Dienstag, 5. Oktober 2021

Titane

Julia Ducournau hat sich in kurzer Zeit zu einer Regisseurin entwickelt, der ich bis auf weiteres vertraue. Ihr Debüt-Kurzfilm, die empathische Pubertätsgeschichte mit Bodyhorrorelement Junior, ist echt clever. Ihr Kino-Langfilmdebüt Raw, eine mit viel Blutlust versetzte Spätpubertäts- und Coming-of-Sexual-Age-Geschichte, war einer meiner Top-20-Filme seines Jahrgangs. Als ihr zweiter Kino-Langfilm Titane im Sommer 2021 auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Palme d'Or ausgezeichnet wurde und sich die Festivalpresse mit Superlativen des Schocks, begeisterten Ekels und der Verblüffung überschlug, war ich unfassbar heiß auf den Film. Und ... zumindest qualitativ wurde ich nicht enttäuscht.

Allerdings düste Titane inhaltlich meilenweit an meinen Erwartungen vorbei, was dem Tenor der frühen Kritiken und unmittelbar nach der Weltpremiere ins Netz geschleuderten Presse- und Publikumsreaktionen in die Schuhe zu schieben ist. Denn im Gegensatz zu den international näher an den jeweiligen, regulären Kinostarts verfassten Rezensionen, die Titane stärker aus dem Blickwinkel "Gewinnerfilm bei einem der, wahrscheinlich sogar dem prestigeträchtigsten Festivals der Welt" heraus behandeln, gingen die volles Rohr in Sachen "Titane, Tabubrecher!". "Most fucked up movie", Berichte über zahlreiche Leute, die während der Premiere den Saal verließen (es ist nicht Cannes ohne sowas), "schockierendster Film des Jahres", sowas halt.

Und dahingehend ist es von äußerster Bedeutung, in welches Publikum man sich eher gesellt. Wer primär das ruhig-nachdenkliche Nachmittagsprogramm im Programmkino besucht, wo so manche Festivaltitel laufen, wird von Titane sicher nachhaltig durchgerüttelt und verschreckt. Wer dagegen dauerhaft beim Fantasy Filmfest und anderen Feierlichkeiten des Abseitigen abhängt, dürfte sich fragen: "Äh ... ne?!"

Daher: Bei Titane gilt noch stärker als sowieso schon im Kino - bitte nicht den Film danach bewerten, wie sehr er den Ton anstimmt, den man sich durch vorherige Berichterstattung ausgemalt hat. Dieses Metall scheppert in seinem eigenen Takt!

Darum geht's

Seit einem Unfall in ihrer Kindheit trägt Erotiktänzerin Alexia (Agathe Rousselle) eine Titanplatte im Kopf. Als die emotional instabile, impulsiv-gewalttätige Frau eines Tages untertauchen muss, beschließt sie kurzerhand, sich als nach vielen Jahren der verzweifelten Suche wieder aufgetauchter Sohn des Feuerwehrmannes Vincent (Vincent Lindon) auszugeben. Der ist dermaßen gerührt von der Wiedervereinigung mit seinem Spross Adrien, dass er die wacklige Maskerade nicht durchschaut. Die neue, geborgene Heimat Alexias steht allerdings auf der Kippe, denn sie ist schwanger. Wie lange also wird sie noch als schüchterner junger Mann durchgehen ..?

So weit zumindest der grobe Plot von Titane. Wovon Julia Ducournau auf thematischer Ebene handelt, ist deutlich komplexer und selbstbewusst-wild durchgemischt. Während die Filmemacherin in Junior und Raw ihrer Beimischung von Horrorelementen zum Trotz recht stringent vorgeht, ist Titane ein passioniert um sich schlagender Film. Nicht umsonst bezeichnete sie sich, ihren Film, ihre Figuren und ihr Team in Cannes als "Monster", und bekundete ihre Dankbarkeit, dass diese Monster in den Reihen des Prestigefestivals willkommen geheißen wurden. Gezügelt ist an Titane kaum etwas.

In Titane geht es, das sind die Offensichtlichkeiten an diesem 108-minütigen Werk, unter anderem um die Suche nach Geborgenheit und emotionale Bindung. Vincents fast aufopferungsvolle, von stillem Schmerz verzehrte Sehnsucht nach seinem Sohn kommt da in den Sinn, die Lindon mit weichen, kummervollen Zügen in einem rauen Gesicht und zarten Gesten seines trainierten, kantigen Körpers ausdrückt. Und natürlich auch Alexias innere Zerrissenheit, dass sie sich bei Vincent wohler und angekommener fühlt als zuvor - wobei nicht eine Sekunde lang die Angst, ertappt und rausgeworfen oder bestraft oder sonstwie falsch behandelt zu werden, aus ihren Augen weicht.

Agathe Rousselles Darbietung als Alexia ist zudem voller Code Switching, so sehr, dass es zu einer Triebfeder des Films wird, weit über das Handlungselement "Flüchtige Person gibt sich als Mensch eines anderen Genders aus und will nicht entdeckt werden" hinaus, das andere Filmschaffende als Julia Ducournau schon deutlich konventioneller angepackt haben und auch wieder anpacken werden. Zugleich äußerst nuanciert, da voller filigraner Macken, Gesten und mimischen Angewohnheiten, und wild, aus sich herausgehend und wuchtig, lässt uns Rousselle an Alexia in vielen Positionen und Rollen teilhaben:

Als brutaler, orientierungsloser und ungezügelter Privatmensch. Als das selbstbewusst performende Stück Fleisch, das bei Erotikshows begafft werden will. Alexia als aufgepeitschte, zurecht von übergriffigen Fans angewiderte Post-Show-Privatperson im Gewand ihrer Bühnenpersona. Alexia als sexuell umtriebig-ungelenke Eroberin. Als cholerischer Nimmersatt. Alexia, unwohl darin, Adrien zu spielen. Alexia, komfortabel darin, Adrien zu spielen. Alexia als Adrien, der sich in femininem Selbstausdruck versucht. Alexia, so tief in der Rolle des Adrien angelangt, dass beidseitige Vater-Sohn-Gefühle zwischen ihr und Vincent aufkommen. Und so weiter, und so weiter. Eine echte schauspielerische Wucht, die dem Film konstant mit sanftem, allerdings klar die Richtung vorgebendem Nachdruck das Thema "Genderidentität" vorgibt. Ducournau hält auch nicht damit hinterm Berg, dass die nicht-binäre, wenngleich weibliche Pronomen verwendende Rousselle ab ihrem Vorsprechen deutlichen Einfluss auf Titane hatte.

Titanplatte im Kopf, Fremdkörper im Film

Man spürt einen persönlichen, sensiblen Touch in diesem Film, der mit Metaphern, grotesken Genreeinflüssen sowie wild durchgewürfelten, authentischen Beobachtungen aus höchst unterschiedlichen Alltagen um sich schleudert, so dass er eine faszinierend allgemeine, weltferne Erfahrung wird. So, wie Alexias Titanplatte zwar ein Fremdkörper, aber doch ein Teil von ihr ist, so ist Titane ein Ungetüm aus zu einer Einheit zusammengesetzten Fremdkörpern. Auf Storyebene, tonal und ästhetisch. Es ist ein Film über gefundene Familie, aber auch über Genderausdruck, Ruhefindung, toxische Maskulinität, eine Frau mit Blut an ihren Händen, unmögliche Schwangerschaft sowie Übergänge, womöglich auch in ein robusteres Morgen.

Titane riskiert, mit diesem rauen Gemisch, seinem nach dem ersten Drittel stark nachlassenden Gewaltgrad, seiner emotionalen Verletzlichkeit und für Unnahbarkeit sorgenden, grotesken Genreeinschlag, für Ratlosigkeit zu sorgen. Oder gar für schädliche Deutungen - Indiewire etwa nannte ihn kürzlich transphob, was eine Interpretation ist, auf die ich nie gekommen wäre und eine Absicht darstellen würde, die ich Ducournau niemals zutrauen würde. Es ist allerdings eine, bei der ich sehe, wo sie herkommt, denn anders als Junior und Raw kaut Titane seinem Publikum viel weniger vor. Was paradox ist, denn gleichzeitig ist es der unsubtilere Film, da schrillere, aufgedrehtere, entfesseltere in diesem Bunde.

Filme, die derart paradox sind, können in die Leitplanke krachen und darüber hinaus krachen. Oder sie haben mit diesem Schneid den Zunder, den es braucht, um mit Extrawumms über die Zielgerade zu brettern. Was darüber entscheidet, was geschieht, sind manchmal Millisekunden. Bei mir kam Titane bei Zweiterem aus, ich habe noch vor der Titeleinblendung zu ihm gefunden und mich an dieser verworrenen Reise ergötzen, während ihr mitfiebern und mitleiden können. Titane landet mit Sicherheit in meinen Tops des Jahres und ich kann allen, die nach diesen Zeilen neugierig geworden sind, nur raten, ihr Glück ebenfalls zu versuchen. Egal, ob ihr ihn lieben oder hassen werdet, der Film wird euch kaum egal sein.

Und wer nach dieser Kritik erstmal noch ratlos ist: Am 14. Oktober besprechen und interpretieren ihn Antje und ich bei Filmgedacht. Vielleicht können wir euch dann Lust auf den Kinobesuch machen. Oder aber ihr erkennt, dass euch der Film so unangenehm berühren wird wie ein Autounfall, der eine OP nach sich ziehen müsste, bei dem ihr eine Titanplatte eingesetzt bekommen würdet. Dann verzichtet lieber, das gönnt man doch niemandem ...

Titane ist ab dem 7. Oktober 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

Dienstag, 10. August 2021

Die Big-Budget-Überraschung des Kinojahres: Free Guy

Nach zahlreichen Verschiebungen kommt am 12. August 2021 die neue Ryan-Reynolds-Komödie Free Guy in die Kinos. Ein Film auf den ich aufgrund seiner Marketingkampagne wenig bis gar keine Lust hatte. Die Poster sahen generisch aus, die zahlreichen Trailer haben mir bestenfalls ein Schmunzeln entlockt und mich schlimmstenfalls genervt. Offenbar ging es vielen so. Und es wäre verdammt schade, sollte der Film daher auf die Nase fallen. Denn Free Guy ist eine Big-Budget-Komödie, die High Concept mit viel Herz und großem Spaß vereint – gemessen an meiner Erwartungshaltung eine waschechte, vergnügliche Überraschung.

Darum geht es: Guy ist ein NPC, also ein nicht spielbarer Charakter, in einem Online-Sandbox-Spiel namens Free City, einer Art "Grand Theft Auto trifft Slaughter Race aus Chaos im Netz". Er wurde dazu programmiert, stets den gleichen Kaffee bestellend und freundlich-ratlos grinsend zu seiner Arbeit in einer Bank zu gehen, die die von Spieler:innen gesteuerten Figuren für Bonuspunkte überfallen können. Doch eines Tages wird Guy aus seiner Routine gerissen: Als er die von Indie-Programmiererin Millie gespielte Molotov Girl (Jodie Comer) kennenlernt, fühlt er sich dazu angespornt, sich nicht weiter herumschubsen zu lassen, sondern selber aktiv zu werden. Bald darauf durchschaut er den vor ihm verborgenen Fakt, dass sein ganzes Leben nur ein Spiel ist. Doch es gibt noch viel mehr zu entdecken ...

Vielleicht ist das Free Guy-Marketing genau darüber gestolpert: Einerseits ist die neue Regiearbeit von Shawn Levy (die Nachts im Museum-Trilogie, Real Steel) eine High-Concept-Komödie, also ein leicht zusammenfassender Spaß für's ganze Publikum. Videospielfigur realisiert, dass sie eine Videospiel-Randfigur ist, und möchte mehr sein. Ralph reicht's, quasi, nur nicht mit dem Gut/Böse-Ansatz, sondern einem Passiv/Aktiv-Spektrum an Bestimmung. Allerdings machen die Drehbuchautoren Matt Lieberman (The Christmas Chronicles) und Zak Penn (Marvel's The Avengers und Ready Player One) einen durchaus anders gearteten Stoff daraus, als man bei einem heutigen Big-Budget-Realfilm über Computerspiele und/oder einem ins Metafiktionale lehnenden Vehikel für Deadpool-Star Ryan Reynolds erwarten würde.


Dabei haben ja schon die Ralph reicht's-Filme vorgemacht, dass solch ein Stoff für herzliche Geschichten herhalten kann. Und Free Guy bestätigt nun, dass dies kein Kniff ist, der Animationsfilmen vorbehalten bleibt: Mit Videospiel-, Internet-, und generellen Popkultur-Referenzen bestückte Komödien über Gaming-Figuren, die über ihre vermeintliche Bestimmung hinauswachsen, können durch und durch gute Laune verbreiten und mit einem großen Herz erfreuen. Im Falle von Free Guy wird daraus fast schon etwas, das ich einen Sonntagswolldeckenkuschelfilm nenne: Mancher ironischer Spitze zum Trotz ist dies nämlich ein echter Wohlfühlfilm geworden, der zu mehr Freundlichkeit und Schöpfungsfreude inspiriert, ohne dass Skript, Schauspiel oder Regieführung je ins Moralinsaure kippen würden.

Das liegt daran, dass die Story nicht in die Richtung "Jetzt tobt sich ein NPC aus!" entwickelt, was sicher ein Gag-Schnellfeuerwerk hätte werden können, aber nicht solche emotionale Tiefe mitgebracht hätte. Stattdessen dreht sich Free Guy einerseits um Programmiererin Millie, die im echten Leben einen Kleiderschrank voller großer, weiter, richtig toll flauschig aussehender Pullis hat (sie sehen so warm und kuschelig aus!), in Free City dagegen die Identität einer britischen Killerin in Fliegerbrille, wehender weißer Bluse und Hosenträger annimmt. Sie ist auf der ständigen Suche nach Beweisen dafür, dass der geldgierige, Kreativität geringschätzende Betreiber dieses Games (ein überdrehter Taika Waititi) das Lebenswerk von Millie und ihrem besten Freund gestohlen hat. Free Guy und Tim Burtons Dumbo würden ein echt interessantes Double Feature ergeben, nur dass in dieser Kombi Dumbo wundersamerweise der zynischere, spitzere Film ist. Oder wir packen noch den Utopie-Wunschgedanken behandelnden A World Beyond hinzu und haben ein Triple an sich vergnüglich ergänzenden Filmen.

Denn Jodie Comer verleiht Free Guy in den Szenen in der realen Welt mit einer freundliche, fröhlichen, zielstrebigen Leinwandpräsenz eine gewinnende, einladende Grundstimmung. Ihre Free City-Identität ist wiederum cool, lässig, selbstsicher - und sie geht mit einem Lied auf den Lippen auf ihre Mission, durch die sie sich mit vollem Einsatz kämpft. Sie ist keine abgebrühte, makellose Killerbraut, keine Gamerin, die sich übernimmt, sondern glaubhaft Vollprofi, der gelegentlich in überfordenden Trubel versinkt.

Zudem spielen sich Comer und ihre jeweiligen Szenenpartner sehr gut die Bälle zu: Mit Ryan Reynolds ergibt sich ein sehr launiger, temporeicher Rapport, bei dem sie genauso über Guys Naivität und Optimismus staunen wie mit ihm schmunzeln darf - und sich auch immer wieder kleine Momente der Alleinunterhaltung erlaubt, wenn sie Späße macht, die über Guys Kopf hinwegfliegen. Mit Joe Keery in der Rolle ihres nun für die Konkurrenz arbeitenden, früheren Geschäftspartners Keys wiederum hat sie eine warme, natürlich wirkende Chemie: Man merkt ihren Figuren eine lang gewachsene, beruflich komplizierte, privat harmonische Dynamik an, die ihre gemeinsamen Szenen massiv aufwertet, selbst wenn sie auf Skriptebene ein paar Klischees nicht zu vermeiden wissen. Hoffentlich arbeitet Hollywood schon an einer Buddy Comedy oder RomCom mit den Beiden, denn diese Energie zwischen ihnen muss weiter ausgenutzt werden!

Der andere, im Marketing stärker betonte Storyfaden von Free Guy dreht sich um Reynolds' Guy, der seine neu entdeckte Freiheit innerhalb Free City nutzt, um mit unbändiger Fröhlichkeit und Hilfsbereitschaft das Spiel zu einem besseren Ort zu machen. Er allein kann nicht viel bewegen, aber er legt sich dennoch ins Zeug, was dank Reynolds' typischem Comedy Timing ganz fesch rüberkommt und eine hübsche Verdrehung der Deadpool-basierten Erwartungen darstellt. Guys unschuldige Verspieltheit ist geradezu ansteckend, und seine sehr kindliche, aber Grenzen beachtende Verschossenheit in Millie findet eine angenehme Balance aus Albernheit und harmloser Blauäugigkeit. 

Was richtig überraschend ist: Reynolds, Penn, Lieberman und Levy gelingt es (meistens, nicht immer) nahtlos, aus dieser freundlich, anspornend-munteren Tonalität auch schrillere Popkulturreferenzen oder auch grellere, lautere Gags rund um kuriose Anblicke, Vulgaritäten oder Kalauer-Steilvorlagen zu entwickeln. Ob derbe Wutausbrüche, pubertär handelnde Nebenfiguren, Portal-Guns, Cameos oder Verweise auf andere Filme: Im filmischen Gesamtkontext wirkte das auf mich nicht aufgesetzt, sondern organisch aus der Persönlichkeit der Figuren und der Filmwelt (und der Welt-in-der-Welt) gewonnen. Da werden Erinnerungen an The LEGO Movie wach, und das nicht nur, weil Reynolds Guy wie einen fähigeren, aber paradoxerweise wohl noch begriffsstutzigeren Emmet anlegt.

Free Guy ist alles in allem ein echtes filmisches Kuriosum: Man könnte zahlreiche Szenen aus dem Film lösen, als Promo-Clip zeigen, und es würde entweder lahm sowie das Potential der NPC-wird-selbstständig-Idee fallenlassend wirken, oder forciert, bemüht und anstrengend. Doch dadurch, wie sich die Geschichte entfaltet, mit welcher ehrlichen Begeisterung die Moral vermittelt wird, und wie sich der Cast ergänzt, funktioniert Free Guy überaus gut. Ein echt schöner, gesund-dämlicher, gutherziger Filmspaß mit wiederverwertetem Paperman-Score und Herz!