
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Das Originalgedicht Die Ballade von Mulan aus dem sechsten Jahrhundert ist seit langem verschollen; die älteste Version, die bis heute tradiert ist, ist Teil einer Sammlung von Liedern und Gedichten, die von Guo Maoqian zusammengestellt wurden:

Mulan webt neben der Tür.
Man hört das Weberschiffchen nicht,
Man hört nur den Klang der seufzenden Tochter.
Frag sie, an wem ihr Herz hängt,
Frag sie, zu wem ihre Gedanken sich wenden.
„An niemandem hängt mein Herz,
Niemand ist in meinen Gedanken.
Letzte Nacht sah ich die Armeeaushänge,
Der Khan ruft viele Truppen zusammen:
Zwölf Schriftrollen mit Kriegsbescheiden,
Auf jeder von ihnen steht Vaters Name.
Vater hat keinen erwachsenen Sohn,
Mulan hat keinen älteren Bruder.
Ich will ein Pferd und einen Sattel kaufen,
und in der Armee an Vaters Stelle dienen.“
Auf dem Ostmarkt kauft sie ein feuriges Ross,
Auf dem Westmarkt kauft sie einen Sattel,
Auf dem Südmarkt kauft sie Trense und Zaumzeug,
Auf dem Nordmarkt kauft sie eine lange Peitsche.
Bei Morgengrauen verlässt sie Vater und Mutter,
Am Abend erreicht sie den Gelben Fluss.
Sie hört Vater und Mutter nicht rufen,
Sie hört nur das rauschende Wasser des Gelben Flusses.
Bei Morgengrauen verlässt sie den Gelben Fluss,
Am Abend erreicht sie die Schwarzen Berge.
Sie hört Vater und Mutter nicht rufen,
Sie hört nur die Schreie der Wildpferde in den Yan-Bergen.
Zehntausend Meilen reitet sie im Kriegsdienst,
Überquert Pässe und Berge wie im Flug.
Die Nordwinde tragen den Klang der Armee-Gongschläge mit sich,
Kaltes Licht scheint auf eiserne Rüstungen,
Generäle sterben in hundert Schlachten,
Tapfere Krieger kehren nach zehn Jahren zurück.
Auf ihrer Rückkehr sehen sie den Sohn der Himmel,
Der Sohn der Himmel sitzt in der Halle des Glanzes.
In zwölf Rängen gibt er Belohnungen aus,
Und beschenkt mit Hunderten von Tausenden.
Der Khan fragt sie, was sie ersehnt,
„Mulan braucht keinen hohen Posten.
Ich bitte um ein schnelles Reittier,
Das mich zurück in meine Heimat trägt.“
Als Vater und Mutter hören, dass die Tochter heimkommt,
gehen sie zur Stadtmauer, um sie zu begrüßen.
Als die ältere Schwester hört, dass die jüngere Schwester heimkommt,
Kümmert sie sich um ihre Schminke und wendet sich zur Tür.
Als der kleine Bruder hört, dass die ältere Schwester heimkommt,
Wetzt er eilig sein Messer für Schwein und Lamm.
„Ich öffne die Tür meiner Ostkammer,
Ich sitze auf dem Sofa in der Westkammer.
Ich lege mein Kriegsgewand ab,
Und ziehe meine alte Kleidung an.“
Vor dem Fenster zähmt sie ihr wirres Haar,
Vor dem Spiegel legt sie ihr Blumenpulver auf.
Sie geht hinaus, um ihre Waffenbrüder zu sehen.
Ihre Waffenbrüder sind verwundert und erstaunt:
„Zwölf Jahre sind wir zusammen gereist,
Und haben nicht bemerkt, dass Mulan eine Frau ist!“
Der Rammler hoppelt hier und dort,
Die Augen der Häsin sind schmal.
Zwei Hasen rennen Seite an Seite,
Wie kannst du sagen, wer Mann ist, und wer Frau?
Mit seiner kurzen, aber eindringlichen Erzählung ist das Gedicht wunderbar für eine ausführlichere Adaption geeignet. Es erzählt gerade genug, um die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, aber gleichzeitig so wenig, dass einer Verfilmung vollkommen freie Hand gelassen wird. Nicht zuletzt ist dadurch auch die Gefahr deutlich eingeschränkt, sich durch einen Affront gegenüber der fremden Kultur in die Nesseln zu setzen.


Im Disneyfilm dagegen wird Mulans Geschlecht noch vor dem großen Finale offengelegt, so dass das gesamte Volk miterleben kann, wozu speziell eine Frau fähig ist. Die Rede des Kaisers dient schließlich nicht nur dazu, diese Aussage nochmals offen zu unterstreichen, sondern sie schenkt Mulan auch ihren langersehnten Moment der unverstellten Anerkennung - eine Belohnung, die Mulan im Gedicht anscheinend kaum für nötig hält.
Auf Chinesisch heißt Mùlán „Magnolie“ (wörtlich „Waldorchidee“) - eine Übersetzung, die sich in Mulans angenommenem Namen Fa Ping widerspiegelt, der dem Klang im Chinesischen „Blumentopf“ oder im übertragenen Sinne „Augenschmaus“ bedeutet. Auch die Namen von Mulans Tieren sind frei aus dem Gedicht übernommen; Kleiner Bruder, Khan und Kri-Kri (was als Lautmalerei für ein Seufzen das erste Wort des Gedichts ist).



Eigentlich ist es bemerkenswert, wie perfekt das alte Gedicht zur Disney-Agenda der starken weiblichen Figuren passt. Die Geschichte ist gerade weit genug angerissen, dass man sie wunderbar für einen Film verwenden kann, und auch Mulans Charakter ist zwar nur knapp, aber doch ausführlich genug definiert - und das gerade, wenn man sie mit den durchschnittlichen Märchenfiguren unseres Kulturkreises vergleicht. Sie ist nicht nur weit moderner als unsere Märchenprinzessinnen, sondern trotz der Kürze des Gedichts auch genauer durchleuchtet. Gerade der innere Konflikt zwischen der Hilfe, die sie ihrem Vater geben will und ihrem eigentlichen Leben als Frau ist zwar nur angerissen, doch es genügt, sich ein umfassendes Bild der jungen Frau zu machen. Und damit bietet das alte Gedicht das perfekte Material für ein perfektes Disney-Meisterwerk.
1 Kommentare:
Das Gedicht/Lied ist wirklich sehr schön. Kannte ich noch nicht. Schon mal danke dafür!
Ich bin übrigens der Meinung, dass ihr noch eine Reihe über die Entstehung und Produktion der Meisterwerke braucht. :D
Gerade bei "Mulan" interessiert es mich schon sehr, Hintergründe zur perfekten Animation oder dem grandiosen Lawinengetöse zu erfahren. ^^
"Mulan" gehört bei mir zu den Spitzenreitern, solche Filme braucht Disney wieder!
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