Dienstag, 3. Oktober 2017

Raw


Extreme Publikumsreaktionen können Fluch und Segen zugleich sein. Dieser Gedanke schoss mir bereits nach Der Nachtmahr durch den Kopf, dem deutschen Film, der vorab in den filminteressierten Ecken des Internets vor allem bekannt wurde als "Die brutale Attacke auf die Sinne jedes Epileptikers". Dabei hat dieser atmosphärische deutsche Schauerfilm abseits seiner rasanten Schnitte und tiefen Klanglandschaft vor allem eines zu bieten: Eine Geschichte, ganz nach der alten Tradition des Stummfilmhorrorkinos. Es geschieht etwas Übernatürliches, etwas, das Ekel auslösen könnte, das aber eine introspektive, ruhige Handlung vorantreibt.

Raw, der 2016 auf den Filmfestspielen von Cannes debütierte Film von Autorin/Regisseurin Julia Ducournau, wurde vor seiner breiteren Veröffentlichung ebenfalls durch erste Publikums- und Kritikerreaktionen in eine derbere, boshaftere Ecke gestellt als es für die Produktion wohl gesund wäre. Anekdoten von angewidert den Saal verlassenden Publikumsgruppen und Menschen, die vor lauter Ekel auf den Kinoboden brechen oder in Ohnmacht fallen, füllten das Web. Und so verpassten sie Raw den Ruf eines späten Nachzüglers der 'New French Extremity', einer Welle besonders garstiger, grafischer und schonungsloser Horrorstreifen. Wer Raw schaut, muss schon besonders starke Nerven haben, so das unausgesprochene, aber stark suggerierte Versprechen. Oder besser gesagt: So lautet die stark implizierte Täuschung.

Denn Raw ist bei weitem nicht einer der widerlichsten, extremsten Filme, die uns unsere französischen Nachbarn seit der Jahrtausendwende präsentiert haben. Raw versucht dies nicht einmal. Denn der Schock- und Ekelfaktor ist in Ducournaus Werk klar untergeordneter Natur. Raw mag zwar nichts für besonders zartbesaitete Gemüter sein, dennoch lässt sich dieser Film wesentlich treffender als extrem schwarzhumoriges, zugleich melancholisches Coming-of-Age-Studentinnen-Drama mit beißendem Thrillerelement bezeichnen. Oder als eine blutige Sexualitätsallegorie, die Spaß haben will. Oder, für diejenigen, die ihre Genrebezeichnungen und filmischen Orientierungshilfen etwas kompakter mögen: Raw ist eine sehr böse Campus-Dramödie. Nicht aber der neuste, harte Scheiß der irren Franzosen.

Erzählt wird die Geschichte der schüchternen Justine (Garance Marillier), die Zeit ihres Lebens vegetarisch lebt - nicht zuletzt aufgrund des strengen Einflusses ihrer aufbrausenden Mutter (Joana Preiss), neben der Justines Vater (Laurent Lucas) trotz seiner manchmal kompromisslosen Aussagen wie die Genügsamkeit in Person wirkt. Justine folgt in die Fußstapfen ihrer großen Schwester Alexia (Ella Rumpf) und beginnt ein Studium als Tierärztin. Kaum auf dem Campus angekommen, muss Justine erkennen, dass auf dieser Universität Studentenkulte groß geschrieben werden: Die älteren Veterinärstudenten piesacken die Erstis mit degradierenden und grenzüberschreitenden "Traditionen", wie etwa dem Initiationsritus, eine rohe Kaninchenniere essen zu müssen. Zur Belohnung dürfen die Erstsemester ausgelassene Partys besuchen.

Zunächst von den ganzen "Pflichten" als Ersti angeekelt, entdeckt Justine während ihrer ersten Studienwochen eine zuvor ungeahnte Neugier. Sie bekommt Lust, es doch Mal mit dem Fleischessen zu probieren, fährt daher etwa nachts mit ihrem homosexuellen Mitbewohner Adrien (Rabah Naït Oufella) zu einer nahe gelegenen Raststätte, um dort ihren ersten Döner zu probieren. Aber nicht nur diese neue Fleischeslust (im wortwörtlichen Sinne) verändert Justines Persönlichkeit. Auf Partys geht sie immer mehr aus sich heraus und die ganzen Mutproben der Studienälteren werden von ihr auch nicht mehr so intensiv hinterfragt. Nur ihr Verhältnis zu ihrer älteren Schwester Alexia gleicht einer Achterbahnfahrt ...

Dass sich ihr Publikum nicht in ein La Boum 2016, Studentenedition verirrt hat, macht Julia Ducournau dadurch klar, dass sie über dieser beinahe alltäglichen Selbstfindungsdramödie ein gewaltiges inszenatorisches Damoklesschwert hängen lässt. Oder eher einen Damoklesfleischerhaken. So zeigt sie im Prolog, wie eine junge Fußgängerin auf einer Allee absichtlich einen fatalen Autounfall provoziert. Und die Musikuntermalung von Jim Williams (Auf Wiedersehen Pet) gleicht nahezu durchweg einer düster-hypnotischen Liaison aus melancholischem Electrosound, beunruhigend verzerrter, renaissanceartiger Cembalomelodien und dunkelromantischem Streicherorchester sowie nachdenklichem Pianogeklimper. Kombiniert mit der Kameraarbeit von Ruben Impens, der oftmals Distanz zum Geschehen wahrt, Szenen aber so gleichmäßig ausleuchtet, dass während dieser langen Einstellungen alles ersichtlich wird, erzeugt die Regisseurin ein unwohles Gefühl. Eine niederschmetternde Vorahnung, dass Justines Weg vorbestimmt ist und ins Unheil führen wird.

Gleichwohl spart Ducournau nicht mit Humor. Sei es die spielerische Neckerei zwischen Justine und ihrem Mitbewohner oder zappendustere Situationskomik, wenn Umstehende auf Justines charakterliche Transformation reagieren: Raw nimmt sich als kreativer Kommentar über das Erwachen weiblicher Sexualität nicht so wichtig, um nicht auch einige herzlich-boshafte Lacher zu verkraften. Der Cast brilliert in dieser ganz sonderbaren, mutigen Grundstimmung des Films: Garance Marillier erschafft eine glaubwürdige Figur, die zwischen Zurückhaltung, Rebellion, Exzentrik und Angst vor ihrer Selbst hin- und hergerissen ist; man muss es einfach lieben, Rumpf als arrogant-dreiste, aber auch verständnisvolle große Schwester zu hassen und Oufella gibt einen reizvollen schwulen Teilzeitmacho ab.

Was das nun für Raw bedeutet? Also, lasst mich überlegen: Ist Raw blutig? Ja. Macht sich Raw einen Spaß daraus, Geschmacksgrenzen zu überschreiten? Joah, durchaus, sofern man den Film nicht an Horrorschockermaßstäben misst. Hat Raw eine soghafte Atmosphäre und macht den Selbstfindungsprozess einer spätpubertierenden Studentin greifbar, verzerrt ihn aber so genüsslich durch eine Genrelinse, dass es ein diabolischer Spaß mit emotionaler Fallhöhe wird? Aber sowas von!

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