv rassistisch; sie sind eindeutige Karikaturen von schwarzen Dienst- oder Sklavenmädchen, die ihren schöneren kaukasischen Herrinnen untergeben sind.
Allerdings ist die Sache im Kontext der Zeit zu sehen. Diese Art der Darstellung war damals nicht ungewöhnlich und man könnte sagen „nicht böse gemeint“. Die Mädchen werden nicht ausgenutzt; sie scheinen ihre Aufgabe gerne und pflichtbewusst zu übernehmen. Ein wohl noch wichtigerer Rehabilitationsgrund ist der, dass die beiden dunklen Zebra-Zentaurinnen, die Bacchus begleiten, ebenso schön und grazil aussehen, wie der Rest der Damen.

Die aktuell interessantere Frage ist wohl, wie diese Art der Zensur auf den aktuellen Medien zu bewerten ist. Es handelt sich um die übliche Frage: Sollte man Fehltritte der Vergangenheit lieber verstecken, oder mit einer Entschuldigung versehen eingestehen? Offensichtlich hat sich Disney wie auch bei dem berühmt-berüchtigten Film „Onkel Remus‘ Wunderland“ für ersteres entschieden.
Ein idealer Ansatz sähe wohl anders aus. Auch wenn die unzensierte Version als „nicht kindgerecht“ angesehen werden könnte, sollte das Original für interessierte Zuschauer doch verfügbar bleiben - und das wenn möglich in besserer Qualität, als sie Bootlegs mit alten Fernsehaufnahmen bieten können.

Zum Start von Fantasia war die Pastorale das am heftigsten kritisierte Segment des Films. Es wurde als eine Trivialisierung von Beethoven bezeichnet und als respektloser Umgang mit klassischer Kunst.
Zweifelsfrei war die Kombination von Beethoven, griechischer Mythologie und Disneys Zeichentrick ein kühnes Vorhaben. Es ist wohl nicht unwahrscheinlich, dass Beethoven selbst, hätte er die Gelegenheit, das Ergebnis als Kitsch verdammen würde.

Natürlich wird in Fantasia nicht Beethovens Heimatlandschaft oder eine griechische Sagenwelt dargestellt, sondern ein rein amerikanischer Märchen-Olymp. Aber das ist eben die Weise, auf die Disney-Filme funktionieren, eine wirkungsvolle Mischung aus Stilisierung und Verherrlichung.
Statt weiter nach der originalen Intention der Künstler und Komponisten zu fragen, bietet die Pastorale vielleicht Gelegenheit für die Überlegung, inwieweit es jeder Kunstgattung erlaubt sein muss, sich über festgelegte Konventionen der „alten Meister“ hinwegzusetzen, um neue, unerwartete Kunst zu schaffen.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hallo,
ich bräuchte bitte eine Literaturangabe. Woher zum Beispiel habt ihr das Wissen über den Wechsel von Gabriel Fierné zu Beethoven?
Danke. :)

Ananke hat gesagt…

Wenn ich mich recht erinnere, stammte das unter anderem aus diesem Buch hier:
http://www.amazon.com/gp/product/0810980789
Ich müsste aber noch mal nachschauen, um sicher zu gehen.

In jedem Fall ist Culhanes Buch für solches Hintergrundwissen extrem empfehlenswert, und bei den momentanen Gebrauchtpreisen ein echtes Schnäppchen.

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