
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Das Motiv von Schöne und Biest hat eine lange, weitverzweigte Historie. Eine der ältesten Ausprägungen der Geschichte findet sich schon in der Legende von Amor und Psyche, und auch in der neuzeitlichen Märchenkultur taucht das Thema immer wieder auf, wie im Grimm‘schen Froschkönig oder dem norwegischen Östlich von der Sonne und westlich vom Mond. Doch trotz all dieser Vorgänger hat sich das französische Märchen Die Schöne und das Biest heute als quasi definitive Bearbeitung etabliert - zum einen wohl dank des sehr direkten, offensichtlichen Titels, aber wie ich denke auch, da die heute gängige Erzählweise alle wichtigen Motive in sich vereinigt. Der Kontrast zwischen inneren und äußeren Werten wird stärker aufgezeigt als beispielsweise bei Amor und Psyche, die Moral der Geschichte ist sehr viel eingängiger und stimmiger als im Froschkönig. Dabei existiert von dem Märchen nicht einmal eine definitive Fassung, sondern es gibt zwei Versionen, die dieselbe Geschichte auf erstaunlich unterschiedliche Art erzählen, nämlich das Buch von Gabrielle-Suzanne de Villeneuve und das kürzere Märchen von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont.

Die Protagonistin, die ihrer Schönheit wegen allgemein nur Schöne genannt ist, ist die jüngste Tochter eines verarmten Kaufmanns, der außer ihr noch elf Kinder hat, darunter fünf neidische und missgünstige Schwestern. Als der Kaufmann auf Reisen geht, fragt er nach Aschenputtel-Manier seine Töchter nach ihren Wünschen, und während die anderen Mädchen Schmuck und Kleider bestellen, bittet Schöne den Vater nur um eine Rose. Die Reise bleibt erfolglos, der Kaufmann verirrt sich im Schnee und findet dort ein verzaubertes Schloss, in dem ihm Zuflucht geboten wird. Erst als er sich an einer der Rosen im Garten vergreifen will, erscheint der Schlossherr in Gestalt eines wütenden Biests. Es will die Dreistigkeit anfangs mit dem Tode bestrafen, doch dann bietet es an, dass sich eine der Töchter des Kaufmannes anstelle ihres Vaters freiwillig ausliefern kann. Gegen seinen Willen gehorcht der Mann und bringt Schöne zum Schloss, um sie in der Obhut des Biestes zurückzulassen.
Schöne bekommt in ihrem neuen Zuhause alles, was sie sich wünschen kann; auf dem Weg durch das Schloss findet sie unter anderem eine Bibliothek und ein Spiegelkabinett, das es ihr ermöglicht, weit entfernte Orte zu beobachten, außerdem leisten ihr eine Reihe wundersamer Tiere Gesellschaft und immer wieder betrachtet sie das Bild eines wunderschönen Jünglings, das in einem der entlegeneren Zimmer hängt. Ebendieser junge Mann erscheint ihr auch in ihren Träumen (wo sie ihn mit Amor vergleicht - siehe Amor und Psyche) und er bittet sie immer wieder, ihm zu helfen, und sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen zu lassen. Natürlich erkennt Schöne keinen Zusammenhang zwischen dieser Traumgestalt und dem abscheulichen Biest, das ihr jeden Abend Gesellschaft leistet, einige Sätze mit ihr wechselt und sie regelmäßig vergeblich um ihre Hand bittet. Dabei ist für Schöne neben dem Äußeren des Biests vor allem auch seine offensichtliche Dummheit zu abstoßend, als dass sie seine Bitte näher überdenken könnte. Doch als der Jüngling aus ihren Träumen sie schließlich auffordert, das Biest zu töten, stellt sie eindeutig fest, dass sie ihrem Gastgeber gegenüber zu viel Respekt und Dankbarkeit empfindet, um zuzulassen, dass ihm etwas geschähe.
Nachdem viele Monate vergangen sind, bittet Schöne das Biest, für einige Zeit zu ihrem Vater zurückkehren zu dürfen und er erfüllt ihr die Bitte. Nachdem die gewährten zwei Monate zuhause verstrichen sind, sieht sie im Traum das Biest, das am Sterben ist, weil es nicht mehr an ihre Rückkehr glaubt. Sofort eilt Schöne zurück, und während sie das todkranke Biest gerade noch retten kann, werden ihr ihre eigentlichen Gefühle klar. An diesem Abend antwortet sie auf seinen Heiratsantrag mit Ja, sie legt sich schlafen und wacht am nächsten Morgen mit dem zurückverwandelten schönen und sprachgewandten Prinzen an ihrer Seite auf.
Bis hier nimmt die Villeneuve-Version des Märchens einen wunderschönen, wenn auch zeitweise ein wenig altmodischen Verlauf - doch nun (nach gerade einmal der Hälfte der Seiten) wird die ganze Sache erstaunlich absurd und überzogen.
Am nächsten Morgen kommen die Mutter des Prinzen und eine gute Fee zu Schöne, und nachdem die Königin sich wiederholt weigert, ihrem Sohn die Hochzeit mit einer Kaufmannstochter zu erlauben, eröffnet ihr die Fee, dass es sich bei Schöne in Wirklichkeit um eine Prinzessin und eine Feenabstämmige handle; um die Kusine des Prinzen väterlicher- und um die Nichte der Fee selbst mütterlicherseits. Es folgt eine langwierige Vorgeschichte des Prinzen, die etwas an Dornröschen erinnert: Er hat einst den Zorn einer alten Fee auf sich gezogen, als er sich weigerte, sie zu heiraten, und zur Strafe legte sie den Fluch von Hässlichkeit und scheinbarer Dummheit auf ihn. Die gute Fee tat alles, den Fluch zu erleichtern, indem sie das Hofvolk in Statuen verwandelte, das Schloss des Prinzen in einem Zaubernebel versteckte und ihm auch sonst jede Annehmlichkeit gewährte, bis Schöne ihn schließlich erlösen konnte.
Es wird noch seltsamer, als der eigentliche Vater von Schöne, der Onkel des Prinzen und selbst ein König, auftaucht und auch dessen Vorgeschichte aufgedeckt wird, inklusive der alten bösen Fee, einer verschwundenen Mutter und einer weiteren Reihe von konstruierten Zufällen, die endlich in einer glücklichen Familienzusammenführung münden.
Es handelt sich zweifellos um eine viel zu lange, konstruierte Exposition, die die Wirkung des Märchens beinahe zerstört, da am Ende die gesamte Entwicklung als vorgeplant entlarvt wird. Aber wie gesagt, liest man nur die erste Hälfte der Geschichte, so ist es eine wunderbare Erzählung.

Inhaltlich gibt es zwischen den beiden Fassungen nur geringfügige Änderungen, wie die, dass Beaumont die Menge von Kindern auf drei Söhne und drei Töchter reduziert hat. Sowohl Bibliothek als auch Zauberspiegel werden auch hier erwähnt, wobei eine noch stärkere Betonung auf Schönes Intelligenz und Bücherliebe gelegt wird. Beaumont beschreibt das Biest auch als sehr zuvorkommend und nicht dumm, sondern nur nicht besonders geistvoll.
Die Geschichte folgt dem gleichen Prinzip; Schöne erkennt schnell die gute Natur des Biestes, doch erst als sie für einige Zeit zu ihrem Vater geht und bei ihrer Rückkehr auf das sterbende Biest trifft, wird ihr das Ausmaß ihrer Gefühle wirklich bewusst. Sie gesteht ihre Liebe und mit einem großen Feuerwerk verwandelt sich das Biest zurück in den schönen, geistreichen Prinzen.
Was die Fee betrifft, so wird in dieser Fassung kein Grund für den ursprünglichen Fluch genannt und der Prinz redet nur von der „bösen Fee“. Doch da die Fee am Ende erscheint und Schönes Schwestern als Strafe für ihr missgünstiges Handeln in Statuen verwandelt, kann man zumindest annehmen, dass sie auch für ihre andere Verfluchung einen entsprechenden Grund hatte.
Der Disneyfilm basiert offiziell nicht auf einer speziellen Version des Märchens, und da beide Fassungen in den entscheidenden Punkten stark übereinstimmen, ist so eine Unterscheidung auch schwer zu treffen. Die Grundgeschichte ist von beiden Fassungen gleich frei übernommen, und gerade die spezielleren Motive, die aus dem Märchen herausgepickt wurden, um im Film eine besondere Betonung zu erhalten, finden sich großteils in beiden Aufschrieben: die Bibliothek, die Schöne im Schloss findet, der Zauberspiegel, der ihr Bilder von draußen zeigt, die in einem Feuerwerk aufgehende Entzauberung, und natürlich vor allem die Rose. Von all diesen Elementen, die im Film in einen größeren Bedeutungshintergrund eingebettet wurden, ist nur das Bildnis des Jünglings, das Schöne in einem versteckten Raum findet, auf Villeneuves Version beschränkt.
Zu erwähnen ist vielleicht noch, dass der Prinz in beiden Versionen keinen Namen hat, ebenso wenig wie irgendeine andere Figur. Da sich der Disneyfilm aber auch bei den anderen Figuren in keiner Weise um diese Namenlosigkeit schert, bleibt die Frage, weshalb gerade eine der beiden Hauptfiguren hier namenlos bleiben muss ...


Dieser Punkt kam an sich schon bei Villeneuve vor, wo es Schönes Träume waren, die ihr das Bild eines perfekten Geliebten zeigten. Natürlich handelte es sich dabei um das Biest (oder den Prinzen) selber, doch die Funktion war die gleiche. Außerdem verändert sich die Traumgestalt im Verlauf der Geschichte so sehr ins Antagonistische, dass am Ende wirklich die gleiche Wahl zwischen Innerem und Äußerem übrigzubleiben scheint.
In Cocteaus Film füllt Avenant diese Rolle direkt aus; er wird sogar von demselben Schauspieler gespielt wie das Biest und später der Prinz, auch wenn diese Ähnlichkeit hier wenig Sinn ergibt. Gaston hat bei Disney dagegen noch etwas mehr Charakter und Eigenleben. Er wirkt zu Beginn des Films beinahe wie ein typischer klassischer Held, und erst nach einer durchaus begründeten Entwicklung wird er zum vollwertigen Bösewicht. Andererseits ist seine Rolle aber von Anfang an so komisch und überzogen ausgelegt, dass er für Belle nie eine wirklich Alternative darstellt.


Man kann wohl sagen, dass Belle die so ziemlich am besten charakterisierte Disneyprinzessin überhaupt darstellt. Ein Punkt, der dabei geholfen haben mag, ist wohl, dass sie schon in Villeneuves Erzählung einiges an Charakter besaß; auch wenn sie ihren Namen ihrem Äußeren verdankt, so ist es doch Intelligenz und Güte, die immer wieder betont werden. Doch trotz allem ist sie keine reine Mary-Sue. Sie verliebt sich in das Biest, doch das so langsam und zögerlich, dass es ihr selbst erst bewusst wird, als es beinahe zu spät ist. Dabei hat Schöne es im Original wohl noch schwerer, wenn ihr ihre Träume eine durch und durch perfekte Alternative zu der unvollkommenen Realität bieten. Bei Disney gibt es für Belle nur Gaston, sie kann also ihren Charakter beweisen, ohne dass sie beziehungstechnisch eine wirkliche Alternative hätte.


Im Märchen ist die Geistlosigkeit des Biests auch Teil der Strafe; er muss damit leben, innerlich wie äußerlich entstellt zu sein und wenn ihn Schöne schließlich verändert, dann nur durch den befreienden Akt der Fluchauflösung. Im Film dagegen ist es wirklich an Belle, im Biest Geist und Gefühl zu erwecken und es ist die Aufgabe des Biests, sie diese Eigenschaften herausbringen zu lassen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass sich die beiden am Ende wirklich gegenseitig würdig sind.
Ein besonderer Punkt, der dem Märchen (in welcher Ausprägung auch immer) gerne vorgeworfen wird, bezieht sich auf die Frage des Stockholm-Syndroms, oder die Theorie, nach der ein Entführungsopfer als Kompensationsmechanismus dazu neigt, eine enge Bindung zu seinem Entführer aufzubauen. Doch wirft man nur einen zweiten Blick auf das Märchen, so wird klar, dass dieser Vorwurf keinerlei Sinn ergibt. Im Original wie auch in der Disneyversion werden Belle ihre Gefühle ja erst in den Moment klar, als sie längere Zeit vom Biest getrennt ist.


Die Schöne und das Biest ist ein wunderschönes Märchen, und die Disneyversion ist als Liebesfilm wahrhaft beeindruckend. Sie verändert das Ursprungsmaterial, teilweise massiv, aber gleichzeitig so gekonnt, dass es sich um eine reine Verbesserung und Perfektionierung handelt.
Wenn der Film während vieler vergeblicher Versuche lange auf seine Realisierung warten musste, so hat sich dieses Warten auf jeden Fall gelohnt. Sicher wäre es auch früher auf irgendeine Art möglich gewesen, die Geschichte zu verfilmen, nach dem Stil der früheren Disney-Märchen, die eine kurze Geschichte mit bunten Extras auffüllen. Doch so wie Die Schöne und das Biest schließlich auf die Leinwand kam, war es wohl nur zu dieser Zeit möglich: frei interpretiert, genau dort verändert, wo es möglich und nötig war, das Ursprungsmaterial emotional und charakterlich zu vergrößern. Für mich wird dieser Film immer den großartigen Höhepunkt von Disneys Meisterwerken darstellen.
3 Kommentare:
Dass bereits im besagten Schwarz-Weiß-Film die Schlossgegenstände lebendiger als normal dargestellt wurden, wusste ich bisher gar nicht. Da ich nur die beiden Märchenversionen kennen, dachte ich, dass wäre aus Disney Ideenkiste gesprungen.
Vielen Dank für diese Info! Und den ganzen Artikel! ;)
Ein ganz, ganz toller Artikel! Ich habe mich noch nie auf diese Weise mit einem Disney Märchen beschäftigt, obwohl ich sie in meiner Kindheit sooo gerne geschaut habe. Es ist wirklich interessant zu lesen, wo so ein Märchen seinen Ursprung hat und alles
Vielen Dank für die Infos! :)
Liebe Grüße
Ein großartiger Artikel! Ich bin ein großer Märchen-Fan und schaue die Disney-Varianten immer mit großem Interesse, aber einen so differenzierten Text zu "Die Schöne und das Biest" habe ich bisher noch nirgends gelesen. Vielen Dank dafür!
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