Freitag, 14. August 2015

Freitag der Karibik #13

Struktur einer retroaktiv erschaffenen Filmtrilogie

Obligatorische Spoilerwarnung: Wer Fluch der Karibik und dessen Fortsetzungen noch nicht gesehen hat, sollte diesen Beitrag noch nicht lesen. Und verflucht noch eins endlich diese Filme nachholen!

Innerhalb von zwölf Jahren kann viel passieren. Kinder, die auf den Tag genau vor zwölf Jahren geboren wurden, dürfen heute erstmals ganz allein Fluch der Karibik und Tausende andere Filme schauen. Auch Hollywood hat sich enorm verändert. So ist die Traumfabrik noch franchiseorientierter geworden als sie es 2003 war: Wenn heutzutage eine US-Produktion eine gewisse Budgetgrenze überbietet, so ist sie üblicherweise ab Werk darauf ausgerichtet, Fortsetzungen zu ermöglichen. Dies äußert sich etwa darin, dass lose Handlungsfäden nach einer Weiterführung der Geschichte drängen oder in zahllosen Andeutungen, was sich noch alles im Filmuniversum tun könnte. Das kann den Vorteil haben, dass Sequels organischer wirken, sich Filmreihen flüssiger entwickeln können. Es kann aber auch gewaltige Nachteile haben, etwa wenn Geschichten bloß noch wie die Vorbereitung auf spätere Produktionen rüberkommen. Siehe etwa The Amazing Spider-Man 2.

Als Fluch der Karibik in die Kinos segelte, sah das alles etwas anders aus. Ja, schon damals existierten massenhaft Fortsetzungen, doch für sich stehende Filme gehörten auch im hoch budgetierten Bereich noch zur Tagesordnung. Die Jerry-Bruckheimer-Produktion war ein solches Werk. Gewiss, der damalige Disney-Chef Michael Eisner ließ gegen Ende der Produktion den Originaltitel von Pirates of the Caribbean zu Pirates of the Caribbean: The Curse of the Black Pearl erweitern, um dann doch für ein etwaiges Sequel vorbereitet zu sein. Und um weniger kinderfreundlich respektive themenparkhaft zu klingen. Und ja, es lassen sich Aussagen der Autoren Ted Elliott und Terry Rossio finden, dass sie während des Drehs erste Ideen für Fortsetzungen hatten, wobei diese eher spaßeshalber gehegt wurden. Denn ernstlich glaubte niemand an einen Kassenerfolg, geschweige denn an grünes Licht für eine Fortsetzung. Anders als heute, wo selbst Filme, deren Sequelaussichten dürftig sind, Cliffhanger aufweisen (siehe etwa: Percy Jacskson: Im Bann des Zyklopen), wollte man daher keine expliziten Verweise auf neue Abenteuer hinterlassen. Deshalb mussten die einige Wochen nach dem sensationellen US-Kinostart angekündigten 'Back-to-Back-Sequels' auf Grundlage einer auserzählten Geschichte erschaffen werden.

Um eine in sich schlüssige, narrativ flüssige Trilogie zu verfassen, die sich obendrein an der klassischen Drei-Akt-Struktur orientiert, sind dies denkbar schlechte Voraussetzungen. Erstens, weil der Originalfilm die Figuren bereits auf eine dramaturgisch  vollständige Reise geschickt hat, mit Teil zwei müsste man den am häufigsten Verbreiteten Erzähltheorien nach also nochmal bei Null anfangen. Oder rekursiv alle Handlungsfäden so umschreiben, dass Part eins nur noch als Exposition dient. Was gerade für den dritten Teil ein großes Problem bedeutet. Nicht, dass Trilogieabschlüsse es nach den archetypischen Modellen besonders einfach hätten: Laut William Goldman und zahlreichen anderen Theoretikern darf der dritte Akt einer Geschichte respektive der dritte Part einer Trilogie keine neuen Elemente mehr einführen, sondern sollte ausschließlich der Auflösung entgegen rauschen. Das retardierende Moment kennen viele der (filmzentrischen) Erzählmodelle im englischsprachigen Bereich gar nicht erst, womit der abschließende Part einer Trilogie praktisch gar nichts mehr zu bieten hätte.

Das alles mag erklären, weshalb so mancher dritter Film in Hollywood-Reihen nicht so ganz aufgeht. Immerhin sind die stringenten Drei-Akt-Modelle in der Traumfabrik weit verbreitet. Und auch, wenn die alten, bewährten Strukturen helfen können, sollten Künstler wissen, wann sie sich ihnen widersetzen sollten. Ted Elliott und Terry Rossio zumindest haben sich beim retroaktiven Erschaffen der ursprünglichen Pirates of the Caribbean-Trilogie hingesetzt und gegrübelt, wie sie eine zusammenhängende Filmreihe auf die Beine stellen können, in der sich alle Teile ergänzen. Selbst wenn der erste Part entstand, ohne dass ernsthafte Gedanken an die weiteren Elemente verschwendet wurden. Und zudem suchten sie nach einem narrativen Prozess, der Part drei zu mehr macht als bloß "Auflösung - Der Film!"

Die Lösung fanden sie in einer weiteren klassischen Struktur, die allerdings weniger starre narrative Grenzen setzt und so den einzelnen Elementen mehr inhaltlich-dynamische Freiheiten erlaubt. Wie Elliott gegenüber Behind the Scenes TV vor Start von Pirates of the Caribean - Am Ende der Welt erklärte, nutze man nämlich einen typischen Diskussions-Aufbau: "Stell dir jeden Teil als einen Satz vor. Der erste Film war eine These, der zweite eine Antithese und nun kommen wir zur Synthese. Eigentlich ist das ja auch so etwas wie eine klassische, dramatische Struktur. [...]  Es spitzt sich zwar am Ende alles zu, aber wir haben noch immer einiges an Geschichte zu erzählen. Es geschieht noch immer etwas."

Fragt man mich, so muss ich sagen: Elliott behauptete damals nicht bloß irgendetwas, sondern nennt einen der zentralen Gründe, weshalb zumindest ich der PotC-Trilogie einen sehr guten Aufbau attestieren würde. Jeder Film fühlt sich anders an, ist individuell und somit interessant anzuschauen, gleichwohl bauen die drei Teile aufeinander auf, ergeben somit eine zusammenhängende Argumentation, äh, Geschichte. Während etwa die drei ersten Stirb langsam-Filme, die Ocean's-Trilogie oder die Bourne-Trilogie eigentlich nur Dreierpacks sind. Die Wellengänge, die tonalen und inhaltlichen Schwankungen der ersten beiden Fluch der Karibik-Fortsetzungen gehen hingegen so auf das Original ein, dass sich eine erfüllende, klar strukturierte Geschichte ergibt.

Um aufzuzeigen, dass Fluch der Karibik, Pirates of the Caribbean - Die Truhe des Todes und Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt eine filmische Argumentation nach der These-Antithese-Synthese-Struktur darstellen, möchte ich jeweils auf die Schlussphasen der jeweiligen Filme eingehen. Denn gerade das, was der jeweilige Abschluss der drei Piratengeschichten über ihre Welt und die in ihr agierenden Figuren aussagt, unterstreicht den von Elliott besagten Vorgang. Die drei Stücke Seemannsgarn lassen den Betrachter in den ersten zwei Anläufen mit sehr gegensätzlichen Fazits zurück, ehe Am Ende der Welt einen Kompromiss erarbeitet. Womit er inhaltlich mehr zu bieten hat als nur ein schlichtes "Alles zum stringenten Ende bringen. Denn entgegen des Goldmann-Modells führt Am Ende der Welt auch viele der Aspekte ein, dank derer ein Kompromiss geschlossen werden kann. Der Film schlussfolgert, statt den eingeschlagenen Weg konsequent zu verfolgen.

Yo-Ho, yo-ho, Piraten haben's gut?
Die drei Akte der Trilogie und ihre jeweilige Position zum Piratenleben

Fluch der Karibik endet nach allerlei De- und Rekonstruktion (und noch mehr Ironisierung) auf einer Note, die vor Abenteuerromantik nur so sprüht. Gouverneurstochter Elizabeth Swann (eingangs von Piraten begeistert, dann von ihnen genervt und letztlich eben doch wieder eine Sympathisantin) und Waffenschmied Will Turner (wandelt sich vom Kämpfer gegen das Piratentum zum widerwilligen und letztlich zum überzeugten Kollaborateur) helfen Käpt'n Jack Sparrow, dem Galgen zu entkommen. Sogar Commodore James Norrington willigt dem verwegenen Betrüger genügend Vorsprung ein, um sich in Sicherheit zu bringen, bevor das Militär seine obligatorische Jagd nach ihm fortführt. Im Port Royal umgebenden Ozean gelandet, entdeckt er wider Erwarten sein geliebtes Schiff. Die Black Pearl! Die Besatzung, die vorhatte, Jack zum Sterben zurückzulassen, hat ihre Meinung geändert. Verrat unter Piraten? Das ist keine Regel, sondern eher eine Richtlinie, und gegen die verstößt man aus Treue und Kameraderie doch liebend gern! Jack hat alles, was er wollte, und macht sich triumphierend singend auf gen neue Untaten! Trinkt aus, Piraten, yo-ho!

Die Truhe des Todes greift sich den Optimismus, durch den das Piratentum im Vorläufer beweihräuchert wurde, steckt alles in Brand und flieht ins Nirgendwo. Ehrlichkeit unter Piraten? Gibt es nicht. Um seine eigene Haut zu retten spielt Käpt'n Jack Sparrow Will und Elizabeth gegeneinander aus. Hatte die verfluchte Crew aus Teil eins noch einen spröden Humor und wusste in den richtigen Momenten ihre übernatürliche Bürde zu genießen, sind Davy Jones' Mannen deformierte, leidende und durch und durch empathie- sowie humorbefreite Monster. Und unsere beiden wohl behüteten Helden aus Port Royal? Die bekommen Jacks schlechten Einfluss in doppelter Hinsicht zu spüren. Zunächst, weil die Rechtsprechung aufgrund der gutherzigen Tat nach ihnen trachtet, die sie am Ende von Fluch der Karibik zu Jacks Wohl getätigt haben. Und dann, weil Jacks Betrügereien auf sie abfärben. Will, weiterhin der moralisch reinste in diesem Epos, kämpft verbissener und schmutziger als noch in Teil eins. Und die Abenteuerromane verschlingende Piratenromantikerin Elizabeth Swann? Die wird zur Mörderin. Jack geht mitsamt seines geliebten Schiffs unter, und sogar seine Genugtuung, sich an Barbossa gerächt zu haben, wird ihm (posthum) genommen. Der listige Käpt'n Barbossa weilt wieder unter den Lebenden. Endete Teil eins noch auf einem triumphalen Piratenliedchen, nachdem die schrillste Figur des Stücks alles erhalten hat, was sie wollte, endet Die Truhe des Todes auf einem schmutzigen Lachen. Und mit Barbossas fies grinsend geäußertem Verlangen, die Pearl wieder an sich zu reißen. Piraterie lohnt sich nicht ...

Am Ende der Welt letztlich zeichnet das komplexeste Seeräuberbild der Reihe. Nach dem beschwingten Spaß des Erstlings und dem desaströsen Weltbilds des Nachfolgers erstrahlt das Piratendasein nun in einem variierenden Grauton. Begegnungen zwischen Piraten und Galgen gehen längst nicht so glimpflich aus, wie Fluch der Karibik es darstellte und, ja, der Hang zu Lug, Trug, Verrat und doppelten Spielchen, den Die Truhe des Todes abbildete, wird hier bestätigt. Jedoch haben viele Piraten einen freiheitsliebenden moralischen Kompass, der sie positiv von der "zivilisierteren" neuen Welt abhebt. Und wenn man erst so eine Ikone ist wie Käpt'n Jack Sparrow, so ist selbst der Tod nur eine Stolperschwelle. Piraten mögen unfähig sein, geordnete politische Diskussionen zu führen, allerdings halten sie sich, wenn es hart auf hart kommt, an Abmachungen, die eine friedliche Zukunft ermöglichen. Anders als militärisch organisierte Händler, denen es nur um den Profit geht. Will? Er musste eine Phase des listigen Eigensinns durchlaufen, um zu seinem altruistischen Ich zurückzufinden. Und Elizabeth? Sie hat nun den Titel "König der Piraten" errungen, hat in ihrem Handeln aber zu Besonnenheit zurückgefunden, trifft wieder deutlich weniger diskutable Entscheidungen und kann sich obendrein wieder allem zum Trotz in ihren geregelten Alltag zurückziehen. Kurzum: Das Piratenleben ist eines voller Stress, Unangenehmlichkeiten und unangenehmer Gesellen, der generelle Lebensentwurf der versoffenen Seefahrer ohne geregeltes Einkommen ist trotzdem von Schönheit und Idealen durchzogen. Eine Lektion, die auch auf Jack Sparrow ihren Einfluss hat: Erneut wird er um sein Schiff betrogen, erneut segelt er allein über die sieben Weltmeere, um ein Ziel anzusteuern. Hat sich das alles also gelohnt, Jack? Nicht unbedingt, aber erstens ist eh der Weg das Ziel, und zweitens bringt es nichts, nach Rache zu sinnen. Dieses Mal hat Jack Frieden mit seinem Dasein als einsamer Wolf der See geschlossen und begibt sich auf die Suche nach dem sagenumwobenen Jungbrunnen. Die Pearl braucht es nicht. Ihr Verlust mag ärgerlich sein, Freiheit kann man aber auch ohne sie erlangen ...

Piratenromantik: Liebe in Zeiten des Skorbuts
Die drei Akte der Trilogie und ihr Grad an Liebesglück
Ein Waffenschmied und eine Gouverneurstochter? Na, sicher kriegen sich die Beiden. Eine unkomplizierte Liebe, für die Ewigkeit, das garantieren wir euch.

Oder auch nicht. Die große Hochzeit von Will & Elizabeth fällt (wortwörtlich) ins Wasser, das unsterblich verliebte Paar wird zum Tode verurteilt und geht eigenständige, eigensinnige Wege, um dies zu verhindern. Will ist so erpicht drauf, Elizabeth zu retten, und Elizabeth so erpicht, Will zu retten, dass das harmonische Gleichgewicht zwischen ihnen zerstört wird. Elizabeth hegt leise Zweifel an ihrer Wahl des zukünftigen Gatten (die sie zu vertreiben versucht, darüber, wie erfolgreich, lässt sich debattieren), und Wills Misstrauen in Elizabeth wächst dermaßen, dass er überzeugt ist, sie sei Jack völlig verfallen. Die Truhe des Todes endet damit, dass aus dem Liebespaar eine sich nicht leiden könnende Zweckgemeinschaft wird.

Aber was sich wirklich liebt, findet auch einen Weg zueinander: Will und Elizabeth mögen nicht weiter die Personen sein, die sie einst waren. Und zwischenzeitlich waren sie sich sogar nicht mehr sicher, ob sie die Personen sind, die sie für den Rest ihres Lebens an der Seite wissen wollen. Doch schlussendlich hat die Zuneigung füreinander obsiegt. Beide emanzipieren sich in Am Ende der Welt, entwickeln immer individuellere Denkwege und Handlungsmechanismen, aber während sie sich in Die Truhe des Todes wegen einer ähnlichen Dynamik gegenseitig vor den Kopf gestoßen haben, lernen sie nun, eigenständig zu sein, und dabei stets das Gemeinsame im Sinn zu haben. Wie romantisch ..? Ja, allerdings ist das große Happy End ohne Fußnoten nur was für Kinder. Oder erste Teile einer Filmreihe. Selbst wenn sich Will und Elizabeth ewige Treue schwören und ihre Hochzeit bekommen, so fällt besagte Hochzeit überhaupt nicht aus wie geplant, und das mit dem "das Leben miteinander verbringen" ist auch so eine Sache, wenn die äußeren Umstände einen zu einer Fernbeziehung zwingen, die solch melancholische Beiklänge hat, dass man ihr eine bittersüße Oper widmen könnte!

Und so wandelten Rossio und Elliott die "Einführung - Konflikt - Lösung"-Struktur in den Feinheiten derart ab, dass eine Resonanz zwischen dein einzelnen Filmen entstanden ist, die viel mehr Reibung und Spannung erzeugt als im glatten Normalfall. Und den dritten Film der rekursiv erschaffenen Trilogie haben sie so zu mehr gemacht als zur reinen Zielgeraden. Jeder Film hat seinen eigenen Schlusssatz, aber diese Schlusssätze zu den Themen Liebe und Freiheitsdrang stehen in Spannung zueinander, haben eine Wechselwirkung.

Zweifelsohne werden nun manche sagen: "Hätten Rossio und Elliott das mal anders gemacht!" Oder "Soooo neu ist das nun auch nicht!". Letzteres stimmt, allerdings haben sie auch nie behauptet, das Steuerrad völlig neu erfunden zu haben. Sie haben es, in meinen Augen, aber sehr, sehr gut an die Bedürfnisse ihrer Piratensaga angepasst. Dass die Trilogie (oder viel eher die Fortsetzungen) ihre Gegner haben, ist mir bewusst. Aber vielleicht, vielleicht konnte ich nun den einen oder anderen überzeugen, dass sie eben nicht so konfus dahingeklatscht wurden, wie manch unverbesserlicher Nörgler behauptet ... 

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