Samstag, 25. Juli 2015

Whiplash


Was ist Jazz? Ist das nicht diese relaxte, erdige Musik mit langsam gleitenden Melodien, die bei Starbucks und Co. im Hintergrund läuft? Verflucht noch eins, das ist doch kein Jazz, ihr koffeinsüchtigen Schmalspurhipster! Ist es diese freiliebende, lässig-intellektuelle Musik, die entsteht, wenn gut aufgelegte Künstler in einer bläulich beleuchteten Untergrund-Bar spontan vor sich hinimprovisieren? Nein, zur Hölle, was für Wischiwaschi-Weicheiträumereien wurden euch denn in die löchrigen Hirnzellen gepflanzt?! Jazz, das ist Perfektion! Minutiös abgestimmte, höchste Konzentration fordernde Musik, bei der die kleinsten Fehler zerstörerische Auswirkungen haben! Wer hier aus dem Takt kommt, zu hoch oder zu tief spielt, begeht ein Sakrileg an makellosen, anspruchsvollen Kompositionen und gehört daher gesteinigt!

Von dieser Einstellung ist zumindest Bandleader Terence Fletcher (J. K. Simmons) überzeugt, der an der prestigeträchtigen Musikhochschule Shaffer Conservatory of Music eine erlesene Jazzband betreut. Obwohl er aufgrund seiner gestrengen Haltung und seinem unnachgiebigen Perfektionsstreben ebenso berühmt wie berüchtigt ist, sehnt sich der 19-jährige Schlagzeuger Andrew (Miles Teller) sehnlichst danach, in dessen Auswahl aufgenommen zu werden. Denn Andrew hat es sich zum erklärten Lebensziel gemacht, einer der ganz Großen zu werden, jemand, der sich mit dem stilbildenden Jo Jones oder dem technisch versierten Buddy Rich messen lassen kann. Und nur der erfahrene, gebieterische Fletcher, so glaubt Andrew, kann alles aus seinem Talent rausholen. Jedoch lässt sich Fletcher nicht von Ambition und Durchhaltevermögen allein beeindrucken – Andrew muss weit über seine Grenzen hinausgehen, um das zu leisten, was Fletcher hören will …

Regisseur und Autor Damien Chazelle (Verfasser des musikalischen Kammerspielthrillers Grand Piano – Symphonie der Angst) beginnt Whiplash als etwas schroffere Variation einer Geschichte über einen unkonventionellen, inspirierenden Lehrer. Chazelle, der selbst versuchte Jazz-Schlagzeuger zu werden und in den frühen Parts dieses Psychodramas aus eigenen Erfahrungen zehrt, zeigt Fletcher anfangs als berechtigte Autoritätsfigur. Er ist eine Koryphäe seines Fachs und beäugt Schüler zwar übermäßig streng, kitzelt somit jedoch neue Bestleistungen aus den vielversprechendsten Talenten seiner Musikuniversität heraus. So auch aus Andrew, einem abseits seines Drumsets schüchternen jungen Erwachsenen, der vor allem für seinen Traum vom musikalischen Durchbruch lebt.

Für immer Single?-Nebendarsteller Miles Teller spielt Andrew in den alltäglichen Szenen mit sympathischer Zurückhaltung. Er vermag es gleichwohl, dank wandlungsfähigem Gestus subtil zu skizzieren, wie Andrew durch seine Fortschritte als Schlagzeuger ein neues Selbstbewusstsein entwickelt – etwa, indem er gegenüber der Kinoangestellten Nicole (erfrischend: Melissa Benoist) auftaut. Lange hält sich dieses nach einem herausfordernden, packenden Stück von Hank Levy benannte Drummer-Drama allerdings nicht in Gefilden auf, die an andere Schüler-Mentor-Dynamiken erinnern. Wenn Andrew den launischen Fletcher erst richtig kennenlernt, verwandelt sich Whiplash in einen treibenden, hitzigen Militärstreifen im Musikfilmgewand.

J. K. Simmons, der sich in Sam Raimis Spider-Man-Filmen bereits als Zeitungsboss J. Jonah Jameson einen Platz im Pantheon unvergesslicher, cineastischer Choleriker erbrüllte, verschwindet völlig in seiner Rolle. Als aggressiver, nahezu unmöglich zufriedenzustellender Dirigent gibt er über weite Strecken des Films seine Menschlichkeit komplett auf und wird zu einem Raubtier, das auf den nächsten Angriff lauert. Und sobald Fletcher etwas findet, das ihm missfällt, packt er zu. Mit psychischen Tricks, impulsiver Körperlichkeit, geballter Lautstärke und einem Vokabular, das dem grantigsten Drill Seargent die Schamesröte ins Gesicht treiben würde, zerfleischt er seine Schüler als seien sie kleine Appetithappen für zwischendurch.

Aber Simmons lässt es nicht allein auf der sadistischen Ader Fletchers beruhen – mit überzeugendster Zuckrigkeit verleiht er ihm in seltenen Augenblicken den Eindruck eines idealistischen Künstlers, dem es nur darum geht, denkwürdige Musikerlebnisse zu erschaffen. Schon vom Kinosessel aus fällt es daher schwer, bei aller begründeten Abscheu vor Fletchers Methoden nicht dennoch (zumindest phasenweise) seinem Bann zu verfallen – und Andrews Aufopferungsbereitschaft ist bei aller Tragik leider nur zu plausibel.

Dies liegt auch im schneidenden Drehbuch begründet, dessen Dialoge durchweg sitzen und bei jedem, der sich jemals schöpferisch betätigte, einen Nerv treffen dürften – so etwa dann, wenn sich Andrew gegenüber seiner Familie über die Geringschätzung seines Tuns beklagt. Ein echter Terence Fletcher könnte sich bei Whiplash trotzdem nicht völlig mit Schimpftiraden zurückhalten, denn wie bei manchen Sinfonien, die wohl lieber Rhapsodien wären, kommt es hier im vorletzten Satz (respektive Akt) zu minimalen Problemen mit der Geschwindigkeit. Wer nicht über solch ein unangebracht tonangebendes Naturell wie Fletcher verfügt, wird dies angesichts der in der Inszenierung spürbaren Hingabe aber leicht vergeben. Erst recht, da diese ebenso eindrucksvolle wie zweischneidige Ode an all jene, die noch einer wahren Leidenschaft nachgehen, gerade dann brilliert, wenn sie sich ihren prekärsten Momenten nähert.

Und so treibt Whiplash mit nur wenigen Atempausen voran: Fesselnd-qualvolle Unterrichtsstunden, ein immer manischer werdender Andrew, großartiger Big-Band-Jazz, der die Sinne benebelt und die Beine zum Mitwippen animiert – und urplötzlich befindet sich dieser Thriller von einem Musikfilm mitten in einem beinahe unverschämt stürmischen Finale. So, als wäre es eine furiose Abschlussdarbietung einer Musiklegende, übertrumpft dieses mit eiserner Verbissenheit alles zuvor dargebotene: Der rhythmische Schnitt und die höchst effizient nur das Nötigste in den Fokus nehmende Kamera lassen den Puls in die Höhe schnellen, während sich Teller und Simmons ein mimisches Duell liefern, das lange nachhallt. Zum Schluss bleibt dem Publikum ein gestaffelter Schlussakkord, der ihn lange verfolgen wird: Ein jazziger Ohrwurm. Ein handwerklich perfekt orchestriertes Ende. Und die brennende, inhaltliche Frage – wie viel Leid darf mir meine Passion wert sein?


Fazit: Wenn Musik zum Krieg wird: Whiplash ist ein Donnerschlag von einem Jazzfilm, mit wuchtigen Darbietungen und nachhallender Story.

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