Freitag, 1. September 2017

Doctor Strange


14 Filme, darunter sechs sogenannte 'Origin Storys': Dass sich im 'Marvel Cinematic Universe' eine gewisse Routine breit gemacht hat, ist schlichtweg unvermeidlich. Ebenso klar ist, dass Doctor Strange als der Film, der das halbe Dutzend an Heldenursprungsgeschichten voll macht, zwangsweise einige altbekannte Streckenabschnitte touchiert. Die in rund zwei Filmstunden narrativ überzeugenden Variationen, wie aus einer Potential aufweisenden, aber makelhaften Person ein fähiger Weltenretter wird, sind halt beschränkt.

Unter der Leitung des Sinister-Regisseurs Scott Derrickson gestaltet Doctor Strange diese schon oft durchgemachte Reise allerdings über die längsten Etappen hinweg neu, aufregend und ungewöhnlich. Es ist quasi so, als wäre Derrickson ein neuer Fahrer, der den üblichen Pendelweg der Marvel-Origin-Story-Fahrgemeinde mittels Schleichwege variiert. Damit begnügt er sich allerdings nicht – er gönnt uns obendrein abgedrehte Sehenswürdigkeiten. Dass Derrickson seinen Mitfahrern zudem psychedelische Drogen in den Morgenkaffee gekippt hat, wäre im Falle, dass diese Zeilen wortwörtlich gemeint sind, zwar ein mieses Verbrechen. Aber da dies nur eine Metapher ist, ist es Derrickson zu verdanken, dass Doctor Strange im Marvel-Filmuniversum ein packendes, ästhetisch unvergleichliches Erlebnis darstellt.

Der weltberühmte Neurochirurg Dr. Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) ist unbestritten ein Meister seines Fachs: Ihm scheinen selbst die kniffligsten Fälle leicht zu fallen – seinen ruhigen Händen und seinem messerscharfen Verstand sei Dank. Doch dem Workaholic ist schon längst sein Können zu Kopf gestiegen: Er übernimmt nur Patienten, die ihn herausfordern, aber heilbar sind und somit seine perfekte Statistik nicht zerstören. Aller Arroganz zum Trotz gelingt es ihm, eine freundschaftliche Beziehung zu seiner Kollegin Christine Palmer (Rachel McAdams) aufrecht zu halten, statt sich angesichts ihrer einst gescheiterten Liebesaffäre an die Gurgel zu gehen. Das streng geordnete Leben, das Strange sich aufgebaut hat, wird brutal durcheinandergerüttelt, als er bei einem Autounfall schwer verletzt wird. Unter anderem bleibt ein dramatischer Nervenschaden an seinen Händen übrig, was es ihm unmöglich macht, in seinen Beruf zurückzukehren.

Vom Mangel an Hilfe enttäuscht, die ihm die konventionelle Medizin leistet, reist der hochrationale Strange letztlich nach Nepal, um einen sagenumwobenen Tempel ausfindig zu machen: Den Kamar-Taj, wo vermeintlich selbst die ärgsten körperlichen Probleme geheilt werden können. Allerdings stellt sich der Kamar-Taj als so viel mehr heraus: Die dort lehrende Älteste (Tilda Swinton) öffnet Strange die Augen, dass das Universum wesentlich mystischer und magischer ist, als er je gedacht hätte. Strange ordnet sich verwundert den Lehren der Ältesten unter – und wird so in einen die Grenzen der Wirklichkeit sprengenden Kampf gesogen …

In mancherlei Hinsicht ist Doctor Strange eine esoterische Abwandlung des in technologischen Spielereien verwurzelten Iron Man: Ein selbstverliebter, sich allein durch sein Ego und seine Arbeit definierender Protagonist hat einen Unfall. Das, was ihm hilft, sein so erzeugtes körperliches Gebrechen zu überkommen, öffnet ihm zugleich Tür und Tor in eine Welt abenteuerlicher Gefahren und großer, heldenhafter Verantwortungen. Dieser familiäre Pfad der Heldenwerdung führt die Titelfigur zwischenzeitlich auch in Versuchung, die ihr gebotenen Möglichkeiten nur für sich selbst zu nutzen, statt zum Wohle der Allgemeinheit. Selbstredend ist es für den sich selbst findenden Helden eine größere Herausforderung, das eigene Ego zu überkommen, statt seine Fähigkeiten zu meistern. Und darüber hinaus gibt es während der mit etwas Situationskomik gespickten Reise auch Rückschläge zu verkraften …

Die Verlässlichkeit, mit der Scott Derrickson und C. Robert Cargill in ihrem Drehbuch diese Eckpunkte der Heldenwerdung ansteuern, führt dazu, dass zumindest das grobe Storykonstrukt von Doctor Strange vorhersehbar ist. Außerdem geraten den Autoren zwischen dem beschwingten Mittelpart und dem ungewöhnlichen Finale die Übergänge von kleineren Actionszenen und dialoggesteuerten Charaktermomenten recht stotterig. Daher erscheint die andersweltliche Superheldenstory zu Beginn des dritten Akts etwas bemühter, als sie es angesichts der in ihr präsentierten, mühelos ganze Straßenzüge verbiegenden Magie wünschenswert wäre.

Gleichwohl gelingt es Derrickson und Cargill, ihren Helden intensiver zu skizzieren als es den Titelfiguren in Iron Man oder Thor vergönnt ist: Bevor es Strange nach Nepal verschlägt, skizziert der erzählerisch zügig voranschreitende, doch in ruhigen, dramatischen Szenen entfaltete erste Akt den Neurochirurgen in all seiner charakterlichen Bandbreite. Dabei beachtet Derrickson weitestgehend das alte cineastische Mantra „Show, don’t tell“ und führt die Hybris Stranges ebenso vor wie sein zweischneidiges berufliches Erfolgsstreben und seine wenigen Interessen abseits seiner Arbeit. Statt McAdams‘ Christine Palmer in einem starren Monolog explizit ausformulieren zu lassen, wie sie zum wandelnden Musiklexikon Strange steht, wird ihre sympathische, ihrer gemeinsamen Vergangenheit ungeachtet entspannte Dynamik zueinander im Zusammenspiel deutlich. Der sehr, sehr trockene sowie dezent überhebliche Witz, den Cumberbatch in Sherlock-Manier rüberbringt, und die Freundschaft zwischen den Ex-Liebhabern sind es auch, die Strange trotz zahlreicher charakterlicher Mängel zu einem angenehmen und runden Protagonisten formen.

Neben Cumberbatch, der sich die Figur Stephen Strange zu eigen macht, brilliert vor allem Tilda Swinton. Im Vorfeld der Filmveröffentlichung wurde viel über die potentiellen politischen Stolperfallen geschrieben, dass die hier gebotene Neuinterpretation einer in den Comics klischeehaften, asiatischen Männerfigur eine weiße Frau ist. Um es kurz zu machen: Gewiss kann ein so großes Filmfranchise wie das 'Marvel Cinematic Universe' mehr asiatische Darstellerinnen und Darsteller vertragen. Davon losgelöst haben die Filmemacher aber Respekt dafür verdient, den Stereotypen des weisen, alten Asiaten mit mystischen Kenntnissen gestrichen zu haben. Swintons Älteste ist eine strenge Lehrmethoden anwendende, dennoch warme, freundliche und würdevolle Persönlichkeit, die stets so aussieht, als würde sie gerade entspannt durch eine interessante Museumsausstellung wandern und in Gedanken so eben einen kessen, ironischen Kommentar formen. Die Ausstrahlung und Gravitas, die Swinton selbst den manchmal etwas sperrigen Mentor-Schüler-Dialogen mitgibt, ist eine zu große Bereicherung für Doctor Strange, als dass man sich eine vorlagengetreuere Besetzung wünschen könnte.

Die Darbietungen des restlichen Casts können nicht ganz mit diesen zwei Schauspielleistungen mithalten, trotzdem hinterlässt das Ensemble einen durchweg positiven Eindruck. McAdams‘ Figur kommt in der Story zwar leider zu kurz, trotzdem zählt sie dank der gelassenen Interaktion mit Cumberbatch zu den besseren weiblichen Anvertrauten eines Marvel-Titelhelden. Chiwetel Ejiofor bringt als Kampfgefährte Stranges einen reizvollen Mix aus moralischer Strenge und Empathie mit und Benedict Wong verwandelt die Randfigur eines übellaunigen Bibliothekars in einen denkwürdigen Sidekick. Hannibal-Hauptdarsteller Mads Mikkelsen letztlich hätte zwar zusätzliche Szenen vertragen können, um die Motivation seines Schurken von einer plausiblen Behauptung zu einer nachvollziehbaren Charakteristik emporzuheben. Dessen ungeachtet bleibt auch hier Mikkelsens magnetische Leinwandwirkung bestehen und seine wenigen sarkatischen Dialogwitze sind allesamt Volltreffer.

Dass die Antagonisten in Doctor Strange prägnanter sein könnten, gerät angesichts der visuellen Extravaganz dieses 165-Millionen-Dollar-Projekts allerdings rasch in Vergessenheit. Wenn die Helden und ihre Kontrahenten Magie einsetzen, weicht dies selbst bei den simpleren Tricks dank filigran gestalteter Zauberpartikel von den altbekannten Magie-Feuerbällen anderer Filme ab. Diese bereits sehr stylischen Elemente sind aber nur Kinderkram im Vergleich zu dem, was die fähigsten Figuren mit ihrer Magie bewegen: Für sie ist die normale, irdische Wirklichkeit kaum mehr als ein Blatt Papier, das sie wie ein Origami-Meister verformen. Wenn ganze Straßenzüge mehrmals ineinander gefaltet und gespiegelt werden, sich somit in ein surreales Uhrwerk verwandeln, sieht nicht nur eine der ikonischsten Inception-Szenen alt aus: Selbst der für seine illusorischen, Logik außer Kraft setzenden Zeichnungen berühmte Grafiker M. C. Escher würde bei diesen verschachtelten Effektkonstrukten ins Schwitzen kommen. Diese surrealen Wunder lassen Doctor Strange nicht bloß visuell aus dem restlichen Marvel-Franchise herausstechen, sie ändern auch den Ablauf der Action, da hier Faustkämpfe und Laserschüsse Platz machen für strategische Tricks und weitschweifende Magie.

Gelegentlich wagt sich Derrickson auch völlig ins Reich des psychedelischen, lässt Strange etwa einen atemberaubenden, verrückten Trip durch verschiedene Dimensionen machen, der zuweilen auch Derricksons Horror-Wurzeln Tribut zollt. Diese bunten, durchgeknallten Passagen bleiben zwar kaum mehr als schmückendes Beiwerk, bereiten jedoch auch das bisherige Marvel-Konventionen austricksende Finale vor und verleihen der zwischendurch so ausgetretenen Storyroute einen markanten, trippigen Gesamteindruck. Dass die Effekte immens stark sind, von ein, zwei auffälligen Greenscreen-Aufnahmen und dem mau umgesetzten Autounfall Stranges abgesehen, intensiviert diesen Eindruck ebenso wie Michael Giacchinos Musikbegleitung. Diese ist zwar meilenweit von den besten Leistungen des Oscar-Gewinners entfernt, trotzdem manövriert sich der Oben-Komponist aus dem üblichen Marvel-Klangbett heraus und setzt wenigstens phasenweise mit seinen von Psychadelic Rock und indischer Musik beeinflussten Arrangements nachhallende Akzente.

Fazit: Marvel entdeckt eine imposante, überwältigende Welt der Magie für sich – und peppt mit ihr eine gewohnte, aber in sich stimmige Narrative auf.

Diese Kritik erschien zuerst auf Quotenmeter.de

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