Donnerstag, 15. Juli 2021

Darf Schweinchen Dick rappen?

Ja.

Danke, Ende.


Okay, okay, ich hol weiter aus: In den vergangenen Tagen wurde mir einmal mehr das immense Dilemma deutlich, in dem sich ikonische Cartoon- und Comic-Figuren befinden, die Generationen überdauern. Denn für sie bleibt die Zeit stehen und schreitet dennoch voran. Als wäre ihre Position im kulturellen Zeitstrang kein einfacher Punkt, sondern ein sich dehnendes Gummiband, so dass diese Figuren gleichzeitig Ergebnisse einer vergangenen Zeit sind und eine gegenwärtige Präsenz.

Bei den Simpsons macht sich das sehr offensichtlich bemerkbar, rutscht die gelbe Familie aus Springfield doch stets ins Heute, ohne es je James Bond oder den Leinwandversionen von Batman, Spider-Man und Co. gleichzutun und den Reset-Button zu drücken. Und so haben wir eine Serie, in der die Eltern zweier Grundschulkinder erklären, wie sie sich als Jungspunde in den 1990er-Jahren kennengelernt haben, obwohl wir zuvor mit angesehen haben, wie die Kinder dieses Ehepaares durch die 1990er gewuselt sind.

Aber auch andere gezeichnete Ikonen durchlaufen dieses Dilemma: Ob Micky Maus, Donald Duck, Goofy und Co. oder deren turbulenten Kolleg:innen aus dem Warner-Studio, sie alle wurden zu einer Zeit populär, bevor die Eltern oder gar Großeltern von Millionen ihrer heutigen Fans überhaupt auf der Welt waren. Das bedeutet, dass seit Jahrzehnten das Image dieser Figuren feststeht und somit auch die an sie gerichtete Erwartungshaltung. Nicht nur älterer Fans. Wer in den frühen 2010er-Jahren solche Ikonen kennengelernt hat und sie heute weiterhin mag, hat eine gewisse Erwartung, dass diese Figuren, "die schon immer da waren", sich treu bleiben. Obwohl neue Fans nachwachsen. Doch so lief es schon in den 2000er-Jahren und in den 1990er-Jahren und in den 1980er-Jahren und so weiter, und so weiter. 

Hinzu kommt, dass gerade bei solchen Figuren wie der klassischen Disney-Truppe oder der chaotischen Warner-Gang, nur ein verschwindend kleiner Bruchteil ihrer Fans diese Schöpfungen allein aus Filmen, Serien und Comics kennt, die aus seiner eigenen Lebenszeit stammt. Weil der lang zurückreichende Katalog (wenigstens teilweise) immer und immer wieder verwendet wird, gewöhnt man sich mittels einem Mischmasch der Inkarnationen an seine liebsten generationenübergreifenden Trickstars. Menschenskinder, selbst Lustige Taschenbücher aus den 2020er-Jahren kommen mitunter mit mehrere Jahrzehnte alten (Deutschland-)Erstveröffentlichungen daher. Kein Wunder, dass für manche Disney-Fans der Anblick von Dagobert Duck, der ein Smartphone nutzt, immer noch ein Kuriosum darstellt, wenn nicht sogar einen Kulturschock. 

Doch diesem "Dagobert hat über sechs Jahrzehnte kein Smartphone genutzt, wieso sollte er heute eines nutzen?!"-Argument muss man entgegenstellen: Dagobert war schon immer eine Figur, die in der Gegenwart stattfindet! Carl Barks hat seine Disney-Comics nicht als "Historienstoffe" entwickelt und bewusst eine vergangene Epoche als Schauplatz gewählt, sondern sie in seinem Heute spielen lassen. Was zu einem ähnlichen Effekt führte, wie ihn später Die Simpsons durchmachen sollten: Tick, Trick und Track hätten am Ende von Barks' Karriere längst eine eigene Familie gründen können, blieben aber weiter die Kinder aus seiner Anfangszeit, obwohl die Zeit in Entenhausen nicht stehen geblieben ist, sondern sich Mode und Technologie weiterentwickelten.

Die Ducks, Micky Maus und Freunde, und auch die durchgeknallten Menschen und Tiere aus den Looney Tunes- und Merrie Melodies-Reihen existieren im Heute und sind dennoch ihrer langen Historie verpflichtet. Es ist ein Mindscrew-Widerspruch, den wir einfach akzeptieren müssen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Italienische Disney-Comicschaffende lieben es, für einzelne Geschichten den altbekannten Kader an Figuren als Personen aus vergangenen Jahrhunderten zu besetzen. Und für Don Rosa spielten seine Comics in der Vergangenheit, so dass sie realistisch im Kanon mit Barks sein können (obwohl "realistisch" und "Kanon mit Barks" aus genanntem Grund auch nur hinhaut, wenn man die Augen ganz fest zusammenkneift, nicht zu lange nachdenkt und einige Comics ignoriert). 

Aber gemeinhin gilt: Diese Figuren müssen sich schrittweise aktualisieren, wenn sie relevant bleiben sollen. Und dennoch dürfen sie sich nicht zu sehr verändern, sonst sind sie ja nicht mehr wiederzuerkennen. Dann könnten die Film-, Serien- und Comic-Schaffenden ja gleich neue Figuren erfinden. Es ist ein Drahtseilakt: Was darf ins Heute wandern, was muss bleiben? 

Ein Beispiel: Donald Ducks Matrosenjacke war schon immer ein seltsames Kleidungsstück für einen jähzornigen Erpel auf dem Bauernhof / in der Kleinstadt / in der Großstadt. Aber es wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kurioser. Und dennoch möchte ich nicht, dass Donald dieses Jäckchen dauerhaft ablegt. Ich bin riesiger Verteidiger von Quack Pack, wo er ohne weitere Erklärung ein Hawaiihemd trägt. Aber diesen "Eingriff" in Donalds Ikonografie dulde ich in Quack Pack nur, weil es halt allein für diese eine Serie gilt.

Doch Dagobert, der ein Smartphone nutzt (entweder ein gebrauchtes oder aus eigener Herstellung, teure Konkurrenzprodukte würde er natürlich nicht fabrikneu erwerben!)? Goofy, der Online-Dating betreibt? Tick, Trick und Track, die ihr Taschengeld aufbessern, indem sie streamen, wie sie Videospiele spielen? Klar! Warum nicht? Das sind einfach neue Geschichten im Heute, keine Veränderungen des Charakters oder der Ästhetik.

Allerdings wurde neulich noch einmal deutlich, wie viele erwachsene Fans nicht so wie ich über ihre uralten fiktiven Stars denken, die sie schon aus ihrer Kindheit kennen. Denn ein Clip aus Space Jam: A New Legacy wurde in den sozialen Netzwerken härter verrissen als auf einer FDP-Parteisitzung der Gedanke, Mieten zu drosseln.

Zunächst einmal: Im Kontext des Films ergibt die Szene Sinn. Die Looneys müssen ein Basketballspiel gegen die Schergen eines machtgierigen Fieslings gewinnen, um ihre Haut zu retten. Mal wieder. Aber dieses Mal geben Kreativität und Style Bonuspunkte. Daher bekommt die Gegenseite überraschend wertvolle Punkte zugeschrieben, weil sie beiläufig etwas gesagt hat, das sich reimt. So ein "Huch, das hat sich ja gereimt, war keine Absicht!"-Verlegenheitsmoment. Wir alle hatten mal so einen. Den Looneys steht daraufhin der Gedanke klar in die Augen geschrieben: Aus dem Versehen müssen wir ein Rapbattle machen, um aufzuholen! 

Bugs Bunny schaltet von allen am schnellsten und drängt ein völlig unvorbereitetes Schweinchen Dick dazu, diesen sinnbildlichen Ball aufzunehmen. Das ist typisch Bugs. Er kann so seine eigene Haut retten und gleichzeitig wen in Verlegenheit bringen. Mit Schweinchen Dick alias Porky Pig (die Space Jam: A New Legacy-Synchro hat sich für den altbackenen deutschen Namen der Figur entschieden) hat er auf sogleich zweifacher Ebene das perfekte Opfer für diesen Moment gefunden: Der Ringelschwanzträger ist schüchtern und unter allen Looneys das, was am ehesten einem Spießer gleicht, also ist es für ihn extra unangenehm. Der Erwartungsdruck, das Basketballspiel für sich entscheiden zu müssen und daher auch beim ungeplanten Rapbattle zu überzeugen, raubt dem Schweinchen allerdings jegliche Option zu kneifen. Und da Porky eh rhyth­misch spricht, besteht die Aussicht, dass er über sich hinauswächst, wenn er erstmal bis zum Hals im kalten Wasser steckt.

Leute: Das passt schon! Ja, die Szene ist zu lang, sie schreit danach, ein rascher Gag in einem turbulent-chaotischen Basketballspiel zu sein. Aber darüber regt sich nahezu niemand auf. Der große Aufschrei dreht sich um 

Looney Tunes ... und Rap?! Darf das?! 

Warum nicht? The Notorious B.I.G. (der ganz offensichtlich primär wegen des Wortspiels "Notorious P.I.G. als Referenz gewählt wurde) landete vor 24 Jahren an der Spitze der US-Albencharts. Eine "Es ist peinlich, wie verzweifelt ihr euch auf etwas aktuelles stürzt, ohne zu wissen, ob es die Zeit überdauert"-Kritik kann man da nicht gelten lassen. Ebenso wenig lasse ich ein "Peinlich, ihr denkt, das ist aktuell, aber es ist schon längst verjährt" durchgehen. Notorious B.I.G ist seit bald einem Vierteljahrhundert tot und immer noch ein Begriff in der Musikkultur, und Rap wird so schnell auch nicht mehr irrelevant. 

Bliebe also höchstens "Das passt nicht zu den Looneys", aber ... wieso? Ja, Warner Bros. hätte die Figuren aus den Looney Tunes schon vor Jahrzehnten in Watte packen, einschweißen und auf dem Dachboden verstauen können, damit sie für immer und ewig genau so bleiben, wie sie damals waren. Den Weg ist man aber nicht eingeschlagen. Und die Looney Tunes können nicht für alle Zeit ausschließlich Referenzen auf Oper, Klassik, Jazz und Ragtime-Musik machen. Ja, das hat sich, weil sie dies zu ihren Glanzzeit getan haben, in ihre DNA gebrannt, es wäre schade, würden sie sowas nie wieder machen.

Aber ich halte "Lasst uns das Prinzip von damals wiederholen" für ebenso veritabel wie "Lasst uns dieselben Dinge von damals wiederholen". Denn, ja: Für Menschen meines Alters waren "Looney Tunes und Ragtime" schon immer ein Paar und sowohl die Warner-Cartoon-Reihe als auch die Musikrichtung schon immer "was von vor meiner Zeit". Doch ich möchte daran erinnern: Was wir beim Anblick von Looney Tunes- und Merrie Melodies-Cartoon als alt (und somit in manchen Augen und Ohren automatisch als Teil der Hochkultur) auffassen, war zum Produktionszeitpunkt dieser Filme naturgemäß aktueller. Und manchmal sogar neu.

In One Froggy Evening von 1955, der gemeinhin als einer der besten Cartoons aller Zeiten gilt, kommen einige Lieder vor, die damals schon altbewährte Klassiker ihrer Richtung waren. Doch zudem werden ein (bewusst altmodisch klingender) Originalsong und Kompositionen aus den Jahren 1921 und 1930 gesungen. Der jüngste alte Song in One Froggy Evening war damals also fast genauso alt wie es Notorious B.I.G.s Nummer-eins-Album heute ist.

Und während wir heute die vielen jazzbasierten Warner-Cartoons sehen und denken "Ah, ja, damals ... Jazz ... das war so kultiviert!" waren diese Kurzfilme zu ihrer Zeit ... nunja ... genauso aktuell und nah am Geschmack junger und musikalisch aufgeschlossener Menschen wie es heute Verweise auf Rapmusik sind. 

Will ich, dass Porky Pig dauerhaft zum Rapper wird? Nein, das passt nicht zu ihm. Aber dass es zu ihm nicht passt (charakterlich! nicht, weil er schon so lange existiert!) ist Teil des obigen Space Jam: A New Legacy-Gags. Regt euch liebend gern über die Umsetzung auf. Aber nicht über das Prinzip. Diese Figuren waren in ihren Glanzzeiten aktuell, wieso sollten sie nun reine Museumsexponate sein?

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