Samstag, 7. April 2012

Spezial: Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern


Nachdem meine Artikel-Reihe über die Fantasia-Segmente beendet ist, und bevor ich eine neue Reihe über die originalen Quellen einiger Disneyfilme beginne, schreibe heute eine Art Bindeglied: einen Artikel über den Kurzfilm Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern.

Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern (zu finden als The Little Matchgirl auf youtube) ist nach Destino, Lorenzo und One by One der letzte einer Reihe von musikalischen Filmen, die von den Disney Animation Studios Anfang des letzten Jahrzehnts produziert wurden. Eigentlich sollten diese Segmente Teil eines dritten Fantasia-Films werden, doch aus Gründen der erwarteten Rentabilität entschied man sich bei Disney schließlich, das Projekt fallenzulassen und die Kurzfilme einzeln zu veröffentlichen. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern wurde 2006 bei dem Annecy Film Festival präsentiert und erntete in dem Jahr eine Oscar-Nominierung als bester Kurzfilm.

Die Entscheidung, Andersens Märchen als musikalisch untermaltes Segment zu verfilmen, war früh getroffen, doch es dauerte einige Zeit, bis sich die Künstler auf eine geeignete Musik geeinigt hatten. Erinnert man sich an meinen letzten Artikel, so ist es einigermaßen ironisch, dass der ursprüngliche Vorschlag Debussys Clair de Lune war, ein Stück, dass schon in den Vierziger Jahren die musikalische Untermalung für ein Fantasia-Segment lieferte, und auch damals schließlich ersetzt wurde.
Nach einigen Entwürfen war vor allem Roy Disney jedoch mit dem Stück nicht zufrieden. Nach weiterer Suche fanden sie in dem dritten Satz von Alexander Borodins Streichquartet Nr. 2 in D-moll eine Hintergrundmusik, die ihnen mehr Dramatik und stärkere musikalische Leitlinien bot.

Die Reihenfolge, in der die verschiedenen Teile des Filmes zusammenkamen - erst Handlung, dann, nach einigem Schwanken, Musik - ist symptomatisch für die Entwicklung, die die Kurzfilme der verschiedenen Fantasia-Projekte im Lauf der Zeit durchwandert haben.
Anders als in Fantasia, wo der Inhalt der einzelnen Segmente maßgeblich vom Charakter der Musik bestimmt wurde und ein erzählendes Segment wie der Zauberlehrling nur zustande kam, weil die Musik an sich schon für diese spezielle Geschichte geschrieben wurde, bildeten die ausgewählten Stücke in Fantasia 2000 in sehr viel höherem Maße nur noch musikalische Untermalung, die an den Soundtrack eines Stummfilms erinnerte. Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern geht noch einen Schritt weiter: Hier ist die Musik nicht mehr als ein Werkzeug zur Stimmungsunterstreichung, das die Handlung begleitet, jedoch nicht fest mit ihr verknüpft ist. Im Gegensatz zu Fantasia 2000‘s Standhaftem Zinnsoldaten wäre es hier kein Problem, Borodins Stück gegen ein anderes passendes Werk auszutauschen.


Die wirkliche Quelle des Kurzfilmes liegt nicht in der Musik, sondern in der Handlung, die dem Film zugrunde liegt: Hans Christian Andersens „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ („Den lille Pige med Svovlstikkerne“).
Der dänische Dichter schrieb das Kunstmärchen über ein Mädchen, das am Sylvesterabend langsam erfriert 1845 auf der Basis einer Kalenderillustration, die eine kleine Streichholzverkäuferin darstellte. Auch das Grimm‘sche Märchen der Sterntaler wird als bekannte Inspiration angegeben, und eine andere Anregung war ein Erlebnis von Andersens Mutter, die als Mädchen von ihrem Vater zum Betteln hinausgeschickt wurde und an einem Abend solche Angst hatte, mit leeren Händen heimzukommen, dass sie die Nacht unter einer Brücke verbrachte und beinahe zu Tode fror.

Die Disneyversion des Märchens hält sich beeindruckend genau an ihre literarische Vorlage. Die Geschichte wird beinahe eins zu eins umgesetzt und die größte Veränderung betrifft noch den Handlungsort: Regisseur Roger Allers verlegte die Geschichte nach Sankt Petersburg wegen der frostigen Assoziationen, die er mit den russischen Wintern verband und auch wegen der starken Klassenunterschiede, die speziell im vorrevolutionären Russland herrschten. Allerdings wird in dem Märchen außer einer kurzen Erwähnung der blonden Haare des Mädchens sowieso nichts über die äußeren Umstände gesagt, so dass Disneys Wahl des Settings wohl mehr als legitim ist.

Eine andere, sehr subtile Veränderung liegt in der Reihenfolge der verschiedenen Visionen. In der Geschichte sieht das Mädchen die Sternschnuppe am Himmel noch bevor sie von ihrer Großmutter träumt, und sie erinnert sich an deren Worte, dass dies das Zeichen sei, dass eine Seele zu Gott aufsteigt - im Disneyfilm ist die Sternschnuppe das letzte Bild des Filmes. Während im Märchen also nicht ganz klar wird, ob der Tod, den das Mädchen in der Sternschnuppe sieht, ihr eigener ist, so ist diese Assoziation im Film eindeutig, wenn die Sternschnuppe am Himmel erscheint, direkt nachdem die Kleine im Arm ihrer Großmutter davongetragen wurde.

Bei genauer Detailbetrachtung kann man im Film auch eine Anspielung auf die Sterntaler-Wurzeln des Märchens entdecken. Wie in Andersens Geschichte beschrieben, verwandeln sich die Lichter des Weihnachtsbaumes in die Sterne am Himmel, doch in dem Film beginnen diese Sterne im nächsten Moment, vom Himmel zu fallen - nicht als Goldstücke, um das Mädchen zu retten, sondern als Schneeflocken, die ihren toten Körper bedecken. So wird klar, dass dies nicht die romantische Märchen-Version ist, sondern eine realistische Erzählung, in der das Kind zumindest in dieser Welt nichts mehr zu erwarten hat.

Ansonsten sind die Visionen etwas ausführlicher dargestellt und die zusätzlichen Möglichkeiten, mit Musik und Bildern zu arbeiten werden herzergreifend genutzt. Gerade der Kontrast zwischen der warmen Traumwelt und der kalten, harschen Realität werden durch die Unterschiede in der Farbpalette, die konsequent zwischen düsteren Grautönen und dem orangefarbenen Licht des Feuers wechselt wunderbar unterstrichen.
Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern ist übrigens der letzte Film aus dem Hause Disney, der das CAPS-Verfahren für die Kombination von Animation und Hintergründen genutzt hat und auf diese Weise eine perfekte Technik entwickelte, die gezeichneten Figuren in die mit Wasserfarbe gemalten Hintergründe einzufügen.

Insgesamt kann man vielleicht sagen, dass die Bilder des Films etwas großartig angelegter sind, als es für das einfache Märchen vonnöten wäre. Andersens Stil ist betont schlicht und kommt ohne große Bildmalerei aus, und mit etwas bösem Willen lässt sich die eingefügte Schlittenfahrt durch den Schnee als überflüssiger Disney-Kitsch abtun. Doch diese Überlegung grenzt an Haarspalterei; auch wenn die Bilder vielleicht noch etwas melodramatischer erscheinen, so erzählt der Film die Geschichte doch ohne irgendetwas am Thema oder der Botschaft des Originals zu verändern.
Andersen ist bekannt dafür, dass viele seiner Märchen wehmütig bis tragisch enden - ebenso wie Disney eine gewisse Geschichte hat, diese „unpassenden“ Enden in ihren Adaptionen zu ignorieren. Dabei ist der Schluss von Andersens Geschichten meist gar nicht tieftraurig gedacht; der Tod seiner Figuren bietet oft einen Erlösungsaspekt und schafft Ausblicke auf ein besseres Jenseits. Gerade der letzte Satz von Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern bringt ebenso zum Weinen wie zum Lächeln: „Niemand wusste, was sie Schönes gesehen hatte, in welchem Glanz sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!“ 
Die befreiend kompromisslose Treue, mit der sich der Disney-Kurzfilm in diesem Fall an seine Vorlage hält, ist allein den Bemühungen des Regisseurs zu verdanken. Nachdem der Film prinzipiell fertiggestellt war, dauerte es noch Jahre, bis sich die Disney-Chefetage mit dem von Allers geschaffenen Ende zufriedenstellte und immer wieder wurden Neuentwürfe verlangt, in denen das Schicksal des Mädchens auf die eine oder andere Art etwas verschönt werden sollte: von einem zweideutigeren Schluss ohne das letzte Bild des toten Körpers bis zu einem platten Happyend, in dem die Großmutter das Kind schließlich nach Hause holt.  
Doch allem Druck zum Trotz bestand Allers auf dem ursprünglichen Ende. Es war der einzige Schluss, der für ihn funktionierte, zum einen aus Respekt all denen gegenüber, die wirklich hungernd auf der Straße leben, und zum andern, weil für ihn der bittersüße Moment erhalten bleiben musste, in dem man erkennt, dass der eingeschneite Leichnam immer noch auf dem Boden sitzt. Produzent Don Hahn bezeichnete das Ende als kontrovers und gab zu, dass man es als „nicht Disney-typisch“ verurteilen könnte, doch in dieser Form als Kurzfilm wurde den Verantwortlichen schließlich eine Möglichkeit eingeräumt, die sich der Disney-Konzern bei einem Spielfilm heute mit Sicherheit nicht getraut hätte.

In früheren Zeiten war es - auch für Disney - nicht ungewöhnlich, auch an Kinder gerichtete Filme mit einem traurigen Ende zu versehen. Musik, Tanz und Rhythmus schließt auf einer melancholischen Note und die Geschichte von Hänschen Apfelkern aus demselben Film endet mit dessen Tod; in Make mine music stellt der grausame Tod von Willie dem Wal sogar das Finale des ganzen Films dar. Gemein haben diese Beispiele, dass die Filme den Tod ihrer Hauptfiguren nicht als depressives Drama darstellen, sondern als - auf die eine oder andere Art - friedliches Ende, und dass sie sich bemühen, einen größeren Ausblick über den Tod hinaus zu bieten. Indem diese Werke sich den Tod zum Thema machen, statt ihn einfach heimlich zu verschweigen, gehen sie einen Schritt, Kindern das Prinzip von Leben und Sterben näherzubringen und vielleicht sogar ein Stück weit die Angst vor dem Unvermeidlichen zu nehmen.
Heutzutage braucht es gerade in Gebieten der Kinderunterhaltung eine gewisse Portion Mut, um solch große Themen anzusprechen. Es ist gut zu wissen, dass es bei Disney noch Menschen gibt, die ihren Zuschauern genug zutrauen, um ihnen Filme wie Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern zu schenken.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

1 Kommentare:

Cooper hat gesagt…

Nach langer Zeit ohne eigenen Laptop habe ich endlich wieder die möglichkeit mir die Zeit für eine meiner liebgewonnensten Artikelreihen im Blog des weißen Erpels Sir D. zu nehmen.

Ich bin sehr erfreut, welchen Umfang die Artikelreihe "Im Schatten der Maus" mittlerweile erreicht hat und da ich die letzten Artikel zu "Fantasia" nicht zeitnah erleben konnte, freut es mich umso mehr, nun sogar schon einen Artikel zum geplanten "Fantasia 2006" (Arbeitstitel) des von Roy Disney initiierten Fantasia-Fortführuungsprojektes so herrlich verfasst vorzufinden.

Ein großes Lob daher an die informativ sowie analytische - darüber hinaus vor allem aber passioniert schreibende Ananke Ro.

Die weggelassene Vermutung, dass die Pixar Studios ebenfalls bei der Animation von "The Little Match Girl" ihre Finger im Spiel gehabt haben sollen (Duckipedia zum Kurzfilm), ist für mich zu verschmerzen.
Die Erwähnung, dass das Projekt "Fantasia 2006" vorzeitig beendet wurde (+ etwaige Infos weshalb) und auf welcher DVD-Veröffentlichung zumindest "The little Match Girl" in Deutschland erschienen ist (In den Extras der 2.DVD der "Arielle, die kleine Meerjungfrau" Special Edition von 2006) die hätte ich gern noch im Artikel gesehen (für junge Leser oder Fans, die nicht über diesen Umstand bescheid wusten).^^

Vielen Dank für einen weiteren empfehlens- und lesenswerten Artikel.

Der (wieder) treue Leser, Cooper.

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