Mittwoch, 14. März 2018

Thor - Tag der Entscheidung


Der Film
"Lachend in die Kreissäge". So bezeichnet es man üblicherweise, wenn jemand so glückselig-doof ist, dass er geradewegs in sein Verderben rennt. Im Falle der Marvel Studios lässt sich der Spruch indes umdeuten: Wenn im Frühling dieses Jahres das Marvel Cinematic Universe sein zehnjähriges Jubiläum feiert, kommt es zum megalomanischen Crossover-Event zwischen seinen zahlreichen Heldinnen und Helden – und dieses Aufeinandertreffen wird, wie könnte es anders sein, ein sehr dramatisches. Bevor sich das Marvel-Filmuniversum aber in die Kreissäge der schwerwiegenden narrativen Konsequenzen von Avengers: Infinity War stürzte, gönnte es sich und seinen Fans ein betont humorvolles Jahr.

Nach der auch einige ruhigere Charaktermomente aufweisenden, bunten Weltraumsause Guardians of the Galaxy Vol. 2 und dem selbstironisch unterfütterten Superhelden-High-School-Spaß Spider-Man: Homecoming endete Marvels 2017 mit Thor – Tag der Entscheidung, der noch mehr auf die Lachmuskeln seines Publikums abzielt als die früheren Filme über den Donnergott und die beiden anderen MCU-Filme des Jahres 2017. Und damit sträubt sich der von 5 Zimmer Küche Sarg-Regisseur Taika Waititi inszenierte Superheldenfilm bewusst gegen das, was wohl unter zahlreichen anderen Filmschaffenden aus diesem Stoff geworden wäre. Denn der grundlegende Plot aus der Feder des Autorenteams Christopher Yost, Craig Kyle, Stephany Folsom und Eric Pearson liest sich wie aus dem Katalog für Big-Budget-Trilogie-Finalfilme zusammengeklaubt:

In seinem dritten (Quasi-)Solofilm treffen wir Donnergott Thor (Chris Hemsworth) in einer misslichen Lage wieder: Der Thronprinz von Asgard hat sich mit der dunklen Prophezeiung befasst, dass Feuerdämon Surtur eines Tages den Ragnarök heraufbeschworen wird – den Untergang seiner Heimat. Selbstredend bemüht sich Thor, seiner Geburtsstätte dieses Schicksal zu ersparen, doch dabei hat er die Rechnung ohne Todesgöttin Hela (Cate Blanchett) gemacht. Diese zerstört Thors mächtigen Hammer und nimmt zielstrebig Kurs auf Asgard – und zu allem Überfluss strandet der eitle Recke bei seiner Klopperei mit Hela auf dem Schrottplaneten Sakaar. Auf diesem hat der hedonistische Grandmaster (Jeff Goldblum) das Sagen, der in Thor einen potentiellen Herausforderer für seinen Champion im Gladiatorenkampf sieht.

Kann sich Thor rechtzeitig von Sakaar befreien, oder machen ihm der Grandmaster, sein Champion oder die versoffene Aufpasserin Valkyrie (Tessa Thompson) einen weiteren Strich durch die Rechnung? Und wie fügt sich der Gott der Täuschung, Loki (Tom Hiddleston), in dieses Bild?

Okay, okay. Einige Details dieses Plots deuten bereits an, dass Thor – Tag der Entscheidung das Sprungbrett für ein eskalierendes Fantasyepos-Trilogiefinale nimmt und dann beschließt, lieber in ein exzentrisches Bällebad zu springen. Die dramaturgische Fallhöhe bleibt bei der somit gebotenen Comedy-Attacke in Thor – Tag der Entscheidung dem Untertitel zum Trotz niedrig – da haben die zwei anderen Marvel-Cinematic-Universe-Einträge 2017 einen stärkeren Akzent auf die interpersonellen Konflikte gelegt. Dieser Film hingegen bemüht sich nur um dezent mehr als das Minimum an charaktergestützter Dramatik – viel mehr geht es darum, dem Cast die Möglichkeit für eine albern-gute Zeit einzuräumen.

Laut Produzent Kevin Feige geschah dies zu großen Stücken auf Anraten des Hauptdarstellers: Hemsworth wollte mit Thor gänzlich neue Wege beschreiten, weil die Rolle ihn allmählich langweilte. Mit Waititi fand sich ein Regisseur, der genau auf Hemsworths humoristischer Wellenlänge liegt – wer also Hemsworth in Ghostbusters oder Vacation – Wir sind die Grisworlds für sein komödiantisches Timing liebt, wird auch hier aus dem Grinsen kaum rauskommen.

Thor zeigt sich als seeliger Kämpferbursche mit unkaputtbarem Siegeswillen und entsprechend großem Ego, das er aber nicht arrogant, sondern mittels einer bübisch-kollegialen Großspurigkeit zu Tage legt. Der Rest das Ensembles passt sich Waititis und Hemsworths Ansatz an: Cate Blanchetts Hela ist als Schurkin zwar so tiefgreifend motiviert wie ein 16-bit-Videospiel-Antagonist, dennoch hat sie ein imposantes Auftreten, so dass sie als Bedrohung durchaus funktioniert – und das, obwohl Blanchett sich in genüsslichem Overacting übt und die Rolle der Todesdiva so großspurig anlegt, wie es möglich ist, ohne zur reinen Parodie zu verkommen.

Das klingt so niedergeschrieben vielleicht negativ, funktioniert in diesem Film aber hervorragend – es ist fast so, als sei die Oscar-Gewinnerin von einer boshaften Kate McKinnon (Ghostbusters) besessen. Das schürt zwar keine Angst, steckt jedoch vor lauter Verve und Launigkeit sofort an. In einer etwas subtileren Dosis ergeht es Tom Hiddleston als lausbübischer Trickster-Gott genauso, und Tessa Thompson nimmt als Valkyrie den Archetyp der taffen Kämpferbraut und läuft damit erstmal in den nächsten Schnapsladen.

Auch Avengers-Veteran Mark Ruffalo zeigt sich von seiner spaßigsten Seite und ergötzt sich sichtlich an der Möglichkeit, sich mit seinen Castmitgliedern Scherzdialoge um die Ohren zu hauen. Darunter leidet allerdings der Charakterbogen: Bruce Banner wird vom traumatisierten Opfer seiner gespaltenen Persönlichkeit zum Gute-Laune-Krieger, als sei es ein Spaziergang durch den Comedypark. Die Filmemacher bemühen sich, mit Schall und Rauch und Lachern davon abzulenken: Waititi und seine Cutter Joel Negron & Zene Baker lassen oftmals die verdatterten Reaktionen der Dialogpartner im Film drin, um der Gagparade eine Spur Authentizität zu geben … Schließlich werden besonders schlagfertige Wortwechsel im echten Leben auch Mal mit Schmunzlern bedacht, ehe es zum Ernst der eigentlich besprochenen Lage zurückgeht. Dafür lassen die Filmmacher manche der Scharmützel dann und wann einen Takt länger laufen, als es das gewollt undramatische Drehbuch zulässt.

Gestalterisch nimmt sich der Wo die wilden Menschen jagen-Regisseur die Freiheit raus, ein kreatives Kuddelmuddel an Einflüssen zusammenzuführen. So scheppert Led Zepplins markiger 1970er-Hit "Immigrant Song" aus den Lautsprechern (und das ganze zwei Mal, was ihm an Wirkung raubt). Das Design von außerirdischen Randfiguren sowie der Mode auf dem Planeten Skaar erweckt indes die Zeichnungen der Marvel-Comic-Legende Jack Kirby zum Leben, die er in den 60er-Jahren für die Thor-Comics zu Papier brachte. Die Gesamtästhetik des Films, mit martialischen Posen in Weichzeichner-Optik einerseits und der retrofuturistischen Innenarchitektur und Vehikelgestaltung andererseits, mutet letztlich so an, als hätte Waititi den Look von Super-Nintendo-Weltallgames mit Heavy-Metal-Albencovern verschmolzen – all dies, während Komponist Mark Mothersbaugh (The LEGO Movie) einen launigen Synthie-Score im 80er-Jahre-Style abliefert.

Dieser gewaltige Clash aus popkulturellem Zeitkolorit und sich beißenden Gestaltungsschulen hat Methode, trägt er doch zur schmissigen Grundstimmung des Films bei: Die Marvel-Version einer nordischen Gottheit will ihre Heimat, die wie ein Pappnachbau eines Mittelerde-Disneyland aussieht, beschützen, hängt aber auf einem Space-Metal-90er-Jahre-Videospiel-Planeten mit 60er-Jahre-Comicgestalten fest. Das soll gaga sein. Waititi weiß, diese Gegensätze mit amüsierter Pointiertheit gegeneinander auszuspielen und mit ironisch unterwanderten Rückgriffen auf vergangene Marvel-Filme klar komödiantisch zu positionieren.

Dass die nostalgische Vorstellung, wie ein Space-Fantasy-Film auszusehen hat, auch in einige detailarme, sehr künstlich aussehende Kostüme resultiert, ist ebenso klar Geschmacksfrage wie Waititis sich wiederholende Witz-Kombination: Es sind Cosplay-Stunden im Marvel Cinematic Universe, während sich die Figuren in einer "Subtile Ironie, launige Situationskomik, fesche Selbstironie, verbaler Schlagabtausch, ZOTE!"-Kombo üben. Das setzt eine entsprechende Erwartungshaltung voraus – Thor – Tag der Entscheidung ist ein Marvel-Lachfest, bei dem das Design herrscht, kein spaßig aufgelockertes Abenteuer mit glaubwürdiger Ausstattung.

Damit sind Waititi und die Autoren immerhin ehrlich zu ihrem Publikum: Als hätte irgendjemand erwartet, dass die Marvel Studios wenige Monate vor Avengers: Infinity War Thor in einem düsteren Weltallactiondrama über die Klinge gehen lassen … Wer braucht also das Vortäuschen drastischer Sequenzen für den Titelhelden, wenn ein Gros des Publikums eh weiß, dass es ihm gut genug gehen wird, um noch mindestens ein Crossover zu absolvieren? Dennoch hätten die Kostüme nicht so sehr nach Cosplay aussehen müssen.

Was uns zu einer weiteren prägenden Charakteristik des Films führt: Thors dritter Soloausflug ist der womöglich am wenigsten ausgegorene Film im 'Marvel Cinematic Universe'. Dies betrifft einerseits das Storytelling: Das eigentliche Abenteuer, das den Gott des Donners nach Sakaar führt, beginnt erst nach einem ausgiebigen, jegliche Stringenz missen lassenden Filmeinstieg. Da wird Loki auch mal wiedergefunden, um verloren zu gehen, und direkt danach wiedergefunden zu werden und erneut verloren zu gehen. Als narrativ untermotivierte Sketchparade lassen sich die Pre-Sakaar-Szenen amüsiert weggucken. Doch erzählerisch ist der Beginn von Thor – Tag der Entscheidung ein heilloses Durcheinander, bei dem die böse Vermutung aufkommt, dass sich das Autorenquartett mehrfach in eine Ecke manövriert hat, was in sehr behelfsmäßige Mini-Plotfäden resultierte. Weshalb das Konzept des Ragnaröks sogleich mehrfach mühselig erklärt werden musste, bleibt derweil ein ungelöstes Rätsel – und noch dazu eines, dass diesem Spaßfest Sand ins Getriebe streut.

Und dann wäre da der zweite, unausgegorene Aspekt an Thor – Tag der Entscheidung: Für einen mutmaßlich 180 Millionen Dollar teuren Kinofilm eines etablierten Hollywood-Studios hat Taika Waititis Actionspaß allerhand blamabel-miese Chromakey-Szenen zu bieten. Immer wieder kommt es zu statischen Bildeinstellungen, in denen es extrem offensichtlich ist, dass der Cast nicht am gezeigten Schauplatz zugegen war. Da werden mit digitaler Anfängertrickserei klinisch saubere, leblose Küstenaufnahmen hinter die Schauspieler gelegt oder auch Mal Chris Hemsworth und Co. für eine Handvoll Einstellungen in ein Foto eines der Filmsets gebeamt.

Aufnahmen mit Green- oder Bluescreen sind im Filmgeschäft längst Alltag und gerade die effektlastigen, einen enormen Cast jonglierenden Marvel-Filme sind voll von ihnen – umso erschütternder, wie provisorisch die grellen, keinerlei glaubwürdigen Schattenwurf aufweisenden, steifen Schummeleien hier ausfallen. Als wäre Thor – Tag der Entscheidung in den letzten Produktionswochen mit der ganz heißen Nadel gestrickt worden ...

Thor – Tag der Entscheidung ist somit ein sonderbares Biest im Marvel-Filmkanon. Dieser Film hat den mutigsten Look, aber auch die eklatantesten Effektpatzer des Franchises. Und das Drehbuch ist voller Leerlauf, über all das Nichts und die ganzen sketchartigen Eskapaden verteilt, macht der Held aber tatsächlich eine nennenswerte Wandlung durch. Als Fortführung der ersten beiden Thor-Filme taugt er kaum etwas (es fehlt nicht viel, und man würde mit einem "Ach, was bisher geschah, das ist nicht weiter von Bedeutung, vergesst es einfach!"-Spruch rechnen), und dennoch fühlt er sich dank der intensiven Spielfreunde Hemsworths wie die Vollendung der Titelfigur an. Kurzum: Für Drehbuch- oder Effektpreise empfiehlt sich Thor – Tag der Entscheidung kein Stück, aber wer ein Herz für das Ensemble hat, wird sich schwer tun, nicht mehrmals herzlich zu lachen.

Thor – Tag der Entscheidung ist somit der Klassenclown des Marvel Cinematic Universe, der sich nach einer hochdramatischen Trennung einer radikalen Typenänderung unterzogen hat, woraufhin er sein Umfeld zu einem Wochenendtrip mit sonderbarem Ziel einlädt: Auffällig, aufgekratzt, aufgedreht sowie hoch motiviert, sich neu zu erfinden und gefälligst Freude daran zu haben. Da werden auch mal unnötige Umwege in Kauf genommen und mit Anspruch ist auch nicht zu rechnen. Aber: "Alles so schön bunt hier!" Tapetenwechsel ist ja auch mal fein und eine gute Zeit mit gut aufgelegten, lustigen Leuten sowieso. Selbst wenn leider der eine oder andere gepfefferte Fremdschammoment nicht ausbleibt …

Die Scheibe
Die Blu-ray ist technisch auf dem Standard, der von einem Marvel-Film nunmehr verlangt wird. Satter, klarer Sound und sauberes Bild – auch wenn das den schwacheren Effekteinstellungen nicht zwingend zugute kommt. Aber die Zielgruppe, die sich Thor – Tag der Entscheidung zum Tonfall und Look passend im abgenudelten VHS-Look wünscht, dürfte verschwindend gering sein. (Als Easter Egg auf der Blu-ray wäre das dennoch genial.)

Das Bonusmaterial ist erfreulicherweise umfangreich – heutzutage ja leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Neben den nahezu obligatorischen, ulkigen Pannen vom Dreh gibt es einen Kurzfilm namens Team Darryl, der die Erlebnisse von Thors WG-Partner aus den Team Thor-Späßen weitererzählt. Achtung, Lachtränen-Gefahr! Die entfallenen Szenen (insgesamt knapp unter acht Minuten Laufzeit) sind derweil, wie eh und je, eine Mischung aus "Interessant zu sehen" und "Ja, kein Wunder, dass das rausflog". Ein echtes Highlight ist dagegen der urkomische, keinen Deut informative, augenzwinkernde Audiokommentar zum Film von Taika Waititi.

Die Featurettes zu einzelnen Aspekten des Films sind teils informativ (etwa das über das Steinwesen Korg), andere sind mir etwas zu werbend im Tonfall (Leute, ich habe die Disc schon in den Händen, ihr müsst den Film nicht mehr verkaufen!). Als kleines Bonmot gibt es außerdem einen Fünf-Minuten-Clip über die Entwicklung der MCU-Helden im Laufe der zehn Filmjahre sowie ein paar, stylische 8-Bit-Sequenzen.

Thor – Tag der Entscheidung ist ab dem 15. März 2018 auf DVD, Blu-ray, 4k-Blu-ray und 3D-Blu-ray erhältlich.

Sonntag, 4. März 2018

Oscars 2018: Das Liveblogging zu den 90. Academy Awards


Planänderung: Da Blyve nicht mehr aktiv ist, werde ich dieses Jahr mein Liveblogging abhalten, indem ich hier meine Tweets sammle. Die Kommentarfunktion im Blog dürft ihr dennoch brennen lassen!

Freitag, 2. März 2018

Oscars 2018: Meine Prognose für die Gewinner der 90. Academy Awards


In der Nacht vom 4. auf den 5. März ist es endlich wieder so weit: In Los Angeles werden die Academy Awards verliehen - und wie es Tradition geworden ist, werde ich nicht nur live mittwittern, sondern selbstredend auch hier im Blog live mitbloggen. Mir doch egal, wie out Liveblogging mittlerweile ist!

Vorher gilt es jedoch, eine andere Tradition abzuhaken - und meine Prognose der Gewinner in den 24 Oscar-Kategorien abzugeben. In manchen Disziplinen scheint es erschreckend einfach zu sein (aber Überraschungen gibt es immer wieder), und in anderen Sparten fällt mir die Vorhersage unfassbar schwer. Doch wozu rumlamentieren? Rein ins Prognosengetümmel!

Beste Regie
• Guillermo Del Toro (The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers)
• Greta Gerwig (Lady Bird)
• Jordan Peele (Get Out)
• Christopher Nolan (Dunkirk)
• Paul Thomas Anderson (Der seidene Faden)

Guillermo del Toro gewann die meisten der Indikatorpreise, darüber hinaus ist Shape of Water ein mit Herzblut, Ruhe und Liebe zum Detail inszenierter Film. Der Sieg sollte ihm nahezu sicher sein - gewinnt jemand anderes, wäre ich enorm überrascht.

Beste Hauptdarstellerin
• Frances McDormand (Three Billboards Outside Ebbing, Missouri)
• Margot Robbie (I, Tonya)
• Saoirse Ronan (Lady Bird)
• Sally Hawkins (The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers)
• Meryl Streep (Die Verlegerin)

Auch McDormand dominierte die bisherige Preissaison. Ihre Darstellung einer wütenden, verzweifelten Mutter, die nach Recht für ihre tote Tochter kämpft, hat eine Vielzahl an Emotionen zu bieten und obendrein Aufmerksamkeit auf sich ziehende Monologe. Sollte ein abgemachtes Ding sein, oder?

Bester Hauptdarsteller
• Gary Oldman (Die dunkelste Stunde)
• Timothée Chalamet (Call Me By Your Name)
• Daniel Day-Lewis (Der seidene Faden)
• Danzel Washington (Roman J. Israel, Esq.)
• Daniel Kaluuya (Get Out)

Und noch jemand, der bislang schon abgeräumt hat und obendrein eine intensive, hypnotisierende Performance abliefert. Oldman for Gold.

Bester Nebendarsteller
• Willem Dafoe (The Florida Project)
• Woody Harrelson (Three Billboards Outside Ebbing, Missouri)
• Sam Rockwell (Three Billboards Outside Ebbing, Missouri)
• Christopher Plummer (Alles Geld der Welt)
• Richard Jenkins (The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers)

Allen wilden Debatten darüber, ob Rockwells Figur am Ende des Films nun zu gut davonkommt, zum Trotz: Glaubt man Oscar-Bloggern mit Verbindungen zur Academy, nehmen die Mitglieder diese Kontroverse eher dem Skript übel als Rockwell und seiner Darbietung. Die bisherigen Preise sprechen ebenfalls dafür - und der Balanceakt aus Humor, Fiesheit und Dramatik gehört zu den prägendsten Darbietungen des US-Kinojahres 2017. Schade um Dafoe.

Beste Nebendarstellerin
• Laurie Metcalf (Lady Bird)
• Allison Janney (I, Tonya)
• Octavia Spencer (The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers)
• Mary J. Blige (Mudbound)
• Lesley Manville (Der seidene Faden)

Es wird ein Rennen zwischen Metcalf und Janney. Die US-Presse bevorzugt dezent Metcalfs nuancierte Mutterrolle aus Lady Bird, doch Janneys Darbietung in I, Tonya als Schreckschraubenmutter reißt ihre Szenen an sich und wurde bei Awardshows bislang bevorzugt. Daher tippe ich auf sie - und jeder Oscar für I, Tonya macht mich happy.

Bester Trickfilm
The Boss Baby (Tom McGrath und Ramsey Naito)
Coco (Lee Unkrich und Darla K. Anderson
The Breadwinner (Nora Twomey und Anthony Leo)
Ferdinand – Geht stierisch ab (Carlos Saldanha)
Loving Vincent (Dorota Kobiela, Hugh Welchman und Ivan Mactaggart)

Das ist kein Wettbewerb: Die Begeisterung in Hollywood für Coco ist so groß, der Film wird sich durchsetzen.

Beste Dokumentation
Strong Island (Yance Ford und Joslyn Barnes)
Faces Places (Agnès Varda, JR und Rosalie Varda)
Icarus (Bryan Fogel and Dan Cogan)
Abacus: Small Enough To Jail (Steve James, Mark Mitten und Julie Goldman)
Last Men in Aleppo (Feras Fayyad, Kareem Abeed und Søren Steen Jespersen)

Icarus ist die Dokumentation mit dem größten Einfluss unter den Nominierten - soll sie doch zum Ausschluss Russlands bei den Olympischen Winterspielen gesorgt haben. Das muss nichts heißen, aber ich glaube, dass es die Aufmerksamkeit auf Icarus gelenkt haben könnte ...

Bestes adaptiertes Drehbuch
Call Me By Your Name (James Ivory)
The Disaster Artist (Scott Neustadter & Michael H. Weber)
Logan – The Wolverine (Scott Frank & James Mangold und Michael Green)
Mudbound (Virgil Williams und Dee Rees)
Molly's Game (Aaron Sorkin)

James Ivory ist eine wandelnde Legende und Call Me By Your Name ist der am meisten respektierte Film aus dieser Liste (holte er doch auch die meisten Nominierungen). Die Balance zwischen eloquenten Dialogen und ruhigen, subtilen Passagen könnte ebenfalls hilfreich sein.

Bestes Original-Drehbuch
The Big Sick (Emily V. Gordon & Kumail Nanjiani)
Get Out (Jordan Peele)
Lady Bird (Greta Gerwig)
The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers (Guillermo del Toro & Vanessa Taylor)
Three Billboards Outside of Ebbing, Missouri (Martin McDonagh)

Die zweitgrößte Kopfschmerzkategorie des Jahres: Holt sich der warmherzige, gefeierte Überraschungserfolg The Big Sick hier seinen Achtungs-Oscar? Oder setzt sich einer der Nominierten aus der Hauptsparte durch? Die Dialoge sollten Three Billboards helfen, aber der Backlash gegen den Film konzentriert sich auf einen Storyarc, was mich unsicher macht. Lady Bird ist gemeinhin sehr beliebt und wird als herzliche Zeitkapsel der frühen 2000er betrachtet, Shape of Water gelingen schwere tonale Balanceakte und Get Out ist immens clever konstruiert. Ich werfe eine innere Münze (und noch eine und noch eine und noch eine) und komme bei Get Out aus ...

Bester Schnitt
Baby Driver (Paul Machliss und Jonathan Amos)
Dunkirk (Lee Smith)
I, Tonya (Tatiana S. Riegel)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Sidney Wolinsky)
Three Billboards Outside of Ebbing, Missouri (Jon Gregory)

Dies dürfte ein Zwei-Filme-Rennen sein: Sowohl Baby Driver als auch Dunkirk sind regelrechte Meisterwerke in Sachen Schnittarbeit. Um den Aluhut der Verschwörung aufzusetzen: Hier wird sich zeigen, wie sehr sich die neuen, jüngeren Academy-Mitglieder auf die Ergebnisse auswirken. Dunkirk ist der "seriösere" unter den beiden Filmen, aber Baby Driver sorgte für Euphorie bei den jungen Filmschaffenden. Ich lehne mich aus dem Fenster und tippe, mich an Mad Max: Fury Road erinnernd, auf Baby Driver ...

Beste Kamera
Blade Runner 2049 (Roger Deakins)
Die dunkelste Stunde (Bruno Delbonnel)
Dunkirk (Hoyte van Hoytema)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Dan Laustsen)
Mudbound (Rachel Morrison)

Irgendwann muss der gute Mann ja gewinnen. Dass Blade Runner 2049 im Vergleich zu The Shape of Water und den beiden Dünkirchen-Filmen als Misserfolg gilt, lässt mich allerdings leicht mulmig werden - hatten genug Oscar-Voter die Muße, ihn überhaupt zu sehen?

Beste Effekte
Blade Runner 2049 (John Nelson, Gerd Nefzer, Paul Lambert und Richard R. Hoover)
Guardians of the Galaxy Vol. 2 (Christopher Townsend, Guy Williams, Jonathan Fawkner und Dan Sudick)
Planet der Affen – Survival (Joe Letteri, Daniel Barrett, Dan Lemmon und Joel Whist)
Kong: Skull Island (Stephen Rosenbaum, Jeff White, Scott Benza und Mike Meinardus)
Star Wars - Die letzten Jedi (Ben Morris, Mike Mulholland, Neal Scanlan und Chris Corbould)

Die neue Planet der Affen-Trilogie ist bislang noch völlig Oscar-los. Eine ungeheuerliche Sache, die sich hoffentlich in der 90. Academy-Award-Nacht ändert, zumal der Film wirklich atemberaubend gute Effekte hat - und er ist neben Blade Runner 2049 der einzige Nominierte, der nicht auch ein paar kleine, peinlich-halbgare Effekte auf die Leinwand bringt.

Bestes Make-up und Hairstyling
Die dunkelste Stunde (Kazuhiro Tsuji, David Malinowski und Lucy Sibbick)
Victoria & Abdul (Daniel Phillips und Lou Sheppard)
Wunder (Arjen Tuiten)

Die dunkelste Stunde sieht klasse aus und Tsuji ist eine Legende, die extra für den Film aus der Frührente zurückgekehrt ist. Sollte der Oscar an wen anderes gehen, drehe ich durch ...

Bestes Produktionsdesign
Blade Runner 2049 (Dennis Gassner und Alessandra Querzola)
Die dunkelste Stunde (Sarah Greenwood und Katie Spencer)
Die Schöne und das Biest (Sarah Greenwood und Katie Spencer)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Paul Denham Austerberry, Shane Vieau und Jeff Melvin)
Dunkirk (Nathan Crowley und Gary Fettis)

Branchenliebe für den Film trifft Auge für historische Details trifft verträumte Stilistik: The Shape of Water sollte hier gewinnen.

Beste Kostüme
Die Schöne und das Biest (Jacqueline Durran)
Der seidene Faden (Mark Bridges)
Die dunkelste Stunde (Jacqueline Durran)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Luis Sequeira)
Victoria & Abdul (Consolata Boyle)

Bei den Kostümen gewinnen gerne Filme, die implizit oder explizit von Mode handeln, insofern: Der seidene Faden hat Heimvorteil ...

Beste Filmmusik
Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Carter Burwell)
Dunkirk (Hans Zimmer)
Der seidene Faden (Jonny Greenwood)
The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers (Alexandre Desplat)
Star Wars – Die letzten Jedi (John Williams)

Die Academy liebt Alexandre Desplat, The Shape of Water kommt generell sehr gut in der Branche an und mit einer romantisch-verspielten Klangästhetik, die das nautische Element widerspiegelt, ist dies obendrein ein guter Kompromiss: Sowohl jene, die originelle Musik bevorzugen, als auch jene, die klassische Leitmotive hören möchten, bekommen hier was geboten - und könnten daher ihre Stimme für Desplat abgeben.

Bester Filmsong
• Remember Me (Coco; Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez)
• Mystery of Love (Call Me By Your Name; Sufjan Stevens)
• This is Me (Greatest Showman; Benj Pasek und Justin Paul)
• Stand Up For Something (Marshall; Musik: Diane Warren; Text: Lonnie R. Lynn und Diane Warren)
• Mighty River (Mudbound; Mary J. Blige, Raphael Saadiq und Taura Stinson)

Persönlich wäre ich für This is Me oder Mystery of Love, aber die Reaktionen auf Remember Me sind einfach zu stark, als dass ich gegen ihn vorhersagen würde ...

Bester Tonschnitt
Baby Driver (Julian Slater)
Blade Runner 2049 (Mark Mangini und Theo Green)
Dunkirk (Richard King und Alex Gibson)
Star Wars – Die letzten Jedi (Matthew Wood und Ren Klyce)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Nathan Robitaille und Nelson Ferreira)

Bester Ton
Baby Driver (Julian Slater, Tim Cavagin und Mary H. Ellis)
Blade Runner 2049 (Ron Bartlett, Doug Hemphill und Mac Ruth)
Dunkirk (Mark Weingarten, Gregg Landaker und Gary A. Rizzo)
Star Wars – Die letzten Jedi (David Parker, Michael Semanick, Ren Klyce und Stuart Wilson)
The Shape of Water – Das Flüstern des Wassers (Christian Cooke, Brad Zoern und Glen Gauthier)

Dunkirk hat einen intensiven, dennoch viele Ebenen aufweisenden Sound, der die nicht zu sehende Gewalt kompensiert und die Actionszenen somit trotzdem mit einer Fallhöhe ausstattet. Mein Favorit beim Ton wäre zwar Baby Driver und beim Tonschnitt Blade Runner 2049, aber ich glaube, die Academy kann Nolans Kriegsfilm hier nicht widerstehen ...

Bester animierter Kurzfilm
Garden Party (Victor Caire und Gabriel Grapperon)
Dear Basketball (Glen Keane und Kobe Bryant)
Negative Space (Max Porter und Ru Kuwahata)
Lou (Dave Mullins und Dana Murray)
Revolting Rhymes (Jakob Schuh und Jan Lachauer)

Dear Basketball wurde während Bryants Rücktrittsfeier vorgeführt und bekam so intensive Gratispromo, darüber hinaus liegen die LA Lakers vielen in Hollywood am Herzen. Hinzu kommt vielleicht noch der Glen-Keane-Bonus ...

Bester Kurzfilm
The Eleven O’Clock (Derin Seale und Josh Lawson)
My Nephew Emmett (Kevin Wilson, Jr.)
All of Us (Katja Benrath und Tobias Rosen)
The Silent Child (Chris Overton und Rachel Shenton)
DeKalb Elementary (Reed Van Dyk)

DeKalb Elementary ist im von Schulamokläufen gerüttelten Amerika die aktuellste und emotional aufrüttelndste Wahl ...

Bester fremdsprachiger Film
The Insult (Libanon)
A Fantastic Woman (Chile)
On Body and Soul (Ungarn)
The Square (Schweden)
Loveless (Russland)

Ich lehne mich aus dem Fenster und tippe auf das Justizdrama The Insult, das thematisch die Academy reizen könnte. Die meisten Oscar-Blogger setzen auf den chilenischen Beitrag und The Square ist mehr oder minder der Kritikerfavorit, aber ... vielleicht nehmen sie sich gegenseitig die Stimmen weg?

Beste Kurzdokumentation
Edith + Eddie (Laura Checkoway und Thomas Lee Wright)
Heaven is a Traffic Jam on the 405 (Frank Stiefel)
Heroin(e) (Elaine McMillion Sheldon und Kerrin Sheldon)
Knife Skills (Thomas Lennon)
Traffic Stop (Kate Davis und David Heilbroner)

Heroin(e) hat Netflix' aufwändige Werbekampagne im Rücken, aber Traffic Stop als Film über rassistische Polizisten und Edith + Eddie als rührende Doku über das älteste (verbuchte) noch lebende gemischtethnische Paar treffen den Zeitgeist. Ich tippe leicht auf den Positivismus von Edith + Eddie ...

Bester Film

Call Me By Your Name (Produzenten: Peter Spears, Luca Guadagnino, Emilie Georges und Marco Morabito)

Die dunkelste Stunde (Produzenten: Tim Bevan, Eric Fellner, Lisa Bruce, Anthony McCarten und Douglas Urbanski)

Dunkirk (Produzenten: Emma Thomas und Christopher Nolan)

Get Out (Produzenten: Sean McKittrick, Jason Blum, Edward H. Hamm Jr. und Jordan Peele)

Lady Bird (Produzenten: Scott Rudin, Eli Bush und Evelyn O'Neill)

Der seidene Faden (Produzenten: JoAnne Sellar, Paul Thomas Anderson, Megan Ellison und Daniel Lupi)

Die Verlegerin (Produzenten: Amy Pascal, Steven Spielberg und Kristie Macosko Krieger)

The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers (Produzenten: Guillermo del Toro und J. Miles Dale)

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Produzenten: Graham Broadbent, Pete Czernin und Martin McDonagh)


Machen wir es kurz: Es wird höchst wahrscheinlich entweder Three Billboards (großer Web-Backlash, doch große Unterstützung durch die Schauspieler, die ihm einen Gewerkschaftspreis fürs beste Ensemble gegeben haben), Shape of Water (der keine Ensemble-Nominierung bei der Schauspielgilde erhielt, was statistisch einen Oscar-Sieg enorm erschwert - doch der Film kommt generell gut an) oder Get Out (dem es an einer statistisch sehr wichtigen Schnitt-Nominierung mangelt, der dafür aber die große Zeitgeistwahl wäre).

Für mich sind die Chancen ungefähr gleich verteilt, weshalb ich meine Hände verzweifelt in die Luft schmeiße und auf Get Out tippe. Es wäre der historisch beeindruckendste unter den möglichen Gewinnern, und wenn ich eh nur eine 33,33%-Chance habe, richtig zu liegen, dann will ich wenigstens beim denkwürdigen Ausgang des Rennens korrekt getippt haben!