Wenn die Walt Disney Animation Studios bereits existierendes Material adaptieren, was häufiger geschieht als dass es
nicht der Fall ist, so prägen sie mit ihrer Interpretation zumeist die kollektive Erinnerung jener Geschichte. Wer an Schneewittchen denkt, denkt an ein junges Mädel im blau-weiß-rot-gelben Kleidchen und sieben Zwerge mit individuellen Identitäten, zudem sind vielen Menschen die zwei von Disney ausgelassenen Ermordungsversuche nicht weiter bekannt.
Das Dschungelbuch weckt Assoziationen mit einem lässig tanzenden Bären, einem gestrengen Panther und einem jazzigen Affenkönig. Und auch Disneys
Peter Pan ist derart ikonisch, dass sich sogar Verfilmungen der Konkurrenz an Marc Davis' Zeichnungen Tinkerbells orientieren. Während es bei diesen Geschichten einigen Menschen wenigstens bekannt ist, dass sie von Disney bloß verfilmt und nicht etwa erdacht wurden, so haben andere Disney-Filme ihre Quelle sogar vollauf verdrängt. Man denke bloß an
Dumbo,
Bernard und Bianca oder
101 Dalmatiner.
Aber längst nicht jeder abendfüllende Disney-Trickfilm hat der breiten Öffentlichkeit ihre "definitive" Fassung der darin bearbeiten Geschichte präsentiert. So dürfte der Durchschnittsfilmkonsument bei
Robin Hood erst an Kevin Costner oder Errol Flynn, vielleicht sogar an Douglas Fairbanks und den Schwerter schwingendne Russel Crowe denken, bevor ihm Disneys gezeichneter Fuchs in den Sinn kommt.
Liegt dies etwa allein daran, dass
Robin Hood zu den am häufigsten behandelten Stoffe der Filmgeschichte gehört, während es
Das Dschungelbuch im direkten Vergleich auf eine überschaubare Anzahl an Kino- und Fernsehvarianten bringt und zum Beispiel
Dumbo ausschließlich in der Welt Disneys vorzufinden ist?
Eine fundierte Antwort auf diese Frage zu finden, dürfte eine geisteswissenschaftliche Abhandlung füllen, die womöglich sogar lesenswert sein könnte, aber ich möchte sie in einem subjektiven Schnellschuss viel knapper beantworten: Nein. Disney ist auch dazu fähig, massenhaft verfilmten Geschichten intensiv seinen Stempel aufzudrücken. In den Monaten vor Kinostart des meisterlichen Zeichentrickabenteuers
Tarzan prognostizierten Schwarzseher, dass Disney mit seiner Nacherzählung der Dschungelromanze auf die Nase fliegen wird, weil das kollektive Bild Tarzans bereits festgelegt ist, so dass die Disney-Trickstudios ihre Sichtweise daneben nicht mehr in gewohnt ikonischem Maße etablieren könnten.
Dreizehn Jahre später kann ich selbst meine disneyfernsten Bekannten über
Tarzan ausfragen, und die ersten Antworten lauten (in variabler Reihenfolge) Disney, Zeichentrick und Phil Collins. Der legendäre Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller wurde von Disneys Version der Geschichte zwar, im Gegensatz zum Kamm und Gürtel aus dem klassischen Schneewittchen-Märchen, nicht vollkommen ins schwarze Nichts des Vergessens gedrängt, allerdings stellt der mitreißende Abschluss der Disney-Renaissance für eine recht große Gruppe an Kinogängern den ultimativen
Tarzan dar.
Quantitativ spielen die Geschichten von
Tarzan und
Robin Hood wohl zweifelsohne in der Königsklasse literarischer und folkloristischer Stoffe mit, wodurch sich die Frage aufdrängt, wieso Disneys
Tarzan in Sachen Popularität es sogar mit einigen der ehrwürdigen "Platinum Edition"-Filme aufnehmen kann, während
Robin Hood von einem Neunziger-Jahre-Konfektionsprodukt an den Rand gedrängt wird. Die Antwort, zumindest jene, die ich geben würde, beginnt ebenfalls mit einem "Q": Qualität. Während
Tarzan rockt, ist
Robin Hood eine Schlaftablette.
Wie der Gockel Alan-a-Dale erklärt, hat das Tierreich seine eigene (wahre?) Version der berühmten Sage des Diebes Robin Hood, der von den Reichen (vornehmlich vom sich als König aufspielenden Prinz John) stahl, um die Beute den Armen zu geben. In dieser Nacherzählung ist Robin Hood ein (vermeintlich) gewiefter Fuchs, der mit seinem Bären-Kumpel Little John durch Sherwood Forest streift und oftmals mittels schriller Verkleidungen an das Hab und Gut der Reichen gelangt. Ihr erklärtes Ziel ist es, den von ungeheuerlichen Steuern geplagten Bürger Nottinghams das Leben zu verschönern und den Königsclown Prinz John sowie seine Schlange von einem Assistenten (Sir Hiss) abzusetzen. Eines Tages erfährt Robin Hoods und Little Johns Komplize Bruder Tuck (ein Dachs), dass Prinz John ein Bogenschützenturnier veranstaltet, dessen Sieger einen Kuss von Robin Hoods Geliebter Maid Marian erhält. Von diesem Preis umgarnt, nimmt der Fuchs in Verkleidung am Turnier teil, auch wenn es ihn in gefährliche Nähe der ihn suchenden Regentschaft Englands bringt ...
Schon die ersten Sekunden stehen symptomatisch für die falsche Geisteshaltung, mit der Regisseur Wolfgang Reitherman, nach Walt Disneys Tod nahezu der alleinige Herrscher über die Disney-Zeichentrickstudios, an dieses Projekt heranging. Ähnlich, wie die Muppets niemals innerhalb ihrer eigenen Filme als Puppen bezeichnet werden dürfen (es sei denn, es handelt sich dabei um
einen miesen Fernsehfilm, das fast im Alleingang ihre Disney-Karriere zerstörte), so haben Disney-Animationsfilme es zu verschweigen, dass sie nur eine von vielen Versionen einer bereits erzählten Geschichte sind. Wo kämen wir hin, wenn Phil Collins zu Beginn von
Tarzan gesäuselt hätte "Ihr denkt wohl, ihr kennt die wahre Geschichte über Tarzan, oder? Nun, lasst mich die wirklich, wirklich reale Geschichte erzählen ...", ehe die Trommeln von
Zwei Welten erklingen? Dass zu Beginn von
Robin Hood explizit erklärt wird, dass es sich um die Antwort aus dem Tierreich, und nicht den definitiven, ultimativen Robin Hood handelt, macht selbstredend nicht im Alleingang den gesamten Film kaputt. Aber es lässt tief in die Gedankengänge der Disney-Künstler blicken, die nach
Aristocats erstmals völlig ohne irgendeinen Input Walt Disneys die Trickmaschine am Laufen halten mussten. Sie wollten nicht
den Robin Hood-Film machen, stattdessen lieferten sie einen
Robin Hood ab. Und somit ging diesem Werk vieles der Ambition, Verbissenheit und des künstlerisch-schöpferischen Größenwahns ab, wodurch die Walt Disney Meisterwerke üblicherweise geprägt werden.
Dies zieht sich durch die komplette erste Viertelstunde dieser Produktion durch, die staubtrocken, konfliktlos und ereignisarm ist. 15 Minuten ruhiger Pfeifmusik, des wohl unkreativsten Vorspanns im Meisterwerke-Kanon und gemächlich erzählter Randgags sind für Disneyfilme, die im Normalfall spektakulär eröffnen und ihr Publikum von der ersten Minute an packen, fast schon eine Bankrotterklärung. Bevor der Fuchs wirklich in Action treten darf, plappern charakterarme Waldtierkinder mit Maid Marian über ihre Liebe zu Robin Hood (so viel zu "Show don't tell") und eine vollbusige Henne verliert einen Federball in ihrem Ausschnitt. Würde so etwas heute passieren, würden alle Disney-Liebhaber aufheulen, das Studio sei auf DreamWorks-Niveau abgerutscht, 1973 war es der neue, frech-kindliche Humor auf der Höhe des Zeitgeistes.
Generell beherrscht nebensächlicher, blödelnder Humor diesen Film, der auf komödiantischer Ebene zudem von Robin Hoods anstrengender Selbstverliebtheit getragen wird. Vermutlich sollen seine Sprüche lässig sein, vielleicht sogar eine kantige Charackterschwäche, nicht ungleich des eine ähnliche Mode bevorzugenden Peter Pan, aber das Rotfell nervt mich nur mit seiner arroganten und ungerechtfertigten (und niemals ironisch gebrochenen) Selbstbeweihräucherung. Seine vermeintliche Cleverness ist in Wahrheit auch nahezu unverschämtes Glück, dass dieser Robin Hood nicht schon in den ersten Filmminuten gefangen genommen wird, liegt bloß daran, dass seine Widersacher erschreckend dumm sind. Dadurch geht Disneys Zeichentrick-
Robin Hood jegliche Spannung verloren, denn selbst wenn der weinerliche Prinz John und der hinterlistige Sir Hiss für die besten Lacher des Films zuständig sind, so sind sie als Schurken nicht ernstzunehmen. Sogar Comedyschurken wie Hades oder der Mann mit der Melone hatten Jahrzehnte später mehr Einschüchterndes an sich. Wenigstens sind Ollie Johnstons Prinz John und Frank Thomas' Sir Hiss ausdrucksstark und sauber gezeichnet, womit sie den Films im Alleingang davor bewahren, sich das Prädikat "animationstechnisch undenkwürdig" zu verdienen.
Die restlichen Figuren sind mimisch und gestisch so schlicht, so abhängig von der Charakterisierung früherer Disney-Trickpersönlichkeiten und mitunter auch so ungeschliffen, dass man fast glauben könnte, eher eine Disney-Kopie der Mittelklasse vor sich zu haben: Die Augen schmerzen nicht, finden allerdings auch nichts, woran sie sich ergötzen könnten. Dies gilt auch für die blass-dreckigen und aufgeräumten (um nicht zu sagen "langweiligen") Hintergründe. Dass Reithermann den Jubiläumsfilm zum 50. Jahrestag der Studiogründung zudem mit mehreren kopierten Szenen füllte, die laut einigen Studiomitarbeitern zeitaufwändiger waren als das Entwerfen und Umsetzen neuer Bewegungsabläufe, zugleich aber im Finale auch mal völlig auf die Animation von Randfiguren verzichtete, sichert
Robin Hood aus technischer endgültig einen Platz auf der letzten Bank.
Dass
Robin Hood, im Gegensatz zu solchen Ausfällen wie
Die Kühe sind los!, keinerlei konzentrierten Hass auf sich zieht, liegt derweil wohl daran, dass diese 70er-Jahre-Produktion wenigstens einen unschuldigen, simplen Charme aufweisen kann.
Robin Hood ist vielleicht öde, hat aber wenigstens erträgliche Figuren und funktioniert dank der treffend gewählten Tierfiguren für ein Kinderpublikum sehr erfrischend. Ich erinnere mich, ihn vor vielen Jahren nach meiner ersten Sichtung auf Videokassette sofort nochmal geguckt zu haben. Und da bin ich wohl nicht allein, denn
Robin Hood mag zwar bei Kritikern durchfallen, dennoch ist er ein kleiner Kultfavorit unter Liebhabern der weniger prominenten Disney-Filme.
Es ist ein einfacher Film, ganz im Gegenteil zur ursprünglich geplanten
Reinecke Fuchs-Adaption, die schnell wegen mangelnder Disneyhaftigkeit abgesägt wurde, einer, der zum Entspannen einlädt und der von seinen Musiknummern nicht völlig erdrückt wird. Vor allem im historischen Kontext muss man diesem Film deshalb etwas Anerkennung zukommen lassen: 1973 war
Robin Hood ohne Walt, mit geschrumpfter Geldbörse und ohne jeglicher Form von Mut noch das Beste, was man von den Disney-Trickstudios erwarten durfte. Sie mussten einfach überleben – und wohl auch aufgrund der zeitgenössischen (wenngleich inhaltlich deplatzierten) Country-/Schlager-Musik war dieser episodisch erzählte Abenteuerspaß bei Erstveröffentlichung sogar ein waschechter Kassenschlager. Rückblickend vielleicht ungerechtfertigt, doch es war ein großes Glück. Man mag sich nicht ausmalen, wie eng die Schlinge um den Hals der Trickkunst geworden wäre, hätte
Robin Hood sein Ziel an den Kinokassen verfehlt. Manchmal müssen halt auch mäßige Filme obsiegen, um der Kinogeschichte gut zu tun ...