Samstag, 30. Juli 2016

El Clan


Argentinien in den frühen Achtzigern: Die Militärdiktatur, die das Land seit 1976 geknechtet hat, liegt in ihren letzten Zügen. Der Silberstreif namens Demokratie ist am Horizont bereits zu erkennen. In dieser Übergangszeit sorgt ein Patriarch allerdings weiterhin für Angst und Schrecken: Arquímedes Puccio (Guillermo Francella), ein willfähriger Handlanger des Militärs, der seine Erfahrung als Erpresser nunmehr dazu nutzt, um sich durch die Entführung von Mitgliedern wohlhabender Familien ein Zubrot verdient. Seinen ältesten Sohn Alejandro (Peter Lanzani) drängelt Arquímedes dazu, als Lockvogel dienlich zu sein. Die große Rugby-Hoffnung des Landes findet daran jedoch keinen Gefallen – gleichwohl mangelt es Alejandro am nötigen Mumm, seinem Vater Paroli zu bieten …

Die El Clan betitelte Mischung aus Familiendrama und Kriminalthriller stützt ihre Geschichte auf wahren Ereignissen, die sich in Argentinien in einigen seiner dunkelsten Jahre zugetragen haben. Der in seinem Heimatland Kultstatus genießende Regisseur Pablo Trapero hat den Mumm, dieses bis heute nicht ganz überwundene Kapitel der Nationalgeschichte mit Süffisanz zu erzählen: Zwar hat El Clan durchaus Gewaltspitzen, die eine FSK-Freigabe ab 16 Jahren rechtfertigen, allerdings hält er im Regelfall nicht auf die brutalen Taten des Puccio-Clans drauf, sondern setzt auf tiefschwarzem Humor.

So konterkariert er die gerissenen Entführungen und die ruchlosen Exekutionen der Puccio-Opfer und -Feinde mit vergnüglicher Rockmusik. In der einprägsamsten Szene des von Alejandro Carrillo und Penovi Pablo Trapero geschnittenen Films zeigt eine Parallelmontage, wie Arquímedes einen Mord nach dem nächsten anordnet, während sein Sohn Alejandro seine zukünftige Frau Monica (Stefanía Koessl) besser kennenlernt und letztlich erstmals mit ihr Sex hat. Das Luststöhnen des Paares verschmilzt mit den Hilfeschreien der Puccio-Gefangenen, beides vermengt sich mit „Sunny Afternoon“ der Kinks und steigert sich zu einem musikalischen und visuellen Klimax. Diese stilistisch irgendwo zwischen Martin Scorsese und Quentin Tarantino angesiedelte Montage versinnbildlicht, wie abgeschmackt und emotional zerreißend es wohl sein muss, als mitwissender Spross eines brutalen Ganoven privat langsam aufzublühen. Der Schneid dieser Sequenz zieht sich aber leider nicht durch den gesamten Film.

Die filmische Geschichtsverarbeitung, die 2015 in Argentinien Besucherrekorde aufgestellt hat, verliert sich nämlich in dramaturgische Spielereien, statt den inneren Konflikt seines Protagonisten auszuloten. Peter Lanzani gibt als Alejandro, genannt Alex, zwar eine solide Performance ab, das Dialogbuch gibt ihm jedoch wenig Gelegenheit, die innere Zerrissenheit des Rugby-Nationalspielers und Gangster-Sohnes zur Schau zu stellen. Das Unwohlsein Alejandros macht der TV-Star und Sänger deutlich, das emotionale Aufbegehren gegen seinen übermächtigen Vater kommt hingegen nur in wenigen Sequenzen zur Geltung – und in diesen liegt der inszenatorische Fokus auf Arquímedes.

Da Regisseur und Autor Pablo Trapero mit Rückblenden und Vorausblicken arbeitet, sorgt er zusätzlich für eine emotionale Distanzierung von seinen Figuren. Mit Alex mitzufiebern fällt daher vergleichsweise schwer, was den Zuschauer zu einem entrückten Betrachter der Familienzwistigkeiten macht. Des Weiteren dürfte es einem über argentinische Geschichte nicht informierten Publikum bei den vielen Zeitsprüngen nicht leicht fallen, der im Hintergrund ablaufenden Chronik der politischen Entwicklung Argentiniens durchweg zu folgen. Dennoch vermag es Guillermo Francella, in seiner Heimat vornehmlich als Comedian bekannt, mit eiskalten, strengen und starren Augen eine einschüchternde, fesselnde Leinwandpersönlichkeit aufzubauen. Die Intensität Francellas ist es auch, die gemeinsam mit der erwähnten Montagesequenz sowie kleineren Plansequenzen, in denen der Regisseur erschreckende Entwicklungen sehr stylisch einfängt, für eine dichte Atmosphäre sorgt.

Mit etwas mehr als 100 Minuten Laufzeit ist El Clan zwar etwas zu kurz, um seine zentralen Figuren mit Tiefe zu versehen, oder alternativ etwas zu lang, um als raue, flotte Gangsterposse zu fungieren. Für ein interessiertes Publikum ist El Clan dennoch ein sehr reizvoller, tonal faszinierender Einblick in die Geschichte und Filmkunst Argentiniens. Und einen denkwürdigeren Filmschluss hat es im Thrillerdrama-Bereich schon lange nicht mehr gegeben!

Donnerstag, 28. Juli 2016

Trumbo


Hollywood: Traumfabrik und Sündenpfuhl zugleich. So sehr das Filmmekka Jahr für Jahr mehrere Millionen von Menschen mit seinen Produktionen unterhält – hinter den Kulissen geht es in der Kinobranche ganz und gar nicht sauber zu. Nachdem erst kürzlich mit Hail, Caesar! eine ebenso liebevoll-komische, wie satirisch-neckische Verneigung vor den dubiosen Machenschaften Hollywoods anlief, steht eine weitere Produktion an, die Leichtfüßigkeit mit kritischen Tönen vermengt: Das Biopic Trumbo handelt vom gefeierten Drehbuchautor Dalton Trumbo und ist vornehmlich während einer Zeit angesiedelt, in der die Welt des Glamours von einer pechschwarzen Wolke verachtenswerter Politik bedeckt wurde. Und trotzdem findet die Regiearbeit von Jay Roach (Austin Powers-Trilogie) einen Weg, diesem grimmen Kapitel in der Hollywood-Historie mit einem Schalk im Nacken zu entgegnen …

Das von John McNamara (Aquarius) verfasste, humorvolle Drama nimmt zu einem Zeitpunkt seinen Anfang, an dem sich Trumbo (Bryan Cranston) zur Elite Hollywoods zählen darf: Weil er mit zügigem Tempo ausgefeilte, hochwertige Drehbücher abliefert, erhält er ein Gehalt, das für einen Autoren außergewöhnlich hoch ist. Aber nicht jeder gönnt dem Familienvater seinen Erfolg: Weil er Mitglied der Kommunistischen Partei ist, wird Trumbo in den Anfangsjahren des Kalten Krieges von antisowjetischen Branchenkollegen kritisch beäugt. Zu den lautesten Stimmen, die gegen Trumbo und seine ideologisch gleich tickenden Freunde hetzen, zählen die Klatschkolumnistin Hedda Hopper (Helen Mirren) und der erzkonservative Schauspieler John Wayne (David James Elliott). Anfangs suchen Trumbo und Weggefährten wie Mime Edward G. Robinson (Michael Stuhlbarg) noch selbstbewusst die direkte Konfrontation, doch schon bald nimmt die Kommunistenhatz unangenehme Züge an. Das House Committee on Un-American Activities (HUAC) schickt politische Feinde ins Gefängnis und die Motion Picture Alliance for the Preservation of American Ideas (MPAPAI) verhängt jenen, die nicht (oder nicht mehr) einsitzen ein Arbeitsverbot. Trumbo allerdings lässt sich seinen geliebten Beruf nicht einfach so wegnehmen. Alsbald füttert er seine Familie durch, indem er mittels Pseudonymen und Strohmännern Skripts wie am Fließband produziert …

Eine umfassende Chronik der Schrecken, die die sogenannte Schwarze Liste politischer Gegner in den USA verursachte, ist Trumbo nicht geworden. Autor McNamara vereinfacht das Geschehen extrem. Etwa, indem er mehrere reale Leidensgenossen Trumbos zu fiktiven Figuren zusammenfasst, vor allem aber dadurch, dass er die menschlichen Dramen in der zweiten Filmhälfte nur gelegentlich durchschimmern lässt. Sobald Trumbo erst einmal seine Skriptfabrik aufgebaut hat, erinnern nur häusliche Streitigkeiten und vereinzelte, kurz angerissene Tragödien im Umfeld des genialen Autoren an die schwerwiegenden Folgen der Antikommunistenpolitik. Erst im Abspann verdeutlichen Texttafeln, dass das unnachgiebige Bekämpfen vermeintlich „unamerikanischer Tätigkeiten“ zahlreiche Leben zerstört hat.

Der Fokus von Trumbo liegt viel mehr auf dem Findungsreichtum des Protagonisten und auf einer „Ha, den Irren da oben zeigen wir’s aber!“-Mentalität. Und diesem Anspruch wird der rund zweistündige Film gerecht: Wie Trumbo das politisch intolerante Hollywoodsystem an der Nase herumführte, wird mit Esprit und reich an Pointen nacherzählt. Trumbos Triumphe während seines Arbeitsverbots werden nicht etwa als rührselige Etappen einer bewegten Vita markiert, sondern als Punchlines: Der Mann, der untätig sein sollte, feiert verdeckt seine größten Karrieresprünge. Ha, nimm das, MPAPAI! Neben der hohen Dichte an Dialogwitz in der zweiten Filmhälfte, die Cranston charakterstark und mit perfektem Timing über die Bühne bringt, sorgen zudem exzentrische Nebenfiguren aus dem Filmbetrieb für Unterhaltung.

So besticht Dean O'Gorman als Spartacus-Hauptdarsteller Kirk Douglas: Optisch ist die Illusion perfekt, und darstellerisch gelingt O’Gorman ein faszinierender Spagat zwischen launiger Karikatur und respektvoller Imitation. Gleiches gilt für Christian Berkel als Exodus-Regisseur Otto Preminger, der hier als schräger, einschüchternder, aber moralisch integrer Deutschlandexport skizziert wird, sowie für John Goodman als schmieriger, impulsiver und gutherziger Schundfilm-Studioboss Frank King.

Angesichts dessen, wie leichtfüßig Trumbo in der zweiten Hälfte weitestgehend daherkommt, fällt die erste Hälfte etwas zäh aus: Die dramatische Grundlage für die später folgenden Eskapaden wird zwar nicht ganz ohne Dialogwitz erzählt (vor allem Louis C.K. punktet in den frühen Szenen mit Sarkasmus), jedoch verheddert sich die Erzählung mitunter in Details, die im weiteren Verlauf kaum Beachtung finden. Cranstons nuancierte Darbietung und die an Forrest Gump erinnernde, geschickte Verschmelzung aus Archivmaterial und nachgestellten Szenen lassen der holprigen Dramaturgie zum Trotz den ersten Trumbo-Part als solide Hollywood-Geschichte dastehen. In Kombination mit Theodore Shapiros effektiven, teils jazzigen Score schiebt sich Trumbo zwar noch immer nicht in die oberste Riege an Filmen übers Filmemachen, wohl aber mühelos am tonal vergleichbaren Hitchcock mit Anthony Hopkins vorbei.

Fazit: Überzeugende Darsteller und viel Witz machen aus dem Biopic Trumbo eine raffinierte Auseinandersetzung mit einer in Wahrheit sehr dramatischen Ära der Hollywood-Geschichte.

Samstag, 23. Juli 2016

13 Hours – The Secret Soldiers of Benghazi


Krawallregisseur Michael Bay hat in seiner elf Langfilme umfassenden Regiekarriere bereits zwei Mal eine wahre Geschichte adaptiert. Bei seinem ersten Versuch lieferte er das pathetisch-patriotische Schmacht-Kriegsepos Pearl Harbor ab. Bays zweiter Film auf Basis realer Begebenheiten hört auf den Titel Pain & Gain und ist eine raue, schwarzhumorige Dekonstruktion des amerikanischen Traums. Mit seinem zwölften Spielfilm begibt sich Bay ein drittes Mal aufs Parkett der dramatisierten Leinwand-Nacherzählung verbürgter Geschehnisse – und diese fällt tonal ganz anders aus als Pearl Harbor sowie Pain & Gain. Da behaupte nochmal jemand, der Transformers-Regisseur sei nicht vielseitig!

Hohe filmische Qualität geht damit jedoch nicht sogleich einher: Das von Chuck Hogan (The Strain) verfasste Action-Drama druckst auf politischer Ebene herum und markiert sich dem thematischen Überbau zum Trotz über weite Strecken schlicht als harte Thrillerkost. Diese bleibt aufgrund von dramaturgischen Mängeln und einer im ausgedehnten Finale sehr monotonen Inszenierung allerdings hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Geschichte spielt 2012 in Bengasi: Die libysche Stadt ist längst zum politischen Brennpunkt verkommen, weshalb viele Nationen ihre diplomatischen und militärischen Vertreter zurückgezogen haben. Die CIA unterhält allerdings weiterhin einen Stützpunkt, der auf die Hilfe privater Sicherheitskräfte zählt.

Als in der Nacht des 11. Septembers 2012 das US-General-Konsulat in Bengasi mit schwerem Geschütz angegriffen wird, wollen der ehemalige Soldat Jack (John Krasinski) und seine Kollegen sofort eingreifen. Doch Jack, Rone (James Badge Dale), Tanto (Pablo Schreiber), Boon (David Denman), Oz (Max Martini) sowie Glen (Toby Stephens) wird es von ihrem Vorgesetzten strengstens untersagt, zu handeln. Als sich die Lage in der Botschaft zunehmend verschlechtert und es auch so aussieht, als wäre der CIA-Stützpunkt in Gefahr, beginnt für die knallharten Männer ein 13 Stunden andauernder Einsatz gegen die undurchschaubaren Milizen und die eigenen Schwächen …

Die rund 145-minütige Hollywood-Produktion eröffnet mit einem hochspannenden Einstieg: Jacks Eintreffen in Bengasi und der erste Einsatz seines Teams als Bewacher der Undercover-Agentin Sona Jillani (Alexia Barlier, Fast Track: No Limits) wecken Erinnerungen an den frühen Michael Bay. Rau, mit treibendem Erzähltempo und rasanten, doch nie frenetischen Schnitten hat der erste Akt von 13 Hours das Feeling eines „Bad Boys in Libyen“. Inhaltlich bringt dieser Prolog die Geschichte wohlgemerkt kaum voran, da Hogans Skript mit Informationen über die Motivation der jeweiligen Milizen spart und auch bei der Charakterzeichnung von Jack und Konsorten nur auf die üblichen Abkürzungen zurückgreift: Sie sind taffe Kerle mit großem Herzen für ihre Familie und verspieltem Humor. Allerdings ist der Anfang des Films zügig erzählt und abwechslungsreich in Szene gesetzt. Sobald die eigentliche Handlung beginnt, ändert sich dies jedoch.

Hogan tritt bei der Skizzierung der Ereignisse vom 11. September 2012 zunächst auf der Stelle, wendet viel Zeit dafür auf, die flache, kitschige Charakterzeichnung seiner Helden auszubreiten – inklusive pathetischer Erinnerungssequenzen an schöne Familienstunden. Sobald die Nacht hereinbricht und in Bengasi alles drunter und drüber geht, fasst 13 Hours zwischenzeitlich wieder Fuß: Bay fängt mit trockenem Witz und solider Dramatik ein, welch eigenartiger Mikrokosmos ein solcher Brennpunkt wie die lybische Hafenstadt sein kann. Während die US-Einsatzkräfte um ihr Leben bangen und unentwegt rätseln, wer auf ihrer Seite ist und wer ihnen nach dem Leben trachtet, schauen Anwohner unter dem Sternenhimmel Fußball. Die Actioneinlagen fängt Bay derweil mit angemessener Härte ein: Er zeigt, dass jeder Schuss tödlich enden kann und begeht einen diffizilen Balanceakt zwischen kinotauglichem Style und strikter Verweigerung einer voyeuristischen Haltung. Wenn dann aber der Ami-Stützpunkt vor Angreifern verteidigt werden muss, wird 13 Hours zu einem monotonen Bleihagel: Bay inszeniert die Schusswechsel zwischen den auf Dächern stationierten Amerikanern und den vom Boden aus angreifenden Terrormilizen genauso ausführlich wie einseitig.

Von Minute zu Minute sinkt die Spanungskurve ins Bodenlose, weil die bedrohlich geschilderte Action wie ein Presslufthammer auf den Betrachter einhämmert: Laut, hart, ohne jegliche Abwechslung. Lorne Balfes Musikuntermalung ist ähnlich einseitig: Effiziente, atmosphärisch-kühle Sounds wummern vor sich hin, ohne je neue Akzente zu setzen. Die größte Stärke von 13 Hours ist derweil die imposante Kameraarbeit des Oscar-Preisträgers Dion Beebe (Die Geisha). Unter der Verwendung hochmoderner, technisch herausragender Digitalkameras präsentiert sich der actionreiche Thriller in gestochen scharfen, kontrastreichen Bildern, die jeden einzelnen Tropfen Schweiß der Hauptfiguren sichtbar machen. Dass Beebe und Bay in zahlreichen Szenen auf den im modernen Actionkino überreizten Blau/Orange-Kontrast setzen, zeugt zwar nicht von großem Einfallsreichtum. Handwerklich ist die Kameraführung und Lichtsetzung in 13 Hours dennoch makellos. Ganz gleich, ob die „Secret Soldiers“ am helllichten Tag heimlich ihre Waffen zücken, oder es bei Nacht gilt, die Schatten lebloser Gegenstände von denen sich versteckender Feinde zu unterscheiden: Durch den präzise gesetzten Fokus und die dynamische Farbästhetik stellt Bays zwölfte Regiearbeit ein optisch eindrucksvolles Werk dar – selbst wenn Bay den ausgedehnten Höhepunkt erschreckend monoton abfilmt.

In der Schilderung des politischen Konflikts versucht sich 13 Hours derweil darin, nicht stur patriotische Lobeshymnen anzustimmen. Feinfühligkeit geht dem Drehbuch trotzdem abhanden: Auch wenn beiläufig der Sinn des US-Einsatzes hinterfragt wird und die Figuren auf libyscher Seite vergleichsweise abwechslungsreich gezeichnet werden, erlaubt sich das Dialogbuch lächerliche Plattitüden. Darüber hinaus feiert es Hogan völlig ohne kritische Nachfragen, wenn Amerikaner ihr Leben für ihr Heimatland aufs Spiel setzen, und vertritt eine widerliche anti-intellektuelle Haltung: Studierte Vorgesetzte, die erstmal abwarten, die Lage einschätzen und Strategien schmieden wollen, sind in der Weltsicht dieses Action-Dramas nutzlose Waschlappen. Der handelnde Soldat mit dem Finger am Abzug ist mehr wert als der grübelnde Stratege. Traurig, dass Bay ausgerechnet bei solch einem ernsten Film zu einer ungewollten Selbstparodie verkommt. Mit Pain & Gain bewies er doch noch, dass er anders kann …

Fazit: Durchwachsen angefangen, im Finale geht es steil bergab: Mit 13 Hours: The Secret Soldiers Of Benghazi erschafft Michael Bay ein hohles, gut aussehendes Action-Drama, dessen spannender Einstieg durch einen monotonen Abschluss niedergeprügelt wird.

Donnerstag, 21. Juli 2016

Star Trek Beyond


Auf dem Papier sahen die Startvoraussetzungen für Star Trek Beyond denkbar schlecht aus. Zumindest, was die Frage angeht, wie sehr er mir gefallen könnte. Nachdem ich J. J. Abrams' Star Trek unterhaltsam fand, mir die Neuinterpretation der Enterprise-Crewmitglieder aber etwas zu zickig ausfiel, fuhr Star Trek Into Darkness das frisch rebootete Franchise direkt wieder gegen eine Wand. Angestrengt-düstere Stimmung, ohne dass diese inhaltlich gerechtfertigt wäre. Der nunmehr berühmt-berüchtigte "Twist" mit Benedict Cumberbatch. Und derartig viele, die neuen Elemente erdrückende Referenzen auf die Vorlage, dass im direkten Vergleich Creed und Star Wars: Das Erwachen der Macht wie Filme wirken, die vollkommen neue Stoffe darstellen.

Dass Abrams bei Star Trek Beyond die Regiepflichten wieder abgibt, stimmte mich auch nicht optimistischer, wurde er doch von Justin Lin beerbt, dem Macher zahlreicher Fast & Furious-Filme, also einer Reihe, mit der ich nie wirklich warm geworden bin. Und deren für mich annehmbarster Teil nicht von Lin stammt. Am ehesten klang der Austausch der Autoren vielversprechend, übernahmen nun doch Star Trek-Fan Simon Pegg und Confidence-Autor Doug Jung den Job. Frisches Blut im Autorenzimmer des etablierten Sci-Fi-Franchises konnten nach Star Trek Into Darkness wahrlich nicht schaden.

Angesichts der in meinen Augen angestrengt wirkenden Trailer bin ich dennoch mit sehr niedrigen Erwartungen in die Pressevorführung gegangen. Doch bereits nach wenigen Minuten wurden diese hinfort geblasen: Allein in der ersten Sequenz hat Chris Pine alias James T. Kirk mehr Spaß vor der Kamera als im gesamten Star Trek Into Darkness-Abenteuer. Und das wohlgemerkt, ohne das ursprüngliche Star Trek-Feeling aufzugeben. Die von den Trailern losgetretenen Befürchtungen vieler Filmfreunde, Justin Lin könnte aus der traditionsreichen Reihe ein "Guardians of the Galaxy light" formen, waren unbegründet. Wobei gesagt werden muss: Was nach Kirks sehr komisch entgleisenden Friedensgesprächen mit einer visuell interessant gestalteten Alienrasse losgetreten wird, ist bei weitem nicht der smarteste, nachdenklichste Teil der Kinoreihe. Da er seine Figuren aber mehr respektiert und ihnen mehr Raum für kleine, leichtfüßige, aber in sich schlüssige Miniplots gibt, als ähnlich actionreiche Teile wie Star Trek Into Darkness und Star Trek Nemesis, darf man ihn aber wenigstens sorglos als "Star Trek nach einer Adrenalinspritze" bezeichnen.

Die ihrer Mission langsam müde werdende Crew Enterprise möchte ein anderes, in Not geratenes Raumschiff aus seiner misslichen Lage befreien, wird dabei aber von einer feindlich gesinnten Flotte angegriffen. Die Enterprise landet auf einem nahezu unbevölkerten Planeten Bruch und wird dabei getrennt. Währens Spock (Zachery Quinto) schwer verletzt wird und Pille (Karl Urban) vom Vulkanier rasch die Schnauze voll hat, macht Scotty (Simon Pegg) die Bekanntschaft mit einer kämpferischen Einzelgängerin namens Jaylah (Sofia Boutella), die über Kenntnisse bezüglich der Flotte verfügt, die die Enterprise erfolgreich niedergeschossen hat. Nun gilt es für das Team der Enterprise, wieder zusammenzufinden und die über eine mächtige Waffe verfügenden Gegner unschädlich zu machen, ehe sie ihre Gerätschaft an größeren Zielen ausprobiert ...

Für größere Emotionen ist in der temporeichen, stets vorantreibenden Geschichte kaum Zeit: Spock und Uhura (Zoe Saldana) haben ihr Techtelmechtel wieder beendet, was Pegg und Jung jedoch primär als Antriebsfeder eines narrativen Nebenstrangs nutzen (sowie als aufgeweckten "Komm aus dieser Sackgasse wieder raus"-Joker für ein Problemchen, dass sich den Protagonisten in der zweiten Filmhälfte stellt). Kirk wiederum hinterfragt seinen Dienst als Kapitän, was jedoch in nur wenigen, etwas längeren Dialogszenen zum Ausdruck kommt. Allein die Verneigung vor Leonard Nimoy wird ruhig und ehrfürchtig abgewickelt, was für einen Augenblick der Besinnlichkeit sorgt. Generell läuft die "Erst sich selbst wieder aufsammeln und dann die Schurken stoppen"-Handlung eher unter dem Motto: "Wie können wir diese Figuren in eine Actionhandlung schubsen, ohne dass sie sich dabei untreu werden?"

Diese Mission erfüllt Star Trek Beyond allerdings sehr erfolgreich: Die Helden denken mehr (und schlüssiger) darüber nach, wie sie ihre Herausforderungen meistern könnten, als noch im Vorgänger, und die Peggs Handschrift aufweisenden Frotzeleien zwischen den Enterprise-Mitgliedern sind nicht nur pointiert und werden praktisch durchgehend spritzig von ihren Darstellern dargeboten, sondern sind auch stets "in character". Zudem kommen sie ohne das ständige "Wir sind eine Familie"-Gelaber aus, das die meisten Skripts aufweisen, mit denen Justin Lin sonst arbeitet.

Der Action wiederum ist deutlich anzumerken, welchen Hintergrund der Regisseur mitbringt. Die Kamera wirbelt viel herum (und auch abseits der Actionszenen arbeitet sie viel unter der Prämisse "viel Bewegung hält das Adrenalin oben"), doch da Lin nicht zu sehr auf Nahaufnahmen setzt und trotz zügiger Schnittarbeit auch das Tempo variiert und zwischendurch auf längere Kamerafahrten setzt, ist eine Übersicht auf das Geschehen gewährleistet. Gadgets und weitere Kniffe werden vorab etabliert, vor allem im Finale sorgt eine kraftvolle Abstimmung zwischen Bild und Musik für Pepp und von zwei oder drei Fällen, in denen die Komposition mehrerer CG-Effekte nicht ganz ausgereift ist, stimmt auch der Look. Vor allem die zahlreichen praktischen Effekte und Make-up-Leistungen sind löblich - sowie die Abkehr von Abrams' Lens-Flare-Sucht.

Der Plot ist zwar alltäglich und wenig ideenreich, und bis der Schurke an Charakter gewinnt, lässt sich Star Trek Beyond viel Zeit. Doch für einen dynamischen, humorvollen Sci-Fi-Actionfilm stimmt die Mischung einfach. Für mich Justin Lins bislang bester Film sowie der beste Teil der bisherigen Star Trek-Reboot-Saga.

Sonntag, 17. Juli 2016

Zoomania


Die Walt Disney Animation Studios durchlaufen derzeit eine Phase der Vielseitigkeit: Nach dem immens erfolgreichen Märchenmusical Die Eiskönigin – Völlig unverfroren startete mit Baymax – Riesiges Robowabohu der erste Superheldenfilm des Traditionsstudios in den Kinos. Die Adaption einer wenig bekannten Marvel-Comicreihe wurde von positiven Kritiken begrüßt und generierte ein stattliches Einspielergebnis. Als nächstes entführt das Disney-Trickstudio in eine Welt ohne Menschen: Zoomania ist nur von anthropomorphen Tieren bevölkert. Und mit eben diesen sprechenden, auf zwei Beinen laufenden Tieren erzählt Disney eine Geschichte über Gerechtigkeit und den steten Kampf gegen Vorverurteilung.

Jahrhunderte, nachdem Säugetiere die Wildnis verlassen und eine zivilisierte Gesellschaft gegründet haben, hallen noch immer Vorurteile durch die Gedanken jedes Einzelnen: Zwar bekommen Kinder beigebracht, dass jeder alles erreichen kann, letzten Endes glauben Erwachsene aber nicht daran. Wie etwa die Eltern der Häsin Judy Hopps (Originalstimme: Ginnifer Goodwin / deutsche Synchro: Josefine Preuß). Judy träumt davon, als erste ihrer Art in der Großstadt Zoomania Polizistin zu werden. Ihre Eltern hingegen bekommen bei diesem Gedanken das Grauen. Judy verbeißt sich trotzdem in ihren großen Berufswunsch. Und tatsächlich gelingt es ihr, die Polizeiprüfung zu bestehen und nach Zoomania zu gehen. Dort werden Judy prompt neue Steine in den Weg gelegt: Ihr Vorgesetzter lässt sie bloß Politesse spielen – dabei gibt es aktuell zahlreiche Vermisstenfälle zu lösen! Die verbissene Judy steigert sich in diesen Job hinein, während sie ungeduldig auf eine Gelegenheit wartet, ihr wahres Können zu beweisen.

Als die optimistische Häsin doch einen Vermisstenfall übernehmen darf, bekommt sie prompt ein knallhartes Ultimatum gestellt, weshalb ihr nur eine Option bleibt: Sie muss sich Tipps beim gerissenen Fuchs Nick Wilde (Jason Bateman / Florian Halm) holen. Doch Zivilisation hin, Zivilisation her: Fuchs und Hase sind sich auch in Zoomania nicht grün …

Die von Ralph reicht’s-Regisseur Rich Moore und Rapunzel – Neu verföhnt-Macher Byron Howard inszenierte Produktion ist zu einem Teil eine kesse Komödie mit Cartoon-Tieren, zu einem Teil ein flauschiger Buddy-Cop-Movie und zu einem Teil ein überraschend politischer Unterhaltungsfilm. Allen Aspekten, aus denen sich Zoomania zusammensetzt, ist der hohe Comedy-Faktor gemein: Disney-Animationsfilme sind zwar nahezu ausnahmslos humorvoll, doch dieser setzt auf ein sattes Gagfeuerwerk, wie man es von Disney nur selten zu sehen bekommt. Ganz gleich, ob die Filmemacher Pointen daraus gewinnen, dass sie ein tierisches Spiegelbild unserer Welt schaffen, oder sie auf Klischees des Polizeifilms anspielen: Die Gagdichte ist immens hoch, und aufgrund des großen Findungsreichtums fällt auch die Trefferquote äußerst zufriedenstellend aus. Von Disney-Eigenparodien hin zur Faultier-Zulassungsbehörde: Für nahezu jede humoristische Neigung wird etwas geboten.

Bei aller Spaßigkeit geht Zoomania zwischen den Zeilen allerdings unerwartet stark darauf ein, was in unserer Welt so alles schiefgeht – und was sich wohl selbst in einem Paralleluniversum voller Tiere nicht ändern lässt: Die Disney-Künstler erschaffen mit diesem Trickspaß eine große Analogie zum Thema Rassismus und Schubladendenken. In Zoomania denken Beutetiere, wie etwa Hasen und Schafe, dass Raubtiere von Natur aus gefährlich sind. Füchse halten Hasen für dumm, Elefanten haben natürlich allesamt ein gutes Gedächtnis. Selbstredend wurde ein Löwe zum Bürgermeister gewählt (der das ihm untergeordnete Schaf andauernd herumkommandiert), Otter gelten als süß und unschuldig, Wieseln dagegen sollte man nicht über den Weg trauen. Mit diesen Vorurteilen gehen die Bewohner des Schmelztiegels namens Zoomania unterschiedlich um: Während Judy unentwegt dagegen anzukämpfen versucht und blauäugig predigt, dass jeder alles sein kann, sonnt sich Nick darin, alles zu erfüllen, was die Gesellschaft über Füchse denkt. Doch hinter dieser Fassade wünscht sich Nick ein freieres Denken, wohingegen die sich selbst als aufgeklärt umjubeln lassende Judy sehr wohl versteckte Vorurteile hat ...

Die Botschaften von Zoomania sind allesamt verständlich und familientauglich verpackt, darüber hinaus vermeidet es das Autoren-Team, reale politische Probleme 1:1 auf seine Tierwelt zu übertragen. Es ist unmöglich, Zoomania-Gruppen exakt als bestimmte demografische Gruppen unserer Realität zu entschlüsseln, stattdessen setzen sich Vorurteile, Benimmregeln und Tabus in dem Disney-Tieruniversum aus diversen echten Vorbildern zusammen: Mal beschweren sich Hasen über das Vokabular, das man ihnen gegenüber anbringt, dann wird es tabuisiert, das flauschige, krause Haupthaar von Schafen anzufassen. Durch dieses „Mix & Match“-Verfahren vergrößern die Filmschaffenden das Identifikationspotential mehrerer Figurengruppen und drosseln zugleich das Potential für Kontroversen, da sich die Ärgernisse aus der Filmrealität nur partiell in die Wirklichkeit übertragen lassen.


Darüber hinaus sorgt die visuelle Gestaltung von Zoomania dafür, dass die teils sehr spitzen politischen Seitenhiebe in eine vergnügliche Verpackung gebettet werden: Nachdem schon Baymax damit punktete, dass die Disney-Künstler mit der Großstadt San Fransokyo einen faszinierenden Schauplatz erschaffen haben, zeigt nun auch Zoomania den schöpferischen Ideenreichtum der Disney-Trickstudios in Sachen filmischer Großstädte. Da diese Komödie, im Gegensatz zu fast allen anderen Trickfilmen über vermenschlichte Tiere, die realen Größenverhältnisse zwischen den jeweiligen Tierarten achtet, ist die Stadt Zoomania auf eine Vielzahl von kleinen Einfällen angewiesen, um zu funktionieren. So haben Züge mehrere Türen, um Nagern und Hünen ein gleichermaßen sicheres Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Und Verkaufsstände in Bahnhöfen verfügen über Rohrpost-Gadgets, damit die Verkäufer die Produkte an größere Kunden losschlagen können. Der Film platzt geradezu vor solchen Details, welche den Schauplatz lebendig und faszinierend machen – und somit auch bei mehrfacher Filmsichtung dafür sorgen, dass noch immer liebevoll eingebaute Kleinigkeiten entdeckt werden können.

Diese Detailliebe ist auch in der Figurenanimation wiederzuentdecken: Das Fell sämtlicher Tiere ist einzigartig, es verhält sich im Wind und bei direkter Sonneneinwirkung jeweils anders und auch die mimischen und gestischen Ticks der Tierarten sind mannigfaltig. Vor allem das zentrale Duo erhält durch diese Feinheiten einprägsame Charakteristika, aber auch die illustre Riege an Nebenfiguren wird durch die Übertragung echter, tierischer Verhaltensweisen in diese Cartoonwelt sehr denkwürdig. Wohl jeder Kinogänger wird Zoomania mit einem persönlichen Favoriten verlassen, der sich durch diesen wilden Filmspaß tummelt.

Für die musikalische Untermalung dieses Geschehens haben Rich Moore und Byron Howard den Oscar-Preisträger Michael Giacchino verpflichtet. Der Lost-Komponist, der für die Musik mehrerer Pixar-Filme verantwortlich ist, verleiht der tierischen Komödie ein variationsreiches Klangbett voller kultureller Referenzen. Giacchinos Zoomania-Score verbindet Anklänge an Cop-Serien und Actionfilm- und Kriminaldrama-Klassiker sowie zahlreiche, den ganzen Globus umspannende Einflüsse. Von dschungelhafter Percussion über indisch angehauchte, losgelöste Melodien bis hin zu italienischer musikalischer Folklore: Zoomania entführt auf eine musikalische Welt- und Zeitreise, der es allerdings an einem deutlich erkennbaren roten Faden mangelt. Deshalb bleibt dieser Score hinter Giacchinos einprägsam-schwungvollen Die Unglaublichen-Kompositionen oder seiner atmosphärischen Ratatouille-Arbeit zurück. Und handlungsbedingt ist sie auch nicht so herzzerreißend wie die ebenfalls von Giacchino erdachten Klänge aus Alles steht Kopf und Oben. Ein Flop ist Giacchinos spaßige, energiereiche Begleitmusik dieser Disney-Trickproduktion aber keineswegs – sie ragt bei ihrer Vielzahl an Querverweisen bloß nicht so sehr als Gesamtwerk hervor wie die Pixar-Stücke des Komponisten.


In gewisser Weise passt der Score somit perfekt zum Film: Zoomania glänzt mit Einfallsreichtum und einer Fülle an Details, Referenzen und kleinen Gags. Und die Verquickung aus Disney-Cop-Komödie und cleverem Statement für eine friedvollere, vielseitigere Welt ist so gelungen, wie sie überrascht. Aber diese Menge an faszinierenden Kleinigkeiten überschattet teilweise die Figuren: Judy Hopps ist liebenswert, Nick Wilde ist cool und die zahlreichen Nebenfiguren amüsant, allerdings hallen die Aussage und der Witz des Films stärker nach als die soliden Charaktermomente.

Fazit: Tierisches Lachmuskeltraining für die ganze Familie: Zoomania ist mit seiner immensen Detailliebe und beeindruckendem Ideenreichtum ein extrem vergnüglicher Trickspaß, der seine löbliche politische Botschaft mit einem rasanten Gagfeuerwerk übermittelt. Die von Disney gewohnte Herzlichkeit wird bei diesem Comedy-Tumult allerdings etwas zurückgefahren.

Samstag, 16. Juli 2016

Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück


Der 11. September 1973 ist ein dunkler Tag in der chilenischen Geschichte: Der erbarmungslose General Augusto Pinochet stürzt den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, reißt die Macht an sich und lässt noch am selben Tag mehrere Tausend Unterstützer Allendes in Gewahrsam nehmen. Einige von ihnen werden kaltblütig erschossen, andere werden in die Colonia Dignidad verfrachtet – eine auslandsdeutsche Siedlung in der Nähe von Catillo und Parral. Das festungsartig von der Außenwelt abgeschottete Areal beheimatet eine vom deutschen Einwanderer Paul Schäfer angeführte Sekte, welche sich zu großen Teilen der Errungenschaften der Moderne entsagt. Vermeintlich, um ein reines, von Verführungen befreites Leben nahe Gott zu führen. Der größenwahnsinnige Sektenführer Schäfer nutzt seine Macht innerhalb der Gemeinde jedoch auch zum eigenen Vorteil. Darüber hinaus kooperiert er mit Pinochet und stellt seine Kolonie als Folterzentrum für Feinde der Militärregierung zur Verfügung.

Vor diesem realen Hintergrund erzählt Regisseur und Ko-Autor Florian Gallenberger in Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück die fiktionale Geschichte zweier Außenstehender, die in diese finsteren Stunden Chiles verwickelt werden. Den Fokus dieser Mischung aus Thriller und Historiendrama teilen sich der politisch motivierte, aus Deutschland stammende Fotograf Daniel (Daniel Brühl) und seine Freundin, die Flugbegleiterin Lena (Emma Watson). Als der für Allende Stimmung machende Daniel in die Fänge Pinochets gerät, beschließt Lena, sich an die Fersen ihres Geliebten zu heften und ihn zu befreien – koste es, was es wolle. Nachdem sie in Erfahrung bringt, dass er in die Colonia Dignidad verschleppt wurde, gibt sich Lena als gottesfürchtiges, verlorenes Mädchen aus, das in der Glaubensgemeinschaft ein neues Leben beginnen will. Ihr Coup gelingt und sie wird aufgenommen – doch aufgrund der strikten Geschlechtertrennung und des streng organisierten Tagesablaufs scheint es schier unmöglich, an Daniel zu gelangen …

Die internationale Gemeinschaftsproduktion braucht ihre Zeit, um in Gang zu kommen. Bevor Lena zwecks ihrer Rettungsmission aus eigenen Stücken die oftmals wie ein Arbeitslager anmutende Kolonie betritt, zeigt Gallenberger die letzten Stunden vor Pinochets Machtergreifung. Dieser erste Akt von Colonia Dignidad ist jedoch arm an konkreten Fakten über Chiles Politik und daher unnötig langgezogen. Auch die Beziehung zwischen Daniel und Lena bleibt oberflächlich: Brühl und Watson tollen lächelnd vor der der Kamera, die sie in kräftig-kitschigen Farbtönen einfängt, und Brühls Rolle darf obendrein ein paar politische Parolen von sich geben. Trotz der für diesen Einstieg in die Geschichte freigeräumten, stattlichen Laufzeit bleiben diese Figuren zunächst Abziehbilder und ihre Liebe zueinander ein im Skript geäußerter Umstand – im Gegensatz zu einer spürbaren Bindung.

Wenn Lena für Daniel das Undenkbare tut und sich Schäfers Sekte anschließt, so ist das ein Entschluss, den der Betrachter einfach schlucken muss. Große Spannung will (trotz nun karger, ausgebleichter Farbästhetik) angesichts der bis dahin flach skizzierten Figuren allerdings kaum aufkommen. Auch sobald Gallenberger die Gangart seiner Regiearbeit ändert und Colonia Dignidad vorübergehend zum Paranoiathriller mutieren lässt, bleibt das Spannungsniveau überschaubar: Die Filmmusik von André Dziezuk und Fernando Velázquez wummert und quäkt sich so überdramatisch durch die Szenen, in denen Lena mit großen, alles aufsaugenden Augen durch die Kolonie stapft, dass durch die übertriebenen Suspenseklänge kein glaubwürdiges Flair aufkommen will. Der Handlungsstrang um Daniel, der sich nach ausgiebiger Folter dumm stellt, um endlich verschont zu werden, ist eingangs ebenfalls sehr dick aufgetragen. Erst, sobald die Gemeinschaft Daniels Präsenz ungefragt hinnimmt, werden die Szenen rund um Brühl reizvoller: Der deutsche Kinostar kann in diesen späteren Sequenzen seiner Figur zusätzliche Facetten verleihen, indem er die Maskerade Daniels mal nachdrücklicher durchzieht, mal völlig selbstbewusst drosselt oder aus Nachlässigkeit fallen lässt.

Auch Watsons Sequenzen profitieren davon, wenn Gallenberger nicht weiter den Psychothriller-Aspekt der Geschichte forciert: Nachdem Lena gedrillt wurde, die Regeln der Sekte zu befolgen, entwickelt das Drehbuch kleinere moralische Zwickmühlen, in welche die Stewardess tappt. So muss sie nicht nur sich selbst beschützen und argwöhnische Sektenmitglieder austricksen, sondern obendrein ein Auge auf freundlichere Leidensgenossinnen halten – Vorhaben, die sich nicht immer vertragen. Diese Herausforderungen Lenas sorgen dafür, dass die Harry Potter-Nebendarstellerin nicht länger vom gebotenen Material unterfordert wird und mimisch endlich auftaut.

Der qualitative Aufwärtstrend von Colonia Dignidad setzt sich im Schlussakt fort, der den Fluchtversuch der beiden Protagonisten schildert. Neben einer beklemmend gefilmten Szene in einem überfluteten Tunnel umfasst das letzte Drittel des Films auch eine packende Verfolgungsjagd, in der Cutter Hansjörg Weißbrich hocheffektiv zwischen den Gejagten und den Jägern hin und her schneidet. Die realen politischen Verwicklungen bleiben bei diesem Pulsschlagfinale zwar bedauerlicherweise ominös, trotzdem reißt das Auf und Ab der Heldenfiguren mit und entschädigt zumindest teilweise für den mageren Auftakt dieses Thrillerdramas, das Verblendung-Hauptdarsteller Michael Nyqvist in seiner bislang schmierigsten Rolle zeigt: Als Sektenführer Schäfer, der sich im um ihn zelebrierten Kult suhlt, ist ein selbstgefälliger, schleimiger Sadist, der sich (vergeblich) wie ein erzkonservativer, ruhiger Bürger zu geben versucht. Ein Bond-Schurke im Kostüm eines Kaffeefahrten-Dauerkunden – eine beeindruckende, wenngleich für ein Historiendrama etwas aufgesetzte Performance. Trotzdem stellt Nyqvist in all seinen Szenen einen wandelnden Extraschuss Spannung dar, den Colonia Dignidad für rund die Hälfte seiner Laufzeit auch durchaus benötigt.

Fazit: Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück ist zugleich ein Historiendrama, das den politischen Kontext seiner Geschichte nur schwach beleuchtet, und ein Thriller, der seine Zeit braucht, um in Gang zu kommen.

Freitag, 8. Juli 2016

Brennendes Interesse (& WWE: Stone Age SmackDown!)

Seid meiner letzten Standbildaufnahme, worauf ich mich in Sachen Film so alles freue, ist wieder viel Zeit vergangen. Doch nun juckt es mir wieder in den Fingern. Wie immer gilt: Dies ist nicht zwingend eine Rangfolge von "wird gut" bis "wird umwerfend", sondern eine Rangfolge von "ich freue mich sehr" bis "wenn der Film nun plötzlich vier Jahre nach hinten verschoben wird, drehe ich durch vor Neugier". Also: Schaut zu, wie ich in mich gehe und abwäge, worauf ich besonders gespannt bin. Und lasst mich gerne wissen, was eure "Most Wanted" sind!

Platz 25: Jungle Cruise

Disney-Themenparkverfilmungen sind bislang eine durchwachsene Sache. Ich liebe die Pirates of the Caribbean-Filme. Ich hasse Die Geistervilla. Ich gehöre zu den zweieinhalb Menschen auf diesem Planeten, die Die Country Bears für recht kurzweilig hält. Ich mag Im Jenseits sind noch Zimmer frei. Ich finde, wenn man ihn dazuzählt (was umstritten ist), Mission to Mars lahm. Jungle Cruise könnte Spaß machen, erst recht, da der Film in der Vergangenheit angesiedelt ist (hat in diesem "Genre" bisher nicht geschadet). Dwayne Johnson als Hauptdarsteller kann nicht schaden und die Autoren John Requa & Glenn Ficarra haben trotz mancher Ausrutscher mein Vertrauen.

Platz 24: Die glorreichen Sieben

Ich liebe Denzel Washington, ich mag Chris Pratt, all seinen filmischen Höhen und Tiefen zum Trotz habe ich stets eine gewisse Neugier diesbezüglich, was Regisseur Antoine Fuqua so treibt und Ethan Hawke sehe ich auch immer wieder sehr, sehr gerne.


Platz 23: Collateral Beauty

Was für ein Cast: Will Smith, Kate Winslet, Helen Mirren, Edward Norton, Michael Peña, Naomie Harris und die von mir sehr verehrte Keira Knightley versammeln sich hier in einem neuen Drama des Der Teufel trägt Prada-Regisseurs David Frankel. Na, da bin ich mal gespannt!

Platz 22: Tschick

Ich kann mir nicht helfen: Der Trailer zu Fatih Akins Jugendbuchadaption sieht einfach richtig schön aus.

Platz 21: Nerve

Ich habe eine leichte Schwäche für das Genre "Mutprobenfilm". Ich mag Emma Roberts und Dave Franco. Der Film scheint eine coole Optik zu haben. Kurz: Ich bin drin!


Platz 20: The House That Jack Build

Ich bin nicht durchgehend im Camp "Wir bejubeln Lars von Trier", Melancholia etwa hat zwar Stärken, aber auch genügend Schwächen, dass ich nicht Feuer und Flamme für den Film bin. Aber nachdem mich Nymph()maniac voll und ganz weggehauen hat, hätte von Trier alles ankündigen können, ich wäre heiß drauf. Eine Miniserie über einen Serienkiller in Washington, die nun doch als XL-Film ins Kino kommt? Das ist sogar eines der spannenderen Szenarien, die nun hätten folgen können. 2018 kann nicht schnell genug kommen.

Platz 19: Ghostbusters

Mir egal, wie schlecht die Trailer im Netz ankommen: Ich finde, dass der Cast einen gut abgestimmten Eindruck erweckt, Paul Feig ist ein Komödienregisseur, dem ich trotz Taffe Mädels vertraue und seine Filme sind eh immer mies betrailert. Das kann ein sehr launiger Film werden, und ich freue mich darauf, rauszukriegen, ob dem so ist!

Platz 18: The Mechanic 2 - Resurrection

Ich mag Jason Statham. Sehr sogar. Ich habe eine Schwäche für typische Jason-Statham-Vehikel. Eine große sogar. Das sieht danach aus. Nur extra edel im Look. Dennis Gansel ist ein fähiger Regisseur. Wird schon, wird schon!

Platz 17: Dunkirk

Christopher Nolan und Tom Hardy? Yes! Zweiter Weltkrieg? Na, meinetwegen ... Gerüchte über aufwändige, praktische Stunts? Sehr fein!

Platz 16: Beauty and the Beast

Sieht einfach schön aus, und die Beteiligung Alan Menkens stimmt mich zuversichtlich!

Platz 15: La La Land

Damien Chazelle. Emma Stone. Ryan Gosling. Ein Musical über das Filmgeschäft. Bin heiß drauf!

Platz 14: Kingsman: The Golden Circle

Ich habe großen Spaß am ersten Teil. Freue mich auf ein Wiedersehen mit Taron Egerton. Julianne Moore in einer Blockbuster-Rolle könnte auch mal wieder großen Spaß machen, Jeff Bridges und Elton John sind auch gern gesehen. Nur dass Halle Berry ebenfalls an Bord ist, macht mir Angst.

Platz 13: Live by Night

Ben Affleck hat sich zu einem meiner Lieblingsregisseure der Gegenwart entwickelt, während Elle Fanning, Titus Welliver und Sienna Miller auf der Cast-Liste nach einer interessanten Mischung klingen. Und die Prohibitionsära ist ein starkes Setting. Her damit!

Platz 12: Coco

Pixar. Mexiko. Mehr muss ich nicht wissen.

Platz 11: Black Panther

Starker Cast. Viel versprechender Regisseur. Und eine Figur, die im vor Highlights nur so strotzenden The First Avenger: Civil War zu den überraschenden, ganz großen Highlights gehört. Das macht nicht nur Lust auf mehr, das weckt auch großes Vertrauen: Marvel wird den ersten Solofilm eines schwarzen Marvel-Helden schon nicht in den Sand setzen!

Platz 10: MIB 23

Jonah Hill und Channing Tatum blödeln unter der Regie von James Bobin. Das. Wird. Klasse!


Platz 9: Birth of a Nation

Das gefeierte Historiendrama der Festivalsaison Anfang 2016 gilt schon jetzt als Oscar-Favorit, und der Trailer verspricht ein bildgewaltiges, emotionsgeladenes Kinoerlebnis.

Platz 8: Nocturnal Animals

Tom Ford tritt wieder hinter die Kamera: Der A Single Man-Regisseur versammelt in seinem zweiten Film einen tollen Cast, bestehend aus Aaron Taylor-Johnson, Amy Adams, Isla Fisher und Jake Gyllenhaal. Und die Story klingt so, als könnte sie uns einen ganz anderen, und dennoch den guten alten Ford bringen: Die Besitzerin einer Kunstgalerie fürchtet, dass ihr Ex-Mann sie in seinem neuen Thriller, einer garstigen Rachegeschichte, schlecht getarnt zu bedrohen versucht. Klingt stark.

Platz 7: Gore Verbinskis Driverless Car Race Movie

Gore Verbinsi. Bombast. Humor. Ein Riesenensemble (das leider erst noch bekannt gegeben werden muss). Gore Verbinski! Ich würde mir auch eine Adaption des Telefonbuchs von ihm ansehen! (Wird eine Ziege in einem der autonomen Autos sitzen? Ich hoffe doch!)

Platz 6: Vaiana

Oder Moana, im Original. Die Optik im Trailer sieht großartig aus, für die Musik ist "Mr. Hamilton" zuständig und nicht etwa das überbewertete Lopez-Ehepaar, Dwayne Johnson macht mit, Ron Clements & John Musker inszenieren. Und ich liebe "Sommerfeeling-Disney" ...

Platz 5 The Founder

Der Oscar-Pate der Jetztzeit, Michael Keaton, in einem mit bissigem Humor ausgestatteten Biopic über einen Geschäftsmann, der sich an den wahren McDonald's-Gründern vorbeimogelt? Klingt toll, der erste Trailer sieht spitze aus. The McSocial Network mit extra Spaßspielzeug? Ich hab Bock drauf!

Platz 4: Rogue One - A Star Wars Story

Felicity Jones in einem raueren, dunkleren Star Wars-Film? Gerne. Inszeniert von Godzilla-Regisseur Gareth Edwards? Sehr, sehr gerne. Mit Musik von Alexandre Desplat? Ich bin gespannt!
Platz 3: Girl on the Train

Ich habe den sauspannenden "Betrunkene Pendlerin glaubt, in einem Kriminalfall eine wichtige Zeugenaussage machen zu können, weil sie auf der Fahrt was verdächtiges gesehen hat"-Roman geradezu verschlungen, und mit Emily Blunt, Rebecca Ferguson und Haley Bennett hat sich Regisseur Tate Taylor drei fähige bis großartige Schauspielerinnen geangelt. Und als jemand, der keine 1:1-Adaptionen benötigt, habe ich kein Problem damit, dass der Film in New York, statt in London spielt. Könnte dem Ganzen direkt ein anderes Flair geben. Danny Elfman als Komponist hat auch bislang keinem Film geschadet ... Ach ... Ich freu mich wie verrückt auf den Streifen!

Platz 2: A Cure for Wellness

Gore Verbinski. Gore Verbinski dreht wieder einen kleineren Film. Gore Verbinski dreht einen kleinen Thriller. Gore Verbinski dreht einen kleinen Thriller mit Musik von Hans Zimmer. Gore Verbinski dreht einen kleinen Thriller mit Musik von Hans Zimmer und mit Dane DeHaan sowie Mia Goth als Teil des Casts. Gore! Verbinski! Hans! Zimmer! Thriller! Von Gore! Verbinski!

Platz 1: Pirates of the Caribbean: Dead Men Tell No Tales

Allen Negativschlagzeilen bezüglich Johnny Depp zum Trotz: Seine beste Leinwandrolle ist mir ans Herz gewachsen, und wann immer Joachim Rønning auf seinem Instagram-Account neue Bilder von der Pirates-Produktion veröffentlicht, spüre ich genau das. Diese kindliche Freude, mit der ich die ersten vier Teile erwartet habe. Das losgelöste Spekulieren, Träumen und Hoffen, was passieren könnte. Nun muss ich einfach nur endlich offiziell erfahren, wer die Musik komponiert (Geoff Zanelli ist gerüchteweise zuständig, aber halt nur gerüchteweise). Je nachdem, welcher Name fällt (gerne Geoff!), brauch ich gar keinen Trailer für das neue Piratenabenteuer. Wird schon!

Mittwoch, 6. Juli 2016

Die Geschichte des Filmkusses

Heute ist der Tag des Kusses. Zeit, für jeden Filmliebhaber, sich mit der über 100-jährigen Geschichte des Filmkusses auseinanderzusetzen. Glücklicherweise hat das British Film Institute ein Essay parat:


Dienstag, 5. Juli 2016

Nichts passiert


Es ist ein aus dem Leben gegriffenes Schreckensszenario: Da übernimmt man einmal zusätzliche Verantwortung, und schon geht alles furchtbar schief. Genau dies widerfährt dem Familienvater Thomas (Devid Striesow). Und das ausgerechnet während des Urlaubs. Dabei hat Thomas den Tapetenwechsel dringend nötig. Zwischen ihm und seiner Gattin Martina (Maren Eggert) kriselt es, Tochter Jenny (Lotte Becker) macht die üblichen, pubertären Stimmungsschwankungen durch. Und in beruflicher Sicht läuft es, seit Thomas in einem Moment des alkoholisierten Überschwangs ausgetickt ist, ebenfalls nicht mehr wirklich rund. Um sich beim Chef einzuschleimen, nimmt Thomas daher kurzerhand die Tochter seines Vorgesetzten mit auf den Trip in die Schweizer Berge. Sarah (Annina Walt) erntet bei Jenny allerdings keine Sympathiepunkte, so dass sich Thomas gezwungen sieht, irgendwie für Frieden zwischen den Teenagerinnen zu sorgen.

Als die Mädels auf eine Party eingeladen werden, lässt er sie gegen Martinas Willen davonziehen – der Gutelaunebär Thomas könnte ja niemals jemandem etwas ausschlagen. Eine Entscheidung, die Thomas alsbald bereuen wird. Denn als er seine zwei Schützlinge wieder abholen will, trifft er im überschaubaren Tal eine aufgelöste Sarah an, die ihm ein grausiges Geheimnis mitteilt. Daraufhin verstrickt sich der harmoniesüchtige Thomas in ein Netz aus deeskalierenden Lügen ...

Autor und Regisseur Micha Lewinsky (Die Standesbeamtin) legt den Schwerpunkt seiner Erzählung zunächst auf Dramatik mit Bodenhaftung. Striesow spielt Thomas wie einen Jedermann, der zwar mit seinen nach eigenen Aussagen überkommenen Aggressionsproblemen eine gewisse Vergangenheit hat, im Jetzt aber betont alltäglich handelt. Das Gebot der Beschwichtigung ist ihm von hoher Bedeutung, und so säuselt Striesow Meinungsverschiedenheiten und Beschwerden innerhalb seiner Urlaubsgemeinschaft unaufgeregt hinfort. Sanftmütig leuchten seine blauen Augen, während er es seinen Mundwinkeln nur selten erlaubt, etwas anderes zu formen, als ein Lächeln – denn so ein Skiurlaub soll eine stressfreie Zeit sein!

Selbst nachdem Thomas von Sarahs schockierender Neuigkeit erfährt, bleibt sein Tonfall freundlich und ruhig. Die Vorbildlichkeit seines Harmoniestrebens bekommt allerdings alsbald Risse. Denn so löblich es sein mag, dass er im ersten Augenblick die verstörte Jugendliche zu besänftigen und ihr so ein Gefühl der Geborgenheit zu geben versucht, so fragwürdig ist sein längerfristiges Handeln: Thomas will sich nicht die Schuld auflasten, dass dem Mädchen etwas auf der Party widerfahren ist, auf die er sie hat gehen lassen. Und vor seinem Chef möchte er auch nicht unverantwortlich dastehen. Also beschwichtigt er Sarah weiter und weiter und weiter – bis die Fürsorglichkeit aus seiner Stimme entschwindet und die Empathie in seinem Gesicht einer kühl kalkulierten Miene weicht.

Striesow beherrscht es meisterlich, mit körperlichem Spiel eine Figur zu erschaffen, die eine Fassade der Freundlichkeit aufrecht erhält, und bei der es glaubhaft ist, dass ihr Umfeld darauf hereinfällt. Dem Publikum, das auch Momente verfolgt, in denen Thomas allein ist, und das obendrein in leinwandfüllenden Nahaufnahmen alle Details in seinen Regungen erkennen kann, bekommt derweil die wahren Beweggründe des Ängstlings mit: Selbsterhaltung allein regiert das Denken dieses vermeintlichen Lamms, das in der Not jedoch weder Freund noch Feind kennt.

Der Ich bin dann mal weg-Hauptdarsteller skizziert Thomas‘ ethischen Schlingerkurs eindrucksvoll und mit kleinen Gesten, während Lewinsky kontinuierlich die Fallhöhe steigert: Je linkischer Thomas vorgeht, je verzweifelter seine Ausflüchte werden, desto rabenschwarzer wird der Humor, der in den Dialogzeilen mitschwingt. Wenn auf die unfassbarsten Situationen weiterhin mit rückgratlosen Schönwettersprüchen gekontert wird, darf einem wiederholt das Lachen im Halse stecken bleiben. Gleichzeitig machen Striesows sich verhärtender Blick und die immer ärger konstruierten Wendungen deutlich, dass die Lage zu kippen droht. Gestützt von der unter die Haut gehenden, sensiblen Darbietung Annina Walts als fragile, eingeschüchterte Sarah wandelt sich aus dem anfänglichen Alltagsdrama nach und nach ein mutiger Mix aus Psychodrama und knochentrockener, rabenschwarzer Groteske.

Diese Metamorphose von Nichts passiert mag im ersten Moment übertrieben dramatisch erscheinen, jedoch dient sie als pointierter Widerspruch des Titels. Zudem lässt sie Lewinskys dritte Regiearbeit von einem stark dargestellten Dilemma zu einer leinwandreif überspitzten Ausnahmesituation emporklettern. Lewinsky hält dem alltäglichen Wegschauen-statt-Handeln-Kurs und dem gesellschaftlichen Mangel an Zivilcourage nicht bloß einen Spiegel vor, sondern strickt aus dieser Mentalität eine Parabel mit Ecken und Kanten, die weh tun.

Fazit: Toll gespielt, bissig und dramatisch: Nichts passiert ist ein Psychodrama mit bitterbösem Humor, das mit Nachdruck die Frage stellt, wie lange man schweigen kann, ehe man zum Täter wird.