Mittwoch, 31. Mai 2017

Frantz


Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg: Ein verletztes Land, eines, in dem sich die Bürger durch den Versailler Vertrag gedemütigt fühlen. Ein wütendes Land, in dem auf Stammtischen Parolen geschwungen und Feindbilder geschaffen werden. In Mitten dieses verwirrten Deutschlands steht die Kriegerwitwe Anna (Paula Beer), die ihrem Verlobten hinterhertrauert. Dieser zog an die Front, kehrte aber nie mehr wieder. Seither lebt sie bei ihren wohlsituierten Schwiegereltern, die ebenfalls noch vom Verlust ihres geliebten Frantz gekennzeichnet sind. Eines Tages erhalten sie Besuch von einem schüchternen, jedoch neugierigen Franzosen. Der geheimnisvolle Fremde stellt sich als Adrien (Pierre Niney) vor, einen gebildeten Kunstliebhaber, der mit Frantz befreundet war und nun an seinem Grab um ihn trauern möchte.

Zwischen Adrien und Anna entsteht alsbald eine zarte Freundschaft, getragen davon, dass sie sich gegenseitig von Frantz erzählen, aber auch davon, dass sie sich ergänzen: Adrien möchte Deutschland besser kennenlernen, Anna ist im Gegenzug davon fasziniert, wie ihre neue Bekanntschaft von Paris und seinen Intellektuellenzirkeln spricht. Nach anfänglichen Berührungsängsten werden auch Frantz‘ Eltern mit Adrien warm, selbst wenn einige seiner Anekdoten kaum verheilte Wunen aufreißen. Im Dorf wiederum macht sich Adrien ohne sein Dazutun Feinde – er als Franzose hat doch sicherlich deutsche Söhne ermordet und sollte sich schön dahintrollen, wo er herkam. Dabei müssten die Einwohner Adrien gar nicht verteufeln, um ihn zu verjagen: Je heimischer es sich Adrien bei Frantz‘ Hinterbliebenen macht, desto mehr scheint etwas an ihm zu nagen, weshalb er sich eine baldige Heimkehr vornimmt …

Die sehr freie Adaption des Ernst-Lubitsch-Films Der Mann, den sein Gewissen trieb erzählt der französische Arthouse-Liebling François Ozon eingangs mit vielen Leerstellen: Er steigt kurz vor Annas und Adriens Kennenlernen in die Handlung ein und lässt diese in einem gemächlichen Tempo, begleitet von bittersüß gestimmter Musikuntermalung, ablaufen. Eine Einordnung, wie viel noch hinter Adriens Anekdoten steckt, ob er sie ausschmückt oder ob er mit intimen Details hinterm Berg hält, erfolgt zunächst nicht. Durch die visuelle Sinnlichkeit der in Pastellfarben gehaltenen Rückblenden gewinnt die Illustrierung der Monologe Adriens‘, was er mit Frantz in Paris so alles unternommen hat, eine nahezu romantische Stimmung – erst im weiteren Verlauf dieses Melodrams zeigt sich, dass Ozon nicht nach „schöne Vergangenheit“ und „triste Gegenwart“ trennt.

Ozon gewinnt auch den in einem sanften, schmeichelnden Licht gehaltenen Schwarzweißpassagen Schönheit ab, während nicht alle Farbbilder erfüllende Momente ablichten. Der Regisseur trennt viel mehr zwischen authentisch (das heutige Publikum kennt das Jahr 1919 praktisch nur aus Schwarzweißfotografien, also ist für uns das „echte“ 1919 monochrom) und verklärt – etwa beim gemeinsamen Picknick Adriens und Annas. Dieses besteht aus zermürbenden Gesprächsthemen, die Beiden reden aber in einem bemüht-säuselnden Klang miteinander, als wollten sie in Abgeschiedenheit eine unbeschwerte Situation heraufbeschwören.

Die elegische Inszenierung Ozons wird jedoch durch sehr schwerfällige, bemüht aneinandergereihte Dialogsequenzen erdrückt, sobald die Geschichte ihren ersten Wendepunkt erreicht hat: Wenn Adriens wahre Intention, Frantz‘ Familie zu besuchen, offengelegt ist, rücken keine neuen narrativen Leerstellen nach. Stattdessen bleiben nunmehr Fragen über Empfindlichkeiten offen; Fragen, wann die Protagonisten offen über ihre Gefühle reden – wie sich in ihnen Vergebung, Wut, Frust und Enttäuschung vermengen. Sie werden zwar redselig, umkreisen dabei in vielen Worten das, was sie wirklich bewegt.

Doch dieses „Reden, um nicht wahrhaftig zu werden“-Gefühl wird in den behäbigen Gesprächen weder von Skriptseite her, noch von den im Mittelpart mit dem melodramatischen Tonfall des Films hadernden Mimen gefühlsauthentisch ermittelt. Somit ist es erst wieder der ruhigere, nachdenklichere Schluss, in dem Ozon stilsicher eine kunstvolle Neubetrachtung von Der Mann, den sein Gewissen trieb formt. Übrig bleibt somit ein schöner, wenngleich seine emotionale Wirkkraft arg überreizender Film über die deutsch-französische Bruderschaft und all ihre sich auf beiden Seiten doppelnden, harschen Augenblicke.

Diese Kritik erschien zuerst bei Quotenmeter.de

Der Fluch des US-Meinungsdiktats


Disney und Paramount sorgten die vergangenen Tage in den (US-amerikanisch geprägten) Filmdiskursnetzwerken für ordentlich Trubel: Angeblich verteufeln beide Studios das Modell, Filme vorab den Kritikern zu zeigen und wollen es enorm eingrenzen oder sogar abschaffen. Denn in den Augen beider Studios hätte der Rottentomatoes-Wert von Pirates of the Caribbean - Salazars Rache und Baywatch den beiden Filmen an den US-Kassen massiv geschadet. Die Auswirkungen dieses Industriegeschnatters: Ein einhellig-galliges Echo "Wer beschissene Filme macht, muss sich nicht über miese Einspielergebnisse wundern".

Uff. Was für eine verwucherte Diskussionsplattform uns dies gibt. Also. Der Reihe nach.

Erstens: Wenn Disney und Paramount wegen Pirates of the Caribbean und Baywatch (in den Vereinigten Staaten) keine Vorabkritiken mehr dulden wollen, ist das verflixt doppelzüngig. Man kann sich nicht mit den positiven Kritiken für die letzten Marvel-Filme oder Star Trek Beyond (wo es noch hieß "Alle finden den Film toll, wieso guckt ihn denn keiner?") brüsten, um dann, wenn es mal schief läuft mit dem Kritikerfeedback, sofort empört die Brücke niederzubrennen.

Zweitens: Handwerkliche und narrative Qualität, woran auch immer sie bemessen wird, ist nicht automatisch mit finanziellem Erfolg gleichzusetzen. Diejenigen, die nun Disney und Paramount für ihre aktuellen Filme niederbrüllen sollen sonst mal die überschaubaren Einnahmen von Moonlight erklären oder den Umstand, dass die Hobbit-Trilogie, die kaum wer über die Herr der Ringe-Filme setzen würde, mit ihren Vorgängern (oder sind es Nachfolger?) wirtschaftlich auf Augenhöhe steht.

Drittens kommt hinzu, dass nicht alles, was US-Kritikern missfällt, automatisch und allgemeingültig schlecht ist. Kulturelle Differenzen können dazu führen, dass einige US-Komödien, die in ihrem Heimatland gefeiert werden, in anderen Ländern brutal bei der Kritik durchrasseln. Und umgekehrt: So einige in den Staaten abgestrafte Filme wurden in anderen Regionen hoch gelobt. Es ist nur unfassbar schwer, das zu quantifizieren, weil die vornehmlich durch US-Amerikaner generierten Rottentomatoes-Zahlen für alle leicht zugänglich sind, es aber kein "Rest der Welt"-Pendant gibt. Soviel zum galligen Echo auf das Gemunkel, dass Disney und Paramount wegen Rottentomatoes entnervt sind ... Wer gibt europäischen Kritikern eine den weltweiten Diskurs beeinflussende Plattform?!

Viertens muss man aber auch mal Disneys Verwunderung verstehen. Laut 'Deadline' hat Pirates of the Caribbean - Salazars Rache in Testvorführungen die besten Benotungen in der Geschichte dieser Filmreihe eingefahren. Das Echo auf der Cinema Con war gut bis sehr gut. Als das Social-Media-Embargo fiel, wurde das Cinema-Con-Echo wiederholt. Als dann das Kritiken-Embargo verging, und Rottentomatoes (sowie Metascore) aus ihren Relevanzpools Noten generierten ... Stand der Film hingegen plötzlich auf Augenhöhe mit Fremde Gezeiten, dem laut Rottentomatoes schwächstem Teil der Saga. Da darf auch mal eine "Was zur Hölle ist jetzt plötzlich passiert?!"-Reaktion entstehen.

Fünftens sollte die Lösung nicht sein, Rottentomatoes zu verbieten. Das war albern, als es 2016 DC-Hardcorefans vorgeschlagen haben, das ist auch dieses Jahr bescheuert, wenn Disney darüber nachdenkt. Eine Analyse, was aber im Pirates-Fall zu dieser Meinungsschere geführt hat, ist spannend und sollte gestattet sein. Ebenso wie bei Guardians of the Galaxy Vol. 2, der zwischen Social-Media- und Kritiken-Embargo als bester Marvel-Film aller Zeiten gefeiert wurde und danach als "gut, aber schwächer als der Vorgänger". Oder bei Alien: Covenant, wo der internationale Filmdiskurs extrem negativ ist, weshalb Fans des Films mit Anti-Hype-Backlash-Artikeln aufwarten, während der US-Mainstream-Kritiker-Konsens sehr positiv ausfiel. Wenn sich Rottentomatoes auf die Fahnen schreibt, ein Meinungsspiegel zu sein, wie schadet es, zu fragen, wie man ihn repräsentativ halten kann? Denn das ewige Nachkrähen des RT-Ergebnisses (egal ob positiv oder negativ) von Leuten, die kaum etwas im Kino sehen, darf doch ruhig einen Konsens festigen, statt ihn ganz neu zu erfinden?

Sechstens: Dass laut 'Deadline' vorliegenden Studien viele U30-Kinobegeisterte keine Kritiken lesen, aber den Rottentomatoeswert genau im Auge behalten und davon in Zweifelsfällen ihre Entscheidung abhängig machen, sollte alle Filmbegeisterten in Besorgnis stürzen. Denn dies ist eine den Diskurs und die popkulturelle Analyse tötende Tendenz. Eine Tinder-isierung des Filmkonsums. Da darf man noch so sehr von Disneys und Paramounts Überreaktion auf das zurückliegende (US-)Wochenende entnervt sein. Rottentomatoes sollte ein Werkzeug von vielen in der Kiste des Kinodebattierens sein. Und nicht der Vorschlaghammer.