Freitag, 7. Februar 2020

Meine Lieblingsfilme 2019 (Teil IV)

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Ihr wisst, wie es nun abläuft: Bevor ich die nächsten zehn Ränge in meiner Hitliste präsentiere, halte ich euch noch ein wenig hin, um Raum zu schaffen für Ehrennennungen, also für Filme, die es nur ganz knapp nicht in das Ranking geschafft haben. Da wäre die von Seth Rogen produzierte, schmissige Teenie-Komödie Good Boys über minderjährige Freunde, die frisch die Liebe entdecken sowie  das Tabuthema Sex, von dem sie jedoch denkbar wenig Ahnung haben ("Du weißt doch gar nicht, was Nymphomanin bedeutet!" -"Doch! Sie hat Sex an Land und im Wasser!"). Außerdem hatte ich immens große Freude an Dora und die goldene Stadt, eine mit Selbstironie und Metaspäßen befeuerte Abenteuerkomödie, die nur noch einen winzigen Hauch überdrehter hätte sein dürfen. Das Gegenteil der optimistischen und frohen Dora ist die Hauptfigur in Systemsprenger. Das Drama über einen Quälgeist von einem Problemkind ist aufrüttelnd, stark gespielt und intensiv - setzt aber auf einen seichten Prolog, der die Kraft dieses Films verwässert. Sonst würden wir hier wohl von einem Top-Ten-Kandidaten sprechen. Und auch The Hate U Give ist als Film über systematischen Rassismus eine Wucht, die gen Schluss aber aufrüttelnden Zorn gegen etwas Deeskalation eintauscht. Das kann ich angesichts des jungen Zielpublikums verstehen, trotzdem reicht's so "nur" für die Ehrennennung.

Deutlich weniger zu klagen habe ich derweil bei diesen Filmen ...

Platz 20: Der goldene Handschuh (Regie: Fatih Akin)

Ein Serienkiller-Film, vollkommen frei von Glorifizierung und Entschuldigungstaktiken: Fatih Akin zeigt in Der goldene Handschuh das zugequarzte, versiffte Hamburger Kiezmilieu, in dem sich ein alkoholsüchtiger, dauerunzufriedener Typ an Frauen vergeht und sie (oft in Momenten eigener Impotenz) quält sowie anschließend ermordet. Akin deutet die Schreckenstaten visuell nur an, nutzt Geräuschkulissen und visuelle Gegenüberstellungen, um stattdessen ein brutales, niederschmetterndes Kino im Kopf des Publikums zu erzeugen. Jonas Dassler verschwindet völlig in der Figur Fritz Honka und die Nebendarstellerinnen sind unbeschreiblich gut: Manche verkörpern Frauen, die sich aufgegeben haben und deren Seelen scheinbar deren Körper verlassen, damit sie in Schockstarre Honkas Taten leichter überstehen, als würden sie noch voll da sein. In anderen brodelt es, dass es einem unter die Haut geht. Erschreckend detailreiche Nachbildungen der realen Schauplätze und bewusst gesetzte Lücken in Erzählung und Dialogen machen Der goldene Handschuh zu einem Film, der sich ins Gedächtnis brennt. Sehr starke Sache!

Platz 19: Dolemite Is My Name (Regie: Craig Brewer)

Nach "Ein passionierter Stümper dreht Filme und meint es wirklich gut" alias Ed Wood und "Ein völlig weltfremder Kerl mit Illusionen und Ego fabriziert totalen Müll, aber es ist irgendwie faszinierend" alias The Disaster Artist wird die thematische Trilogie an Filmen über reale, planlose Filmschaffende, die Kultwerke erschaffen haben, endlich komplett: Dolemite Is My Name erzählt vom erfolglosen Musikkünstler Rudy Ray Moore, der sich in den 1970ern letztlich als Vulgärkomiker versucht und mit seiner rotzig-ehrlichen Attitüde und seinem "Ein Anfänger, der es wissen will"-Charme zum Star wird. Auf der Höhe seiner Comedykarriere beschließt er, auch Filme zu drehen - obwohl kaum Profis mit ihm zu tun haben wollen und er selber null Ahnung vom Prozess hat. Dafür aber hat er umso mehr Passion und Wissen darüber, was sein Zielpublikum will. Eddie Murphy spielt so packend, charmant und komplex wie seit vielen Jahren nicht mehr, Regisseur Craig Brewer findet eine scheinbar mühelose Balance zwischen Witz, Dramatik und Zeitkolorit (die 70er und die schwarze Subkultur jener Zeit strahlen geradezu aus dem Film heraus) und die Nebenfiguren sind allesamt toll gespielt. Dass Rudy Ray Moore bei aller Derbheit eine deutlich liebenswertere Figur ist als Tommy Wiseau in The Disaster Artist und Dolemite Is My Name ebenso Kritiker einen Seitenhieb verpasst (eine besonders denkwürdige Szene zeigt den Unterschied zwischen annehmbaren und verletzenden Verrissen) als auch Spaß dran hat, Moores Macken wohlwollend vorzuführen, sorgt für weitere Sympathiepunkte.

Platz 18: 6 Underground (Regie: Michael Bay)

Was passiert, wenn ein Regisseur mit markantem Stil und einer durch zig Interviews bestens dokumentierten Liebe für die große Kinoleinwand von Netflix ein dreistelliges Millionenbudget in die Hand gedrückt bekommt und sich der Video-on-Demand-Dienst weitestgehend aus dem kreativen Prozess heraushält? Nun, offenbar erhält man dann dieses Glanzstück kinetischer Filmenergie: Michael Bays 6 Underground ist eine wuchtige, ruhelose Reise tief in die Bay-Ästhetik. Selbst bei ruhigen, intimen Gesprächen räkeln sich Damen in supermodischer Unterwäsche, als wären sie in einem Dessous-Werbespot. Auch die Herren werden athletisch in Szene gesetzt, als würden sie für Körperpflege werben, obwohl sie gerade einfach nur nachdenken. Die Actionszenen sind turbulent, überbordend, extrem kreativ und wann immer man denkt "Aha, ja, jede Menge Materialschaden, aber sonst nichts" knallt Michael Bay einem eine feierlich zelebrierte Gewaltspitze um die Ohren. Die Wetterumstände in der Filmwelt, der bestehende Schaden an Geräten und Gefährten, die Erzählstruktur, alles beugt sich Michael Bays ästhetischem Empfinden und seiner Adrenalinsucht. Kommt halt eine Rückblende auf eine Actionszene mitten in einer Actionszene! Sieht eine Trauerfeier halt aus wie ein Rumgetränk-Werbespot. Was soll's, es macht Spaß, es ist pure Stilistik, es ist die freie künstlerische Entfaltung eines Regisseurs mit dicker, fetter Handschrift. Und es ist Krachbumm-Action-Destillat voller loser Sprüche und großer Bilder. Arroganz rausoperieren lassen und genießen, Leute!
Platz 17: Beach Bum (Regie: Harmony Korine)

Ein ständig zugedröhnter Lebemann und Liebling seiner Heimatstadt irrt vollgesoffen, zugedröhnt und Party machend durch sein Leben. Es passieren ständig schlimme Dinge, Mann, aber, hey, so ist das Leben und ich hab gehört, da drüben wird heute richtig toll gefeiert, lass mal hingehen ... Harmony Korine verewigt im unter anderem von Hulu (und somit von Disney, oh Schreck!) gestützten Beach Bum das Lebensgefühl dieser Leute, von denen wir alle schon gehört haben oder die wir sogar kennen: Easy going, immer gut drauf, ganz gleich was passiert, hach, schau mal, der Himmel hat heut so schöne Farben und, ach, es gibt Drinks?!

Wenn Matthew McConaughey jemals erfährt, dass er hier mitgespielt hat, er wird sehr stolz auf diesen Film sein!


Platz 16: Dragged Across Concrete (Regie: S. Craig Zahler)

Zwei ungleiche Cops, die sich zwar häufig necken, aber dennoch ein starkes Team ergeben, haben im Dienst mal wieder die Regeln missachtet. Natürlich nur zum Wohle der Sicherheit, schwören sie! Und dennoch will ihr Vorgesetzter nichts davon hören. Also wird das Duo, das ein Lieblings-Diner hat, ein festes Menü und immer ein paar freche Sprüche im Ärmel, suspendiert. Aber was ist schon eine Suspendierung, wenn die Pflicht ruft? Also nehmen unsere Helden das Recht selber in die Hand und jagen Gangstern sowie deren Beute hinterher, selbst wenn dabei so manches zu Bruch geht ...

Was wie der neuste Film klingt, der aus demselben Holz geschnitzt ist wie die Bad Boys-Reihe, die Lethal Weapon-Saga, die Rush Hour-Trilogie oder (in Teilen) die Beverly Hills Cop-Filme, ist in Wahrheit eine ungeheuerlich beobachtungsstarke, kompromisslose sowie stringente Dekonstruktion von Buddy-Cop-Filmen. Praktisch jede Szene in Dragged Across Concrete lässt sich untertiteln mit "Erinnerst du dich an diese typische Sache aus den ganzen Polizeifilmen? Sag mal, hast du das je kritisch hinterfragt? Willst du mal wissen, wie das im echten Leben wäre?": Zwei alte, aggressive, zerknautschte Männer schimpfen im Diner über den Service und die Musik von heute. Cool? Nein, grantig! Zwei Cops machen Verdächtige mit unnötiger Härte dingfest. Geiler Scheiß? Vielleicht in Michael-Bay-Hausen, aber nicht in der echten Welt oder in Dragged Across Concrete. Zwei Cops observieren Verdächtige und mampfen dabei im Auto, während sie sich gegenseitig Sprüche über ihre jeweiligen Gewohnheiten reinwürgen? Zeit, sich bestens amüsiert sein Popcorn reinzuschmeißen? Ähhhh, nein! Dragged Across Concrete ist ein schlauer, gewollt-karger Gegenentwurf zu einem immens beliebten Action-Subgenre und obendrein bespickt mit harten, stark inszenierten Gewaltspitzen und einer sehr leise brodelnden Spannungskurve.

Platz 15: Wir (Regie: Jordan Peele)

Ein Horror-Regisseur legt nach seinem gefeierten Debüt ein ebenfalls sehr ambitioniertes, zweites Horrorprojekt nach, das mir persönlich deutlich mehr zusagt als der Vorgänger - Part III: Get Out mag ein sehr smarter Film sein, der viel auszusagen hat und randvoll mit Referenzen, Seitenhieben und Metaphern ist. Doch aufgrund eines zentralen Storyelements hat er mich auf der Spannungsebene verloren. Ich habe Respekt für Get Out über, aber für Jordan Peeles zweite Regiearbeit habe ich jede Menge Liebe über: Wir ist eine atmosphärisch dichte, vor Ideen nur so trotzende Horror-Analogie, in der eine Familie auf Doppelgänger trifft, womit sich die Schleusentoren für gesellschaftlichen und popkulturellen Kommentar öffnen. Davon ausgehend gibt Lupita Nyong'o eine Performance für die Horrorfilm-Geschichtsbücher, Winston Duke eine herrlich charmante Darbietung als der liebe, etwas peinliche Familienvater und auch ihre Filmkinder sowie ihre Film-Nachbarin Elisabeth Moss hauen tolle Leistungen raus. Peele erschafft eindrucksvolle Bilder, Michael Abels' Score ist bitter-schön und das Storytelling fies-elegant eingefädelt. Spitze!

Platz 14: Unicorn Store (Regie: Brie Larson)

Brie Larsons Unicorn Store ist womöglich so etwas wie Garden State für eine neue Generation an Nicht-ganz-Junggebliebenen-nicht-ganz-Erwachsenen: Diese bezaubernde, mit nachdenklichen und kummervollen Zwischentönen versehene Coming-of-Age/Coming-to-Sense-Dramödie handelt von einer Frau irgendwann in ihren 20ern, die eigentlich Künstlerin werden will. Doch da es mit ihrem Kunststudium nicht so ganz klappt, crasht sie vorübergehend bei ihren Eltern, zu denen sie ein wackliges Verhältnis hat. Einerseits drängen sie die kreative und ungebundene Kit in Richtungen, die nicht zu ihr passen, andererseits sind sie sehr wohlmeinend und unterstützend, was aber völlig an ihr vorbeigeht. Als Kit von einer Zeitarbeitsfirma in einer PR-Agentur geparkt wird, begegnet die naive Kit einem Sexismus und Konkurrenzkampf, der ihr bisher fremd blieb. Als dann ein Einzelhänder Kit Hoffnungen darauf macht, sich einen Kindheitstraum erfüllen zu können und ein Einhorn zu erhalten, muss Kit entscheiden: Wie geht sie mit berechtigtem und unberechtigtem Druck auf sie um?

Brie Larsons Regiedebüt tänzelt einen wunderschönen tonalen Tanz, zwischen magischem Realismus, quirliger Selbstfindung und trocken-treffsicherer Kommentare auf unnötige, tief verwurzelte Fehlstellungen. Sowohl in der Gesellschaft auch in der Mentalität frustrierter Spät-Millennials ... Larson und Samuel L. Jackson spielen super auf und ich kann Larsons nächsten Film nicht abwarten!

Platz 13: Colette (Regie: Wash Westmoreland)

Dieser auf wahren Begebenheiten basierende Mix aus Kostümdrama, Romantik-Dramödie, Kreativen-Porträt und Emanzipations-Kino handelt von Gabrielle-Sidonie Colette, die durch die Hochzeit mit einem Literatur- und Theaterkünstler von der französischen Provinz ins pulsierende Paris des späten 19. Jahrhunderts gelangt. Eingangs als Ghostwriterin für niedrige Aufgaben in der Schreibkunst-Fabrik ihres Gatten tätig, will sich Colette mehr und mehr selber verwirklichen. Teils ist ihr Mann für die Umstände und Konventionen jener Zeit unterstützend, in anderen Situationen ist er aber ein lästiger, rückschrittlicher Miesepeter. Was Regisseur Wash Westmoreland piefig und zurückhaltend inszeniert beginnt, entfaltet sich nach und nach wie die von Keira Knigthley eindrucksvoll gespielte Hauptfigur und wird zum amüsant-inspirierenden, queeren Lustspiel, zur energischen Gesellschaftskritik und zur hoch eloquenten, kecken Dramödie über eine Künstlerin, die vorausdenkt. Bildhübsch ausgestattet und mit punktgenauen Performances von Dominic West, Eleanor Tomlinson, Denise Gough und Aiysha Hart im erweiterten Cast ist Colette Historienkino, das bei mir sehr bleibenden Eindruck hinterlassen hat.

Platz 12: Plötzlich Familie (Regie: Sean Anders)

Die gelungenen Teile von Daddy's Home treffen auf den Mix aus Derbheit und verstecktem Hintersinn der Bad Neighbors-Filme, und dann wird all das mit einer extrem überraschenden, mich völlig um den Finger wickelnden Herzlichkeit versehen: Plötzlich Familie ist womöglich die Überraschung meines Filmjahres 2019. Es war einer der ersten Filme 2019, die ich gesehen habe. Die Pressevorführung fand im Doppel mit Chaos im Netz statt, und nachdem ich höchst zufrieden aus dem Disney-Animationssequel rausgekommen bin, hat mich Plötzlich Familie dann völlig umgehauen. Die von Adoptionserfahrungen des Regisseurs und Co-Autors Sean Anders inspirierte Dramödie hat es geschafft, selbst mich in Sachen "Guck mal, eine glückliche Familie! Na los, sei gerührt!"-Filmstoff eher sarkastisch veranlagten Typen dahinschmelzen zu lassen. Die Höhen, Tiefen und schwer einzuordnenden, halb-guten/halb-schlechten Stationen im abrupten Elternleben von Pete und Ellie Wagner sind rührend, ohne zuckrig zu sein, dramatisch, ohne verkrampft zu wirken, und herrlich-komisch, ohne die verfahrene Situation dieser Chaos-Familie zu vereinfachen. Kauzige Nebenfiguren, Mark Wahlberg, der in komischen Rollen mit strengen Zwischenphasen einfach so viel besser ist als in verbissenen Parts, eine herrliche Rose Byrne, die Witz, Empathie und Selbstmitleid mit Leichtigkeit unter einen Hut bringt, und Isabela "Aus der wird noch was ganz was großes" Moner machen Plötzlich Familie zu einem formidablen Vertreter der Filmgattung "Kuscheldeckenkino". Hach ...

Platz 11: Marriage Story (Regie: Noah Baumbach)

Scarlett Johansson ist in vielen filmischen Bereichen bewandert, doch sie ist eine Meisterin in Sachen Beziehungskummer-Geschichten. Erst spielte Scarlett Johansson in Sofia Coppolas filmgewordener Verarbeitung ihrer zerrütteten Beziehung mit Spike Jonze mit. Zehn Jahre nach Lost in Translation half sie sozusagen der Gegenseite aus und wirkte an Spike Jonzes Her mit, in dem der Regisseur seine in die Brüche gegangene Ehe mit Sofia Coppola verarbeitete. Und 2019 machte Johansson aus ihrer thematischen Dilogie eine Trilogie: In Marriage Story verarbeitet Regisseur und Autor Noah Baumbach (unter anderem) seine Scheidung von Schauspielerin Jennifer Jason Leigh. Und einmal mehr läuft Johansson zu Höchstform auf. Doch auch ihr Film-Partner Adam Driver begeistert mit einer mal verletzlichen, mal widerstandsfähigen, mal vernünftigen, mal naiven Persönlichkeit. Laura Dern fesselt als abgezockte Vollprofi-Scheidungsanwältin und Azhy Robertson ist als gemeinsamer Sohn des sich trennenden Paares mein Anwärter als "Heimlicher Spitzen-Unsympath des Jahres". Aber im guten, den Film bereichernden Sinne! Marriage Story ist überraschend gewitzt, dennoch ungeschönt und eine hervorragend gespielte, minutiös geschriebene und mit scharfem Auge, scheinbar beiläufig inszenierte Trennungsgeschichte, in der es weniger um den Zerfall einer Ehe geht, als um das Bewahren dessen, was zu retten ist. Intensiv, dennoch mit gewinnender Leichtfüßigkeit umgesetzt, und voller einprägsamer Szenen - ich kann es kaum abwarten, dass Scarlett Johansson eines Tages in Jennifer Jason Leighs Antwort auf Marriage Story mitspielt!

1 Kommentare:

Stepnwolf hat gesagt…

Ich fand Adam Driver in "Marriage Story" ja sogar noch einen Tick intensiver als die werte Ms. Johansson. Aber im Endeffekt spielen beide auf sehr hohem Niveau.

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