Samstag, 7. Juli 2012

Die Quellen der Disneyfilme: Alice im Wunderland

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Es ist jedes Mal ein erfrischender Anblick, wenn die scheinbar strikte Hürde zwischen Wissenschaft und kreativer Leichtigkeit problemlos außer Kraft gesetzt werden kann. Daher freut mich immer wieder, dass eine der ikonischsten Kinderbuchfiguren und eines der einflussreichsten Fantasy-Werke überhaupt von einem Mann geschrieben wurden, der ansonsten einen Ruf als anerkannter Mathematiker genießt: Charles Lutwidge Dodgson.

Auch wenn Dodgson später immer wieder sagte, seine Alice sei keinem speziellen Mädchen nachempfunden, ist der Bezug zu seiner jungen Freundin Alice Liddell unverkennbar. Dodgson hatte eine enge Beziehung zu ihrer Familie, und sie und ihre Schwestern waren es, denen er seine Geschichte ursprünglich auf einer Bootstour erzählt hatte. 1864 überreichte Dodgson Alice Liddell eine erste handschriftliche Version seines Manuskripts „Alice‘s Adventures Under Ground“, die noch mit seinen eigenen Illustrationen versehen war.
„Alice‘s Adventures in Wonderland“ wurde ein Jahr später unter dem heute bekannten Pseudonym Lewis Carroll veröffentlicht, 1871 folgte die Fortsetzung „Through the Looking-Glass, and What Alice Found There“ (im Deutschen meist übersetzt als „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“). Ein weiterer Bezug zu der „echten“ Alice sind die Daten, an denen die Bücher spielen: Das erste Buch ist an Alice Liddells  Geburtstag, dem 4. Mai angesetzt, und das zweite am 4. November genau ein halbes Jahr später. Dass dieser Geburtstag auch für die Buch-Alice gilt, wird durch deren Angabe in der Fortsetzung, sie sei genau siebeneinhalb Jahre alt, bestätigt. 
Diese genaue Datierung weist natürlich eine besondere Ironie auf, denkt man an die  ikonische Nichtgeburtstagsfeier im Disneyfilm.


Neben den vielfältigen Anspielungen auf aktuelle Personen und Geschehnisse seiner Zeit, von denen die meisten heute kaum noch verständlich sind, weisen die Bücher auch viele Anspielungen für Eingweihte auf, die speziell auf die Beziehung zwischen Dodgson und der Liddel-Familie abzielen. So sind die Namen der Figuren im Caucus-Rennen (bzw. der Friedenskonferenz) sehr bewusst gewählt: Der Dodo ist eine Anspielung auf den stotternden Dodgson selbst und Lory (der Papagei) und Eaglet (der Adler) stehen stellvertretend für Alices Schwestern Lorina und Edith.

Ansonsten tritt auch Dodgsons mathematische Ader in beiden Büchern immer wieder offen zutage, denn im Grunde basiert seine verrückte Welt auf Wortspielen und der Logik von Zahlenrätseln. Und während das erste Buch noch auf spielerische Weise mit einer Kartenspielwelt und der immer wiederkehrenden Größenveränderung umgeht, so ist die Fortsetzung von der Schachspiellogik mit ihrer Raum- und Zeitverschiebung vollkommen durchdrungen.
Seltsamerweise ist es gerade das, was zu der einmalig fantastischen Atmosphäre der Bücher führt: Beide Bücher weisen einen extrem skurrilen bis grotesken Charakter auf; sowohl das Wunderland als auch das Spiegelland leben in einer zwar im Detail durchdachten, aber insgesamt vollkommen wirren Traumlogik. Dies dürfte auch der hauptsächliche Grund sein, warum das im Allgemeinen so verurteilte „Alles nur ein Traum“-Ende in diesem Fall so einwandfrei funktioniert - an der Traumhaftigkeit der fremden Welten besteht von Anfang an nicht der geringste Zweifel.
Aus all diesem Tohuwabohu sticht als ruhiger Mittelpunkt der Charakter von Alice selbst heraus. Sie ist ein eigentlich sehr ordentliches Mädchen, das die seltsamen Geschehnisse nicht akzeptiert, ohne sie logisch zu hinterfragen, und das auch den verdrehten Wunderlandfiguren gegenüber auf Höflichkeit und guten Manieren besteht. Damit ist alleine sie es, die dafür sorgt, dass die quirlige Ansammlung von Ideen und Konzepten niemals auseinanderfällt, sondern ein rundes Ganzes ergeben kann.


Die beiden Bücher waren von Anfang an ein unwahrscheinlicher Erfolg; einer Legende zufolge soll sogar Queen Victoria Dodgson bei einer Audienz um eine gewidmete Ausgabe des nächsten Werkes gebeten haben - worauf sie seine nächste mathematische Abhandlung erhielt.
Doch wichtiger und beeindruckender als die Beliebtheit erscheint der lang anhaltende Einfluss, den die beiden Bücher bis heute auf die gesamte Fantasy-Literatur und Filmlandschaft haben. Angefangen von den Figuren, die längst kulturelle Einrichtungen sind, über die Grundkonzepte dieser unwahrscheinlich logischen Traumwelt, bis hin zu Design der Alice, das von Japan ausgehend gerade im RPG- und Cosplay-Raum als „Lolita-Erscheinung“ einen ganz eigenen Kult um sich gebildet hat.
Die unwiderstehliche Faszination, die die Bücher seit jeher auslösen, spiegelt sich in dem großen und unermüdlichen Reiz wider, diese Welt in Filmen darzustellen. Und so unterschiedlich, wie Träume selbst wahrgenommen werden, so verschieden sind auch die Stile der Filme: Es gibt freundlich-bunte wie verstörende Adaptionen, die dargestellte Welt macht manchmal mehr und manchmal überhaupt keinen Sinn mehr, und auch das Problem der anthropomorphen Tiere wird auf unterschiedlichste Arten gelöst. Oft sind es echte Menschen aus Alices Umgebung, die dann in veränderter Form ihr Wunderland bevölkern - vielleicht eine Anspielung auf die im Buch vorhandenen Insider-Witze, wahrscheinlich aber eher von der ikonischen Zauberer von Oz-Verfilmung abgekupfert. Auch Alice selbst wird auf unterschiedlichste Weise dargestellt; auch wenn sie selten ohne ihr charakteristisches Kleid (wahlweise in blau, rot oder gelb) auftritt, so werden ihr unterschiedlichste Charakterzüge und jedes Alter zwischen fünf und fünfundzwanzig angedichtet.


Auch Walt Disney hegte seit jeher eine große Fasziation für das Werk: Schon in seinen frühesten Kurzfilmen nahm er sich der Alice-Geschichten an, wobei damals noch die Technik mit einer Mischung von Real- und Zeichentrickfilm im Vordergrund stand. Eine Zeit lang war Alice im Wunderland sogar der Hauptkandidat für Disneys ersten Langfilm, doch nachdem die Wahl stattdessen auf Schneewittchen gefallen war, wurde das Projekt wieder und wieder verschoben, so dass es schließlich über zehn Jahre dauerte, bis Alice im Wunderland 1951 erscheinen konnte.
Wie so oft stellt der Disneyfilm bis heute die wegweisende Version der Geschichte dar. Das Aussehen der Filmfiguren hat die Buchillustrationen mit seiner Popularität längst in den Schatten gestellt, und der Einfluss des Filmes ist so stark, dass einem Großteil der Zuschauer gar nicht bewusst ist, dass es sich eigentlich um Mischung aus beiden Büchern handelt. In der Tat sind von den vielen Wunder- und Spiegelland-Gestalten, für die im Film kein Platz mehr war, Humpty-Dumpty und der Jabberwocky wohl die einzigen Figuren der Bücher, die bis heute allgemein als Kultfiguren bekannt bleiben.

Disneys Filmfassung folgt zu Beginn sehr genau dem Aufbau des ersten Buches, doch nach Alices eigentlicher Ankunft im Wunderland werden sowohl Buch als auch Film schnell zu einem reinen Episoden-Werk. Dabei nimmt sich der Film die Freiheit, die Rosinen aus beiden Büchern herauspicken zu können - aus dem zweiten namentlich Dideldei und Dideldum, das Walross und den Zimmermann und das ikonische Jabberwocky-Nonsens-Gedicht.


Ab dem Beginn des dritten Aktes und dem Auftreten der Spielkarten und vor allem der Herzkönigin ist das Ursprungsmaterial dann bewusst stärker verändert. Statt weiter die Episodenhaftigkeit des Buches zu betonen, wird diese Stelle benutzt, um ein „typischeres“ Finale zu schaffen und die Herzkönigin wird zu einer eindeutigen Bösewicht-Figur erhoben. Im Gegensatz zum Buch, wo Alice die verdrehte Gerichtsverhandlung hauptsächlich als Zuschauerin mitverfolgt, ist sie nun selbst die Angeklagte, deren Kopf auf dem Spiel steht, ehe der surreale Angriff durch die Karten und Alices plötzliches Erwachen wieder zu dem gleichen Ende wie im Buch führen.

Trotz dieser leicht verschobenen Betonung wird die antiklimatische Stimmung des Originals, die den wirren und einmaligen Charakter des Buches ausmacht, doch erstaunlich detailgetreu beibehalten. Mit Ausnahme von höchstens der Herzkönigin sind alle Figuren wie im Buch behandelt: Sie haben jeweils ihr eigenes Segment, in dem sie Alices Weg kreuzen und das Mädchen meist auf die eine oder andere Art irritieren, ehe sie - wie in einem Traum üblich - wieder verschwinden oder Alice zum nächsten Segment weitergeht. Da die Figuren allein durch diese kurzen Begegnungen definiert sind, erhalten sie nicht viel sonstige Charakterisierung; es ist alleine Alices Interpretation, die den Bewohnern des Wunderlandes Leben einhaucht.
Alice selbst nimmt bei Disney eher die typische Rolle als Freigeist und kreativer Außenseiter ein. Sie ist extrem neugierig und fantasievoll, auch wenn die überquellende Verrücktheit des Wunderlandes am Ende selbst ihr zu viel wird. Es ist interessant, dass sie - obgleich in ihrer Darstellung etwas älter als im Buch - doch kindlichere Züge aufweist: Sie ist weniger ordentlich oder konventionell und mehr ein von der Realität gelangweilter Fantast. Dadurch wirkt die Chemie der Charaktere im Film etwas anders als Buch, aber das Grundprinzip funktioniert doch auf die gleiche Weise. Da die anderen Figuren zwar viele Marotten, aber wenig eigenen Charakter besitzen, hängt im Grunde alle emotionale Bindung an Alice, der einzig „Normalen“ in diesem Tollhaus.
Ein Großteil des Reizes hängt dabei an Alices Einstellung und daran, dass sie sich kaum über die Begegnungen wundert und jede noch so sonderbare Erscheinung praktisch sofort als gegeben akzeptiert. Diese kindliche Selbstverständlichkeit, die einen Großteil der Glaubwürdigkeit von Disneys Alice ausmacht, ist besonders zu betonen, und neben der hohen zeichnerischen Qualität liegt der Hauptverdienst wohl bei der ausdrucksstarken Kinderdarstellerin Kathryn Beaumont.

Dem berüchtigten Zitat von Disney, der Film hätte zu wenig Herz, würde ich entgegensetzen, dass sowohl Film als auch Buch auf ebendieser Basis funktionieren. Die Gefühle sind allesamt sehr wohl vorhanden, es ist nur alles durch Alices Sicht gefiltert - sie selbst ist die Einzige, die Herz zeigen darf. Vielleicht wäre Disney am Ende zufriedener gewesen, wenn der weiße Ritter, der wohl einen Avatar für Dodgson selbst darstellt, mit eingefügt worden wäre. Dieser tragikomische Held aus dem zweiten Buch stellt trotz seiner mentalen Instabilität eine der wenigen einigermaßen zurechnungsfähigen Figuren dar und baut sogar eine gewisse Mentorenrolle zu Alice auf.



Die Interaktion zwischen Alice und den Wunderland-Figuren ist der Punkt, der vielleicht den größten Unterschied zu der aktuelleren Burton-Verfilmung des Stoffes ausmacht. Im Allgemeinen wird die Schuld für den künstlerischen Misserfolg des neuen Filmes in seiner speziell eingefügten durchgehenden Handlung gesucht, doch diesen Punkt halte ich persönlich für zweitrangig, denn einen zumindest ansatzweise überspannenden Handlungsbogen gibt es in vielen Verfilmungen.
Was Burtons Fassung von den Büchern und allen klassischen Bearbeitungen abhebt, ist, dass das Wunderland hier kein Traumland ist, sondern eine nur zu reale Fantasy-Welt. Die Geschöpfe verfügen über eigene Seelen und Persönlichkeiten, wodurch ihnen Tiefe verliehen werden sollte, doch im Zuge dessen geht die charakteristische Traumlogik völlig verloren. Alice nimmt nicht mehr den Platz als zentrales Bindeglied ein, sondern ist nur noch eine unter vielen voll entwickelten Wesen. Gleichzeitig behält sie aber prinzipiell denselben Charakter - neugierig und bemüht unkonventionell, doch immer noch als Einzige an die reale Welt gebunden - nur erscheint dieser Charakter jetzt im Vergleich zu den anderen Wesen eher langweilig und uninteressant.



Der Zeichentrickfilm bemüht sich nicht nur in seiner Handlung, die surreale Umgebung des Wunderlandes darzustellen. Gerade in künstlerischer Hinsicht gab man sich große Mühe, einen „speziellen“ Stil zu entwickeln, der die Welt der Bücher in angemessener Weise wiedergibt.

Das Aussehen der Figuren ist grob nach den berühmten Illustrationen von Sir John Tenniel ausgerichtet, aber darüber hinaus haben sie einen definitiv eigenen Stil, der sich nicht an irgendwelche Vorbilder anzulehnen braucht. Die legendäre Mary Blair schuf für den Film ein außergewöhnliches Farbspektrum, das unrealistisch, aber dennoch glaubwürdig erscheint und es schafft, dem Wunderland einen fröhlichen und farbenfrohen, doch gleichzeitig auch dunklen und bedrohlichen Anstrich zu geben. Zu diesem Zweck wird auch vor extremen Effekten wie den schwarzweißen Hintergründen im Garten der Herzkönigin oder auch dem kurzzeitigen völligen Fehlen der Farbe nicht zurückgeschreckt.
Auch musikalisch wird dem Stil des Buches mit seiner Unmenge an Gedichten und Reimen Rechnung getragen, wenn in dem Film nicht weniger als 18 Lieder vorkommen, die mit ihrer oft kurzen Laufzeit und den Nonsens-Texten, die teilweise direkt den Büchern entstammen, die unwirkliche Atmosphäre weiter unterstreichen.



Trotz all dieser Bemühungen um bewusste Entfremdung lässt Alice im Wunderland seine Wurzeln nicht hinter sich. Es handelt sich immer noch um einen eindeutigen Disneyfilm - so sehr, dass es nach wie vor viele Stimmen gibt, die sich über eine Amerikanisierung und Verkitschung des Originals beschweren. Man kann wohl sagen, dass die Disney-Version insgesamt noch einen größeren „Kuschelfaktor“ als die Bücher aufweist, doch muss man eine derartige Färbung meiner Meinung nach akzeptieren. Gerade bei diesem Werk, das mehr als andere die irrationale Vorstellungskraft des Lesers anspricht, kommt man nicht umhin, es durch die Bearbeitung auf die eine oder andere Weise neu zu interpretieren.
Der Film hält sich keineswegs sklavisch an die Vorlage - und welcher Disneyfilm tut das schon jemals -, aber es ist nicht zu übersehen, dass er in jeder Minute vollkommen vom Geist des Originals durchdrungen ist. Insgesamt schafft er es aber auf überzeugende Weise, seine Vorlage zu benutzen und zu einem eigenständigen Werk weiterzuverarbeiten; eine Eigenschaft, die ihn in den Rang eines wahren Meisterwerkes erhebt.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

10 Kommentare:

maloney hat gesagt…

zum Glück gibts ja American Mcgees Alice...aber ernsthaft im magi hn, ist sogar einer meiner liebsten Disneyfilme auch wenn er ruhig hätte etwas mehr wagen können, wie den Jabberwocky einzuführen oder ähnliches.

Anonym hat gesagt…

Vielen, vielen Dank für diesen Artikel!
"Die Quellen der Disneyfilme" ist derzeit meine liebste Reihe bei euch und "Alice" mein zweitliebstes Disney Meisterwerk.
Perfekt! :)

Ananke hat gesagt…

Vielen Dank!

Nur aus Neugier (und weil ich mich mit derartigen Ranglisten immer schwer tue): Was ist dein Lieblings-Disneyfilm?

Lutz hat gesagt…

Hi Ananke,
auch von mir vielen Dank für diese Artikelreihe. Vieles weiß ich schon, aber ich finde auch immer wieder Neues oder auch neue Gedankenstöße, auch wenn oder gerade weil ich auch nicht immer mit dir übereinstimme. :-)

Nur ein paar kleine Notizen:
- Zumindest im englischsprachigen Raum ist der weiße Ritter schon auch als Kultfigur aus dem zweiten Buch anzusehen. Ich denke, der Grund dafür, dass das in Deutschland nicht so ist, ist zum Großteil darin zu finden, dass die Bücher hier nie einen wirklich großen Status hatten. Wir Deutschen kennen zwar Alice und finden sie oft auch faszinierend, aber die meisten kennen eben nur die verschiedenen Filmversionen oder die japanische Zeichentrickserie, daher fehlen uns einfach auch die anderen Figuren.

-Ich würde schon sagen, dass Disney insgesamt 3 1/2 Sequenzen aus "Through the Looking Glass" übernommen hat. Auch, wenn Humpty Dumpty in der Disney Version nicht vorkommt, ist ja zumindest der Teil aus der Nichtgeburtstags-Diskussion in die Szene mit der verrückten Teeparty übernommen worden, macht sogar inhaltlich fast die ganze Szene aus. Außerdem ist Alices Unterhaltung mit den Blumen ebenfalls aus dem zweiten Buch, obwohl der Ton der Unterhaltung dort ein etwas anderer ist.

Anmerkung: Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass die Herzkönigin letztendlich eine Mischung aus der roten Schachkönigin aus "Through the Looking Glass" und der Herzköniging aus "Alice im Wunderland" wurde, damit man den Part eines Villains kreiieren konnte. Auch die rote Schachkönigin ist kein Bösewicht im üblichen Sinne, aber sie wandelt sich im Laufe des Buches zur Antagonistin und ist, wenn auch nicht so (möchtegern-)brutal wie die Herzkönigin, so doch mindestens so unberechenbar.

- Ich stimme deiner Beurteilung von Burtons Realisation des Wunderlandes als Fantasywelt im Großen uns Ganzen zu, denke aber trotzdem, dass der Hauptfehler darin liegt, dem Ganzen eine zu Grunde liegende Story zu geben. Schon in dem Hallmark-Film aus den 90ern (der ebenfalls erstaunlicherweise wieder genau dieselben Szenen aus "Through the Looking Glass", plus der Szene mit dem weißen Ritter [qed] übernommen hat), war dieses Hinzufügen eines roten Fadens, so dünn er auch sein mochte, ein Fehler, der dem Film wirklich geschadet hat.
Mit unterschiedlichen Mitteln versuchen beide Filme aus Alice eine Initiationsgeschichte zu machen und das ist einfach nicht machbar mit einer Vorlage, die vorrangig den -wie auch immer mathematisch unterlegten- Nonsens feiert.

- Zu deinen Bemerkungen zu der Annäherung an Tenniel's Designs würde ich noch hinzufügen, dass Disney zunächst plante, den Film noch näher an dessen visuelle Umsetzungen anzulehnen und den ganzen Film so wirken zu lassen, als wären Tenniels Holsschnitte lebendig geworden. Dies stellte sich jedoch bald als unmöglich heraus (allein Alice's gestreifte Strümpfe wären ein riesiges Problem geworden). Ich finde aber, dass man den meisten der Figuren ihre Wurzeln bei Tenniel schon stark ansehen kann. Als größte Ausnahmen würde ich da die Herzkönigin und den Märzhasen sehen.

Ich möchte noch einmal betonen, wie großartig ich deine Artikel finde. Ich frage mich bei dir immer wieder, welche Bücher oder Quellen du für deine Recherchen nutzt und auch, wenn so ein kleines Fan-Block dafür sicher nicht der richtige Rahmen ist, würde ich mir bei diesen Artikeln oft gern eine Bibliografie oder zumindest eine Linkliste wünschen :-)

Für ausführliche Informationen über Alice empfehle ich übrigens Martin Gardners großartiges "The Annotated Alice - The definitive Edition" (die auf Grund von Gardners Tod wohl auch vermutlich die endgültige Fassung bleiben wird).
Ansonsten finde ich thematisch auf deine Serie bezogen Richard Schickels "The Disney Version" immer wieder spannend, gerade weil Schickel sich zu einem regelrechten Disney-Hasser entwickelt und man sich wunderbar an ihm reiben kann.

Lutz hat gesagt…

Hab ich tatsächlich "Fan-Block" geschrieben? Da zeigt es sich, dass man lieber vor der Veröffentlichung korrekturlesen sollte... Verdammt, ich muss ins Bett :-D

Ananke hat gesagt…

Danke für die konstruktive Kritik; du hast natürlich mit den Verbesserungen vollkommen recht.

Als Recherchematerial habe ich mich bisher hauptsächlich an Buch und Film selbst gehalten - nur bei Alice wurde es so knapp, dass mir zum noch-mal-Lesen die Zeit gefehlt hat ...
Die restlichen „faktischen“ Informationen kommen aus den üblichen Internet-Quellen.

Bei Burton bin ich mir immer noch nicht ganz sicher, wo die Wunde genau liegt. Dass die Bücher nicht als Entwicklungsroman verfilmt werden dürfen, ist wohl klar, aber bei der Geschichte selbst bin ich mir unsicher. Kennst du den Fernseh-Zweiteiler von 2009? Der hat eine Storyline, die sich mit der von Burton zu einem erstaunlich großen Teil überschneidet (nur praktisch ohne Entwicklungs-Teil), aber hier hatte ich keine Probleme damit - ich glaube, weil dieses Wunderland einfach durch seine Neudefinition den Schwerpunkt wieder mehr auf das Wundern an sich und das (Wieder-)Entdecken der Figuren legt.


Und zu dem Block: Ich denke, das zeugt nur von einer gesunden Ur-Vertrautheit mit der deutschen Sprache. ;-)

papene hat gesagt…

Schöne interessante Diskussion über einen schönen interessanten Stoff :)

Bin auch dankbar, dass mein inzwischen 8-Jähriger Buch und Disney (Trick)film genauso schätzt, wie ich, obwohl er im Film die Sprachspiele des Buches mehr vermisst als ich.

Meiner Ansicht nach ist es den Disneyleuten hervorragend gelungen, die sprachlichen Muster und Kapriolen in eine adäquate eigenständige Farb- und Bewegungs"sprache" zu übersetzen.
Ein - mich - restlos überzeugendes Beispiel einer intermedialen Transformation des Kerns (Herzens?) einer Geschichte.

Zu den - mich - immer unbefriedigenden Realverfilmungen (Burtons 'Alice' als mustergültiges Negativbeispiel) fällt mir nur Louis Malles 'Zazie dans le métro' ein: SO hätte ich Miss Alice in die reale Welt gesetzt.

Die Aufgabenstellung der Übertragung eines mit Carrols Werken vergleichbaren Originaltextes (Raymond Queneau) in eine angemessene originäre Filmversion war doch identisch, irgendwie ... ;)

eccentricRob hat gesagt…

@Lutz: Welche Film- oder Fernsehadaption der Bücher gefällt dir persönlich am besten? :)

Lutz hat gesagt…

Sorry für die spääääääte Rückmeldung. War bisher ein voller Juli...

Danke für die Antwort, Ananke. Den Fernsehzweiteiler, den du erwähnst, habe ich bisher noch nicht gesehen. Der Trailer sieht aber interessant aus und ich kann mir vorstellen, dass das für mich schon wieder weit genug weg ist vom Original, so dass ich es genießen könnte. Ich habe kein Problem damit, wenn die Filmemacher sich von der Quelle entfernen und etwas Eigenes drausmachen, aber dann sollte im besten Falle, die eigene Vision so deutlich sein, dass sie neben der von Carroll bestehen kann. Das bezieht sich für mich ganz klar auch auf das Erzählerische und da hat Burton für mich klar verloren, weil die Story einfach nicht sonderlich originell ist. Bei der von der erwahnten "Alice" kann ich mir vorstellen, dass der Film so eigenständig ist, dass man dem eher ein Label "inspiriert von" aufkleben könnte.

@eccentricRob
Ich muss wirklich zugeben, dass ich, insbesondere in den letzten 10 Jahren, nicht wirklich viele Versionen von Alice gesehen habe. Ich bin gerade in den letzten Jahren, immer mehr an die Quelle zurückgekehrt, weil ich das Genie der ganzen Dialoge, insbesondere auf Englisch, erst da wirklich zu schätzen gelernt habe.
Ich kann eigentlich vielen Verfilmungen etwas abgewinnen, ich glaube, von denen,die ich gesehen habe, gibt es keine, die ich gar nicht mag. Burtons Alice ist aber definitiv am unteren Ende der Skala für mich anzusiedeln.

Ich glaube, im Großen und Ganzen ist mir die Disney-Zeichentrick Version noch am liebsten, einfach, weil sie ihrerseits auch von Ideenreichtum sprüht, es aber nie so wirkt, als sei das alles nur ein Selbstzweck.

Meine Initiation zu Alice bekam ich durch die japanische Zeichentrickserie aus den 80ern, und viel davon steckt mir noch im Gedächtnis. Wenn ich sie heute sehen würde, wäre das vermutlich anders, aber rein vom Nostalgiefaktor muss ich sagen, dass ich die Serie wirklich sehr mag.

Mir gefallen aber auch düstere Herangehensweisen an Alice. Es gibt einen Film aus den 80ern, in dem sich die alte Alice an die Figuren aus dem Wunderland erinnert, die auch alle erschreckend aussehen, gealtert sind und versuchen, sie ins Wunderland zurückzuziehen. Ich kann mich nicht mehr sehr an den Film erinnern, er hat mich als Kind auch eher enttäuscht, aber die Puppen sind mit im Gedächtnis geblieben, das also hat mich definitiv stark fasziniert. Vielleicht muss ich den einfach auch noch einmal sehen.

Ananke hat gesagt…

Ich habe die Frage nach einem guten Spielfilm jetzt als Anlass genommen, die Fernsehproduktion "Alice im Wunderland" von 1985 zum ersten Mal seit ich acht war wieder zu sehen. Der Zweiteiler umfasst beide Bücher und ich war überrascht, zu sehen, wie originalgetreu die Verfilmung wirklich ist; sowohl die einzelnen Szenen, als auch der generelle Nonsens-Charakter sind größtenteils perfekt getroffen und die sehr junge Hauptdarstellerin macht ihre Sache wunderbar. Die einzig größere Abweichung liegt im Ende, das eben doch ein dramatisches Finale mit Pseudo-Entwicklung einfügen musste, doch das lässt sich insgesamt ganz gut übersehen.
Man kann der Verfilmung vorwerfen, dass sie das Buch nur ablichtet, ohne irgendeinen eigenen Stil o.ä. hinzuzufügen, doch als getreue "Untermalung" ist sie gut geeignet. Abgesehen vom Disney-Film ist dies jetzt meine "offizielle" Alice-Version - auch wenn ich zugeben muss, dass der Jabberwocky mir irgendwie eindrucksvoller in Erinnerung war ...

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