Samstag, 15. Januar 2011

Mary & Max – oder: Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?


Der australische Trickfilmer Adam Elliot wurde erstmals mit seinem Kurzfilm Harvie Krumpet einem internationalen Publikum bekannt. Die mit dem Academy Award für den besten animierten Kurzfilm ausgezeichnete Claymation-Produktionaus dem Jahre 2003 nutzte Erzähler Geoffrey Rush, um die tragikomische Geschichte des 1922 in Polen geborenen Harvek Milos Krumpetzki vorzuführen, eines vom Pech verfolgten Tourette-Patienten mit einem überaus bewegten Leben.
Sechs Jahre später brachte Elliot seinen ersten abendfüllenden Film auf die Leinwände, den unabhängig von großen Studios produzierten Mary & Max, dessen Kinoauswertung leider völlig von den größeren Stop-Motion-Erfolgen Coraline und Der fantastische Mr. Fox überschattet wurde. Dabei hätte Elliots in Spielfilmlänge umgesetzte, geistige Fortsetzung von Harvie Krumpet aufgrund ihrer erfrischend bittersüßen Schrulligkeit einen respektablen Erfolg in den Arthousekinos verdient gehabt. Glücklicherweise platziert der deutsche DVD-Verleih Ascot Elite Home Entertainment Mary & Max recht prominent in den Elektronikketten unseres Landes, weshalb die Aussicht besteht, dass er sich als Blindkauf neugieriger Trickfilmliebhaber zum DVD-Geheimtipp hocharbeiten könnte.

1976. Ein ländlicher Vorort von Melbourne, Austalien: Die achtjährige Mary leidet unter elterlicher Vernachlässigung, außerdem wird sie aufgrund ihrer Pummeligkeit und ihres markant gefärbten Stirnmals in der Schule ausgegrenzt. Ihre einzigen Freuden im Leben erfährt sie durch schokoladige Nachereien, ihre liebste Fernsehsendung The Noblets sowie ihren Haushahn Ethel. Der kann zwar keine Eier legen, Mary zu Folge ist er aber fleißig dabei, es zu lernen. Als sich ihre Mutter im Postamt gerade wieder einiges "ausleiht", beschließt sie, sich einen Brieffreund in Amerika zu suchen. Zufällig sucht sie sich eine Adresse aus und schreibt an die betreffende Person einen freundlichen, wissbegierigen Brief, in dem sie zum Beispiel danach fragt, woher die Kinder in den USA kommen.

Der willkürlich ausgewählte Brieffreund ist der übergewichtige, 44-jährige Max. Seine Persönlichkeitsstörungen drängten ihn in die Einsamkeit. Max betrachtet die Welt streng logisch, weshalb ihm Menschen befremdlich erscheinen, er versteht ihre Emotionen nicht und hat Angst vor Kontaktaufnahmen. Obwohl er sich vornahm, endlich Freunde zu finden, lebt er allein mit mehreren Haustieren in einem kleinen Appartement und weder sein Psychiater, noch sein imaginärer Freund sind ihm eine Hilfe. Marys aus heiterem Himmel kommender Brief versetzt Max zunächst in große Panik, aber die gemeinsame Liebe für Schokolade erleichtert ihm die Kontakaufnahme. Es entsteht eine Brieffreundschaft mit ebenso vielen inspirierenden Höhen wie niederschmetternden Tiefen - und immerwährender, liebenswerter Skurrilität.

Eins vorneweg: Egal, was die eigenen Vorlieben sein mögen, rein technisch betrachtet reich Mary & Max nicht an die visuelle Eindruckskraft des flüssig animierten Coraline von Henry Selick oder den von Wes Anderson in Der fantastische Mr. Fox gewählten, bewusst schäbigen Retro-Flair einer alten Fernsehsondersendung heran. Das Figurendesign von Adam Elliots schwarzhumorigen und berührenden Erwachsenen-Briefmärchen wirkt trotz dezenter Launenhaftigkeit altbekannt und die Animation der Knetfiguren geriet nicht so flüssig, wie in manchen bekannteren Vertretern des Mediums, beispielsweise Nightmare before Christmas. Nicht aber, dass Elliots Mary & Max ein sich ins Kino verirrtes Hörspiel sei. Obschon er weder so innovativ, noch so ausgeschmückt daherkommt wie manch anderer Stopmotion-Trickfilm, sind die Bilder des australischen Regisseurs liebevoll durchdacht und stützen so den melancholisch-märchenhaften Briefwechsel, den diese Geschichte darstellt. Die kargen Welten der Protagonisten, Max' deprimierend grau-schwarze Metropole und Marys eintönig staubig-brauner Vorort, werden durch vereinzelt auftauchende, skurrile Hintergrunddetails und die wiederkehrende Präsenz der mitleidig dreinblickenden Fauna, mit rarem, doch treffendem Leben gefüllt, welches die emotionale Gefangenheit der Brieffreunde (und somit die Stimmung des Films) kommentiert.

Als filmischer Briefroman verläuft Mary & Max nahezu dialogfrei. Elliot schaltet stattdessen dieser viel mehr drei Erzählerinstanzen, die den Zuschauer über das Geschehen informieren. Zunächst findet sich ein über den Ereignissen des Films stehender, praktisch allwissender Erzähler, der für den nötigen Kontext sorgt, die zunächst voneinander unabhängigen Handlungsfäden Marys und Max' vereint und bei Zeitsprüngen die relevanten Informationenliefert oder auch für die ihre Gefühle nicht ausdrücken könnenden Figuren einspringt und an ihrer Statt Einblicke in ihre Gedanken gewährt. Sobald der Briefwechsel zwischen Mary und Max beginnt, sind auch ihre Stimmen vermehrt zu hören, da der Verfasser jedes Briefs ihn aus dem Off vorträgt.
Mit den Figuren entwickeln sich auch ihre Briefe weiter, und so verändert sich auch Mary & Max graduell. Eröffnet der Film noch als ein Stück weit groteske, schwarze Komödie über zwei liebenswerte Außenseiter, entfaltet sich mit dem wachsenden Vertrauen der beiden sich vollkommen fremden Brieffreunde zueinander, eine Fülle an Themen, die Elliot sehr einfühlsam und mit angebrachtem Humor behandelt.

Hierin zeigt sich die meisterliche Klasse von Adam Elliots Drehbuch sowie seiner dramaturgisch auf den Punkt gebrachten Inszenierung: Während man anfangs, trotz Empathie, über die Quirligkeit der beiden Protagonisten lacht und sich der Humor in manchen seiner Spitzen zynisch zeigt, involviert man sich sehr schnell und immer zunehmender emotional in die beiden Lebensgeschichten, die Mary & Max schildert, so dass der Zuschauer zunächst mit, oder besser gesagt für die emotional gefangenen Figuren lacht, bis ihm letztlich das Lachen im Halse stecken bleibt. Es ist erstaunlich, wie gefühlvoll sich Adam Elliot den von gesellschaftlicher Isolation, geistigen Behinderungen, konstantem Unglück und fatalen Fehlentscheidungen geprägten Lebensgeschichten seiner Figuren annimmt, und mit welch beiläufiger Finesse die raren und umso wertvolleren Glücksmomente in dieses bittersüße Erwachsenenmärchen eingewoben wurden.
Durch den rabenschwarzen, aber nie gemeinen Humor und die zu Herzen gehende Charakterisierung seiner Hauptdarsteller ist Mary & Max ein außerordentlich einvernehmender Film, der sein Publikum vollkommen einzuvernehmen weiß. Que Sera, Sera (Whatever Will Be, Will Be) wird man sich nie mehr wie früher anhören können.

Es ist unerklärlich, wie sich Mary & Max in einer Welt, in der Große Haie, kleine Fische eine Oscar-Nominierung für den besten Trickfilm erhielt, fast ausschließlich nur mit kleineren Filmpreisen schmücken darf. Adam Elliots sehr, sehr lose auf wahren Begebenheiten basierendes Claymation-Meisterwerk ist überaus unterhaltsam, intelligent und sterbenstraurig, womit wieder einmal bewiesen ist, zur perfekten Vermittlung welch facettenreicher Geschichten das Trickmedium fähig ist. Als Realfilm wäre Mary & Max sicherlich längst nicht so charmant, ganz gleich, wie ergreifend sein hervorragendes Drehbuch ist.

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1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wie schön, dass du diesen Film hier rezensierst. Ich mag ihn wirklich sehr und kann dir in allem, was du schreibst, nur zustimmen. Das ist irgendwie ein Film für sich, aber auf jeden Fall wundervoll und sehenswert.

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