Samstag, 20. Juli 2013

Die Quellen der Disneyfilme: Mulan

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Das Originalgedicht Die Ballade von Mulan aus dem sechsten Jahrhundert ist seit langem verschollen; die älteste Version, die bis heute tradiert ist, ist Teil einer Sammlung von Liedern und Gedichten, die von Guo Maoqian zusammengestellt wurden:

Ein Seufzen, und wieder ein Seufzen,
Mulan webt neben der Tür.
Man hört das Weberschiffchen nicht,
Man hört nur den Klang der seufzenden Tochter.
Frag sie, an wem ihr Herz hängt,
Frag sie, zu wem ihre Gedanken sich wenden.
„An niemandem hängt mein Herz,
Niemand ist in meinen Gedanken.
Letzte Nacht sah ich die Armeeaushänge,
Der Khan ruft viele Truppen zusammen:
Zwölf Schriftrollen mit Kriegsbescheiden,
Auf jeder von ihnen steht Vaters Name.
Vater hat keinen erwachsenen Sohn,
Mulan hat keinen älteren Bruder.
Ich will ein Pferd und einen Sattel kaufen,
und in der Armee an Vaters Stelle dienen.“

Auf dem Ostmarkt kauft sie ein feuriges Ross,
Auf dem Westmarkt kauft sie einen Sattel,
Auf dem Südmarkt kauft sie Trense und Zaumzeug,
Auf dem Nordmarkt kauft sie eine lange Peitsche.
Bei Morgengrauen verlässt sie Vater und Mutter,
Am Abend erreicht sie den Gelben Fluss.
Sie hört Vater und Mutter nicht rufen,
Sie hört nur das rauschende Wasser des Gelben Flusses.
Bei Morgengrauen verlässt sie den Gelben Fluss,
Am Abend erreicht sie die Schwarzen Berge.
Sie hört Vater und Mutter nicht rufen,
Sie hört nur die Schreie der Wildpferde in den Yan-Bergen.

Zehntausend Meilen reitet sie im Kriegsdienst,
Überquert Pässe und Berge wie im Flug.
Die Nordwinde tragen den Klang der Armee-Gongschläge mit sich,
Kaltes Licht scheint auf eiserne Rüstungen,
Generäle sterben in hundert Schlachten,
Tapfere Krieger kehren nach zehn Jahren zurück.

Auf ihrer Rückkehr sehen sie den Sohn der Himmel,
Der Sohn der Himmel sitzt in der Halle des Glanzes.
In zwölf Rängen gibt er Belohnungen aus,
Und beschenkt mit Hunderten von Tausenden.
Der Khan fragt sie, was sie ersehnt,
„Mulan braucht keinen hohen Posten.
Ich bitte um ein schnelles Reittier,
Das mich zurück in meine Heimat trägt.“

Als Vater und Mutter hören, dass die Tochter heimkommt,
gehen sie zur Stadtmauer, um sie zu begrüßen.
Als die ältere Schwester hört, dass die jüngere Schwester heimkommt,
Kümmert sie sich um ihre Schminke und wendet sich zur Tür.
Als der kleine Bruder hört, dass die ältere Schwester heimkommt,
Wetzt er eilig sein Messer für Schwein und Lamm.
„Ich öffne die Tür meiner Ostkammer,
Ich sitze auf dem Sofa in der Westkammer.
Ich lege mein Kriegsgewand ab,
Und ziehe meine alte Kleidung an.“
Vor dem Fenster zähmt sie ihr wirres Haar,
Vor dem Spiegel legt sie ihr Blumenpulver auf.
Sie geht hinaus, um ihre Waffenbrüder zu sehen.
Ihre Waffenbrüder sind verwundert und erstaunt:
„Zwölf Jahre sind wir zusammen gereist,
Und haben nicht bemerkt, dass Mulan eine Frau ist!“

Der Rammler hoppelt hier und dort,
Die Augen der Häsin sind schmal.
Zwei Hasen rennen Seite an Seite,
Wie kannst du sagen, wer Mann ist, und wer Frau?



Mit seiner kurzen, aber eindringlichen Erzählung ist das Gedicht wunderbar für eine ausführlichere Adaption geeignet. Es erzählt gerade genug, um die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, aber gleichzeitig so wenig, dass einer Verfilmung vollkommen freie Hand gelassen wird. Nicht zuletzt ist dadurch auch die Gefahr deutlich eingeschränkt, sich durch einen Affront gegenüber der fremden Kultur in die Nesseln zu setzen.

Die Geschichte ist simpel, und so ist es nicht verwunderlich, dass der Disneyfilm dem Gedicht sehr genau folgt. Der größte Unterschied liegt in der Länge des Kriegs, der im Gedicht über zehn Jahre dauert, im Film dagegen geschätzte Monate - eine verständliche Abweichung. Doch das, was die Geschichte ausmacht, ist alles von Anfang an vorhanden: Schon die ersten Zeilen des Gedichts zeigen die Gegenüberstellung der eigentlich zu erwartenden Rolle Mulans - der Rolle als Mädchen und zukünftige Ehefrau - und dem Platz, den sie für ihren Vater stattdessen einnehmen will. Genauso ist es am Ende eine ähnliche Wahl, die sie wiederum ohne zu zögern trifft; statt eines hochgeachteten Postens unter dem Khan wünscht sich Mulan, so schnell wie möglich zu ihren Eltern zurückkehren zu dürfen.
Erwähnenswert ist sicher, dass in dem Gedicht das Geheimnis um Mulans Geschlecht bis zum Ende nicht gelüftet wird, und auch der Khan weiß wohl nicht, wem er seine Ehrungen anbietet - doch in gewisser Weise ist es gerade dieses Unwissen, das klar macht, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau wirklich geringer ist, als es sich die festgelegte Gesellschaft vorstellen könnte. Nur eine kurze Moral am Ende spricht offen aus, was ja schließlich Grundbedingung der ganzen Geschichte ist.
Im Disneyfilm dagegen wird Mulans Geschlecht noch vor dem großen Finale offengelegt, so dass das gesamte Volk miterleben kann, wozu speziell eine Frau fähig ist. Die Rede des Kaisers dient schließlich nicht nur dazu, diese Aussage nochmals offen zu unterstreichen, sondern sie schenkt Mulan auch ihren langersehnten Moment der unverstellten Anerkennung - eine Belohnung, die Mulan im Gedicht anscheinend kaum für nötig hält.



Auf Chinesisch heißt Mùlán „Magnolie“ (wörtlich „Waldorchidee“) - eine Übersetzung, die sich in Mulans angenommenem Namen Fa Ping widerspiegelt, der dem Klang im Chinesischen „Blumentopf“ oder im übertragenen Sinne „Augenschmaus“ bedeutet. Auch die Namen von Mulans Tieren sind frei aus dem Gedicht übernommen; Kleiner Bruder, Khan und Kri-Kri (was als Lautmalerei für ein Seufzen das erste Wort des Gedichts ist).
Was Mulans Charakter anbelangt, so ist es bemerkenswert, wie viel an Persönlichkeit in einer so kurzen Geschichte offenbart werden kann. Das Gedicht hält sich nicht lange mit einer tieferen Betrachtung der Figuren auf, aber dennoch wird Mulans Innenleben durch ihre Taten klar definiert: Sie wird als folgsame Tochter dargestellt, die sich der Frauenarbeit beugt, aber statt von Liebeskummer von der Sorge um ihren Vater durchdrungen ist - so sehr, dass sie sich schließlich entscheidet, aufzubegehren und an seiner Stelle in den Krieg zu ziehen. Dort gelingt es ihr, zehn Jahre unentdeckt zu überleben und als Krieger geehrt zu werden, aber dennoch bleibt es ihr eigentlicher Wunsch, nach vollbrachter Pflicht zurückzukehren und sich als Erstes wieder in ihre eigene, weibliche Schale zu hüllen. Die Rolle, die sie annahm, hat sie für ihren Vater gerne eingenommen, aber dennoch bleibt sie im Innern Frau; in den Krieg zu ziehen war kein reiner Selbstzweck für sie.
Man könnte Mulan vorwerfen, dass sie in dieser alttradierten Version keinerlei eigene Intentionen ausgeführt hat, sondern nur aus pflichtbewusster Tochterliebe handelt - anders gesagt, dass die Geschichte weit weniger modern ist, als sie auf den ersten Blick wirkt. Dagegen würde ich einwenden, dass es im Gedicht für die Familie sehr wohl andere Möglichkeiten gab: Mulan hat eine ältere Schwester und einen kleinen Bruder, beides sicher keine idealen Kämpfer, aber beide womöglich besser geeignet als Mulan selbst. Was sie den anderen voraushat, ist der Wille, zu kämpfen und ihren Vater zu schützen, und damit sehr wohl eine aktive, „fortschrittliche“ Einstellung.
Der Disneyfilm bietet sehr viel mehr Raum, um Mulans Motivationen zu hinterfragen, und so ist nicht verwunderlich, dass ihre Beweggründe dort zweifelsfrei offenliegen. Natürlich war die Gefahr für ihren Vater der Anlass, der Mulan zum Handeln gezwungen hat, doch auch vorher war sie mit ihrer Rolle eindeutig unzufrieden und es ist klar, dass dieser Krieg ihr die langersehnte Möglichkeit zur Selbstentfaltung bietet. Doch trotzdem ist sie auch hier am Ende froh, nach Hause zurückzukommen, sie nimmt ihre weibliche Rolle wieder ein - und anders als im Gedicht findet sie hier am Ende sogar den vorteilhaften Ehemann.


Eigentlich ist es bemerkenswert, wie perfekt das alte Gedicht zur Disney-Agenda der starken weiblichen Figuren passt. Die Geschichte ist gerade weit genug angerissen, dass man sie wunderbar für einen Film verwenden kann, und auch Mulans Charakter ist zwar nur knapp, aber doch ausführlich genug definiert - und das gerade, wenn man sie mit den durchschnittlichen Märchenfiguren unseres Kulturkreises vergleicht. Sie ist nicht nur weit moderner als unsere Märchenprinzessinnen, sondern trotz der Kürze des Gedichts auch genauer durchleuchtet. Gerade der innere Konflikt zwischen der Hilfe, die sie ihrem Vater geben will und ihrem eigentlichen Leben als Frau ist zwar nur angerissen, doch es genügt, sich ein umfassendes Bild der jungen Frau zu machen. Und damit bietet das alte Gedicht das perfekte Material für ein perfektes Disney-Meisterwerk.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das Gedicht/Lied ist wirklich sehr schön. Kannte ich noch nicht. Schon mal danke dafür!

Ich bin übrigens der Meinung, dass ihr noch eine Reihe über die Entstehung und Produktion der Meisterwerke braucht. :D
Gerade bei "Mulan" interessiert es mich schon sehr, Hintergründe zur perfekten Animation oder dem grandiosen Lawinengetöse zu erfahren. ^^
"Mulan" gehört bei mir zu den Spitzenreitern, solche Filme braucht Disney wieder!

Kommentar veröffentlichen