Dienstag, 31. Mai 2016

X-Men: Apocalypse


Lang habe ich gehadert, ob ich eine Kritik zu X-Men: Apocalypse verfassen sollte. Schließlich habe ich genug mit aktuellen Reviews zu Filmen zu tun, die ich in Pressevorführungen sah. Allerdings hallt mein Gefühl, das ich während meiner rein privaten Sichtung des neuen Bryan-Singer-Films hatte, so lange nach, dass ich ihm Luft machen muss. Denn in meinen Augen hat Singer es tatsächlich geschafft, seinen "Nachfolger" Brett Rattner zu toppen und den schlechtesten Film in der nunmehr sechsteiligen X-Men-Hauptsaga abzuliefern: X-Men: Apocalypse hat ungefähr so viele Qualitäten wie X-Men: Der letzte Widerstand (nämlich nahezu gar keine), teilt sich mit ihm viele, viele Schattenseiten, ist aber obendrein auch noch deutlich länger, ohne diese zusätzlichen Minuten Laufzeit rechtfertigen zu können ...

Die Story
Wir befinden uns im Jahr 1983 in der durch die Geschehnisse aus X-Men: Zukunft ist Vergangenheit losgetretenen Zeitlinie: Apocalypse (Oscar Isaac), möglicherweise der erste Mutant der Geschichte, erwacht nach Jahrtausenden des Schlummers und beschließt, die Welt zu zerstören. Dies, wie es sich für ihn geziemt, in Begleitung von vier Gefolgsleuten. Als seine vier Reiter erwählt er Storm (Alexandra Shipp), Psylocke (Olivia Munn), Magneto (Michael Fassbender) und Angel (Ben Hardy), zudem entführt er Charles Xavier (James McAvoy). Um den Weltuntergang abzuwenden, raufen sich daher zahlreiche junge Mutantenschüler Xaviers zusammen, darunter die ihre Kräfte noch nicht kennende Jean Grey (Sophie Turner), der erst seit wenigen Tagen seinen explosiven Laserblick verstehende Cyclops (Tye Sheridan) und der erst kürzlich von Mystique (Jennifer Lawrence) aus einem ostdeutschen Mutanten-Kampfklub befreite Nightcrawler (Kodi Smit-McPhee). Auch Magnetos unehelicher Sohn Quicksilver (Evan Peters) schließt sich der Truppe an, um endlich eine Bindung zu ihm aufzubauen ...

"Na gut, wenn es denn sein muss ..."
Nach Erste Entscheidung und Zukunft ist Vergangenheit, in denen die meisten der Darsteller schauspielerische Leistungen weit über dem von Superheldenfilmen gewohnten Maß von sich gegeben haben, ist Apocalypse eine knallharte Klatsche: Ein Großteil der Wiederkehrer aus der "Retcon-Trilogie" spult in diesem Mutantenepos seine Zeilen lustlos runter. Vor allem Jennifer Lawrence erweckt mit einem dauerdemotivierten Blick den Eindruck, lieber irgendwo anders zu sein, als am X-Men-Set - da Mystique in Apocalypse angeblich eine getriebene, frustrierte Ikone ist, die vor den Mutantenjägern flieht, ist das nicht gerade eine der Spannung sowie der Glaubwürdigkeit förderliche Performance. Doch auch Nicholas Hoult und Lucas Till schauen desinteressiert aus der Wäsche, während James McAvoy Xavier zwar wenigstens Persönlichkeit verleiht, allerdings ebenfalls eher auf Autopilot agiert und schlicht in geschätzt 80 Prozent seiner Szenen mit traurigem Hundeblick die Verletzlichkeit seiner Rolle herauskehrt. Weitere Facetten Xaviers bringt McAvoy nur andeutungsweise zum Vorschein, selbst dann, wenn das so flache Skript ausnahmsweise Gelegenheit dazu gibt.

Einzig Fassbender gibt sich aus der Riege der Erste Entscheidung-Generation sichtlich Mühe, selbst wenn er ebenfalls mit teils nichtssagendem Material zu kämpfen hat (sobald Magneto von Apocalypse rekrutiert wird, blickt er praktisch ohne Unterlass "seelenlos, aber entschlossen" gen Horizont). Da Magneto aber (einmal mehr) mit seiner tragischen Kindheit konfrontiert wird und (schon wieder) vorgeführt wird, dass das Schicksal liebend gern Jojo mit ihm spielt, kann Fassbender zumindest in diesen Passagen in die Tiefe gehen und eine von Grund auf erschütterte Persönlichkeit formen.

Ein Schurke ohne Sinn und Verstand
Eine Superheldengeschichte ist nur so gut wie ihr Schurke - diese Binsenweisheit erwies sich spätestens mit dem Aufstieg des Marvel Cinematic Universe als veraltet. Schließlich scheitern die Marvel Studios wiederholt daran, einen denkwürdigen Fiesling zu erschaffen, und trotzdem wissen Filme wie Guardians of the Galaxy zu begeistern, während Thor mit Loki einen hoch angesehenen Schurken aufweist, aber nur eine mäßige Produktion darstellt. Dennoch kann es zweifelsfrei nicht schaden, einen guten Fiesling zu präsentieren, insbesondere, wenn er die Titelfigur darstellt und das extralange, extramonotone Finale dominiert. Aber leider ist Apocalypse eine ungeheuerlich lahme Figur: Oscar Isaac verschwindet unter Tonnen an inkonsistentem Make-up und hat als einzigen Charakterzug ... tja ... Es ist schwer, auch nur einen Aspekt von Apocalypses Persönlichkeit festzuhalten. Er will die Welt zerstören, und hat dazu noch weniger Motivation als die Dunkelelfen aus Thor: The Dark Kingdom. Seine Fähigkeiten sind obendrein schwammig definiert, so dass der abschließende Endkampf daraus besteht, dass die Helden so lange auf ihn eindreschen, bis nicht nur ich als Zuschauer sämtlichen Sinn aus meinem Leib geschlagen bekommen habe. Die zwei Neuen unter seinen Gefolgsleuten sind kaum besser: Während Magneto und Angel von Apocalypse stabile Ausrüstungen erhalten, laufen Storm und insbesondere Psylocke wie Dead or Alive Xtreme Beach Volleyball-Flittchen herum und dürfen entweder überheblich-genervt (Storm) oder aufgegeilt-genervt (Psylocke) aus der knapp bemessenen Wäsche schauen. In Kombination mit den teils halbgaren Computereffekten führt dies dazu, dass die sich um Apocalypse drehenden, actionreichen Momente dieses Films klar die schwächsten sind, während sich die "Xavier findet neue Schüler und Magneto ein neues Leben"-Passagen wenigstens erdulden lassen.

Rare Beinahe-Lichtblicke
Wie schon in Zukunft ist Vergangenheit dreht sich eine er einfallsreicheren Actionszenen um Evan Peters alias Quicksilver. Aber im Gegensatz zur von vorne bis hinten durchdachten Sequenz im Vorgänger hat Quicksilvers zweiter großer Moment eine gigantische, nicht aber ironisch aufgezogene Ton-Bild-Schere: Die albern-verspielte Rettungsaktion, die Quicksilver in Apocalypse durchzieht, wird durch das atmosphärisch-dunkle Sweet Dreams untermalt - eine lahme Wahl. Ein weiterer Beinahe-Lichtblick ist Erste Entscheidung-Veteranin Rose Byrne, die mit Engagement, Charme und Freude im ersten Akt die Exposition liefert ... und daraufhin durch den restlichen Film mitgeschleppt wird, ohne irgendetwas zu tun zu haben. Und auch wenn Sheridan, Taylor und Smit-McPhee angesichts des dünnen, mit Plattitüden gespickten Drehbuchs ihren Rollen kaum Individualität verleihen können, so machen sie einen interessierten Eindruck und scheinen ihre Mutantenfiguren auszufüllen. Einer Fortsetzung mit ihnen sehe ich tatsächlich vorsichtig, aber neugierig entgegen.

Fazit: X-Men: Apocalypse ist ein langweiliger, lauter, runtergeleierter Superheldenactioner, der größer und länger ist, als es das maue Skript rechtfertigt.

Donnerstag, 26. Mai 2016

Meine Top 5 der Videospielfilme

Videospielverfilmungen sind wieder in aller Munde. Oder zumindest innerhalb der Filmfancommunity wieder ein heißes Gesprächsthema: Aktuell kämpft Warcraft: The Beginning darum, ein großes Publikum in die Säle zu locken und so das Stigma floppender Videospieladaptionen in alle Winde zu zerstreuen. Zudem ging erst kürzlich der Trailer zu Assasin's Creed online, der (trotz diskutabler Musikuntermalung) durchaus Hoffnungen auf eine ansprechende Action-Agenteuergeschichte mit guten Darstellern macht. Und dann ist da ja noch Angry Birds - Der Film, der zwar nicht den gewaltigen finanziellen Überknaller darstellt, den sich Sony einst bei der Ankündigung gewiss ausgemalt hat, der aber sehr wohl beachtliche Zahlen schreibt.

Grund genug, mir eine ruhige Minute zu nehmen und aus der großen Auswahl an Videospielverfilmungen meine fünf Favoriten zu küren. Dabei habe ich mir als Regel gesetzt, pro Franchise nur einen Film auszuwählen. Und Filme über Videospiele gelten nicht, also leider kein Tron oder Tron: Legacy in denen neue Spiele erschaffen, statt bereits erschienene adaptiert werden. Es müssen schon real existierende Videospiele zu cineastischem Leben erweckt werden. Nun dann ... los geht's!

Platz 5: Angry Birds - Der Film (Regie: Clay Kaytis & Fergal Reilly)

Die Verfilmung der Spiele-App Angry Birds ist schwach. Sie hat so ihre ulkigen Momente, insbesondere in der dank Christoph Maria Herbst mit trockenem Sarkasmus aufwartenden deutschen Synchronfassung. Dennoch gibt es viel Leerlauf zu erdulden, während das Chaosfinale irgendwann seinen Reiz zu sehr in die Länge zieht und der Mittelteil dann und wann seine innere Logik auf Standby schaltet. Dennoch: Die Animation ist solide und manch absurder Gag trifft. Angesichts der bislang noch sehr wackligen Lage, in der sich Videospieladaptionen befinden, reicht das für Rang fünf.

Platz 4: Resident Evil: Retribution (Regie: Paul W.S. Anderson)

Ich sehe vor meinem inneren Auge schon die fauligen Tomaten, die ihr gerade gen Monitor, Tablet oder Smartphone schmeißt. Und während ich mich wundere, wo ihr die so plötzlich her habt, zucke ich mit den Schultern und sage: Anderson mag (von Film zu Film immer mehr) die Vorlage mit Füßen treten. Doch seine stylischen, mit toll choreografierten Kämpfen und (später) mit tollem 3D aufwartenden, kleinen, bescheuerten Zombie-Actioner sind nicht nur total Banane, sondern zumeist auch sehr unterhaltsam. Und somit haben sie dem Großteil der bisherigen Videospielverfilmungen einen bis drei Schritte voraus. Der bislang jüngste und (voraussichtlich/angeblich) vorletzte Teil der Reihe gefällt mir am meisten: Er wirft die Alibihandlung über Bord und konzentriert sich allein auf Look, Sound und Action. Darüber hinaus mag er eine dürftige Umsetzung des Resident Evil-Spielemythos sein, als Videospielfilm trumpft er dennoch auf, denn mit seinen Settingsprüngen imitiert Resident Evil: Retribution wunderbar die Level-Logik vieler Games. Hier ist das Lava-Level. Das Großstadt-Level. Das Vorstadt-Level. Das kühle Sci-Fi-Basis-Level. Das Finale!

Platz 3: Need for Speed (Regie: Scott Waugh)

Nach dem großen Qualitätssprung zwischen Platz fünf und Platz vier folgt hier ein noch deutlicher Hopser: Scott Waughs benzingetränkte Blechschadensause Need for Speed mag an den Kinokassen untergegangen sein und wurde zudem von Kritikern verlacht. Aber ihr habt doch alle keine Ahnung! Der auf haptische, turbulente Autostunts setzende Regisseur nimmt die "Glaubwürdiger als Mario Kart, aber mit nachgiebigerer Physik als Gran Turismo"-Logik des Arcade-Style-Rennfranchises und zelebriert eine altmodische, manchmal pathetische, zumeist aber extrem launige Autorennaction, die zumindest in meinen Augen die gesamte Fast & Furious-Saga Staub schlucken lässt. Darauf erstmal ein Bier, und zwar ein gutes!

Platz 2: Prince of Persia: Der Sand der Zeit (Regie: Mike Newell)

Verdammt noch eins, was habe ich diesen Film lieb! Gewiss, dieser klar unter den Erwartungen laufende, nie die geplante Fortsetzung erhaltende Jerry-Bruckheimer-Abenteuerspaß könnte zwischendurch einen Hauch zügiger voranschreiten und das Finale verlässt sich etwas zu stark auf reines Effektgewitter. Aber mit einem charismatischen, augenzwinkernden Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle, einer kessen Gemma Arterton in der weiblichen Hauptrolle und einem immens amüsanten Alfred Molina als Tagelöhner mit gutem Herzen sowie mit tollen Kampfsequenzen rund um Steve Toussaint hat diese Kreuzung aus Abenteuerromantik-Nostalgie und modernem, ironisch gewürztem Blockbuster-Pomp allerhand zu bieten. Eine tolle Kameraarbeit, ein schwelgerischer Score und kecker Dialogwitz sind ebenfalls Teil dieses unterschätzten Gesamtpakets. Aber nein, die Welt wollte den Film ja unbedingt ignorieren, also gibt es halt kein Sequel. Tzzz ...

Platz 1: Ralph reicht's (Regie: Rich Moore)

"Du mogelst!", wird nun sicher mancher von euch in den Raum brüllen. Aber was kann ich dafür, wenn der beste Film, in dem Videospielschöpfungen zu den handelnden Figuren gehören, ein Disney-Animationsmeisterwerk ist, in dem die zentralen Rollen an neu geschaffene Persönlichkeiten gingen? Ralph reicht's ist eine wunderschöne Geschichte darüber, wie sehr unsere Tätigkeit unsere Position in der Gesellschaft und unser Selbstwertgefühl beeinflussen kann, und obendrein eine äußerst spaßige Buddy-Komödie, in der halt auch diverse Videospiel-Kultfiguren zu sehen sind. Schade, dass Ralph reicht's (gefühlt) nur eine kleine Disney-Fandom-Halbwertszeit hatte. Aber vielleicht wird der solide Hit irgendwann wiederentdeckt und bleibt dann länger im gemeinschaftlichen Gedächtnis haften?

Samstag, 21. Mai 2016

The Hateful Eight


Die Uhr tickt: Auf einer Konferenz im Rahmen des American Film Market kündigte Quentin Tarantino während der Vorbereitungen zu The Hateful Eight an, damit zu liebäugeln, „eine 10-Filme-Filmografie“ zu hinterlassen. Somit befinden wir uns bereits auf dem Zielgeraden von Tarantinos cineastischen Schaffen – denn wie eine Titeleinblendung im Vorspann dieses winterlichen Western-Rachekammerspiels (vor diesem Hintergrund sehr bedrohlich) festhält, ist The Hateful Eight bereits sein achter Film. Ein Silbertreifen am Horizont bleibt allerdings: Tarantino ist bekanntlich ein Künstler, der häufig seine Meinung ändert – ein Blick auf die lange Liste von ihm angekündigter Projekte, die er letztlich hat fallen lassen, genügt als Beweis. Daher dürfen Cineasten hoffen, dass sich der frühere Videothekar noch, ganz typisch für ihn, umentscheidet. Sollte sich Tarantino aber in die Vorstellung verbeißen, nach zehn Kino-Regiearbeiten in den Ruhestand zu gehen, so beginnt der Kultfilmer seinen Endspurt wenigstens mit einem wahrlich denkwürdigen, ungewöhnlichen Kleinod:

Wenige Jahre nach dem US-Bürgerkrieg begibt sich der Kopfgeldjäger Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson) auf den Weg nach Red Rock. Da sein Pferd dem unwirschen Winterwetter nicht gewachsen war, will sich Warren bei einer Kutschfahrt einklinken, die sein legendärer Mitbewerber John Ruth (Kurt Russell) nur für sich und seine Gefangene Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) gebucht hat. Ruth misstraut Warren zunächst, bis er sich an ein gemeinsames Abendessen erinnert, und genehmigt ihm daher, mitzufahren. Unterwegs treffen die Kopfgeldjäger und ihre rotzfreche, unfreiwillige Begleitung auf den früheren Tunichtgut Chris Mannix (Walton Goggins), der behauptet, der neue Sherriff von Red Rock zu sein. Ruth und Warren zweifeln dies an, sehen sich aber gezwungen, ihn ebenfalls mitfahren zu lassen. Da ein Schneesturm aufzieht, endet die Kutschfahrt in „Minnies Miederwarenladen“, wo sie vom wortkargen Mexikaner Bob (Demián Bichir), dem stets amüsierten Briten Oswaldo Mobray (Tim Roth), dem genervt dreinblickenden Cowboy Joe Gage (Michael Madsen) und dem ehemaligen Konföderiertengeneral Sanford Smithers (Bruce Dern) begrüßt werden. Eine explosive Gesellschaft …

Abgesehen von Quentin Tarantino wäre wohl kaum ein heutiger Regisseur auf die Idee gekommen, diese Story nicht in einem normalen, schmalen Bildformat und der Einfachheit halber mit digitalen Kameras zu drehen, sondern im extrabreiten Ultra-Panavision-Format und auf analogem 65mm-Filmmaterial. Letzteres stellt für ein dialoglastiges Kammerspiel eine große Herausforderung dar, der heutzutage viele Filmemacher aus dem Weg gehen: Digitalkameras können sehr viel mehr Material am Stück aufnehmen als analoge Kameras, welche mit schweren Filmrollen bestückt werden müssen und so zwangsweise an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Nicht zuletzt bei Filmen, in denen redselige Figuren ellenlange Monologe von sich geben, bevorzugen daher mehr und mehr Kinoschaffende den digitalen Weg.

Nicht aber der Nostalgiker Quentin Tarantino: Dank spezieller, 600 Meter Film fassender Rollen konnte er bei The Hateful Eight auch im Ultrabreitbildformat lange Szenen von bis zu sieben Minuten Laufzeit am Stück drehen. Dies erforderte zwar noch immer höhere Konzentration und akkuratere Planung als unter Verwendung der unkomplizierteren Digitaltechnik, aber für den Pulp Fiction-Regisseur ist dies ein bezahlbarer Preis, um der klassischen Filmkunst auch heute noch Tribut zu zollen. Zumal Tarantinos Begeisterung für 70mm-Bilder keine alleinige Prinzipienfrage ist: 70mm-Film erlaubt eine vergleichbare Bildschärfe wie Spitzen-Digitalkameras, gibt Tiefe, Farbe und Licht jedoch ganz anders wieder, so dass sich eine mittlerweile ungewohnte (fast schon expressionistische) Ästhetik ergibt.

Gerade, weil zu den wenigen Ultra-Panavision-Veröffentlichungen solche Epen wie Meuterei auf der Bounty und die verwegene Freiluft-Slapstickkomödie Eine total, total verrückte Welt zählen, besteht die Vorstellung, das Breitwandformat von 1:2,76 sei nur bei spektakulären Landschaftsbildern sinnig. Aber The Hateful Eight straft dies als Irrtum ab: Selbstredend weisen die unter freiem Himmel spielenden Szenen die Bildgewalt auf, die aufgrund der verwendeten Technologie zu erwarten steht. Allerdings zeigt das äußerst breite Bildformat in den zahlreichen Momenten, die in geschlossenen Räumen spielen, sogar noch mehr Wirkung.

Ob in einer Kutsche im rustikalen Edel-Look oder später in Minnies Miederwarenladen: Sehr häufig nimmt die von Robert Richardson (JFK – Tatort Dallas) geführte Kamera nicht nur die gerade verbal ausschweifende Figur in den Fokus, sondern gleichzeitig noch einen oder gar mehrere Zuhörer. Dass sogleich mehrere der Darsteller in all der ihnen gebührenden Größe nebeneinander zu sehen sind, erlaubt es dem Zuschauer, nicht nur auf den Sprecher zu achten, sondern auch auf die Reaktionen, die er provoziert. Angesichts dessen, dass The Hateful Eight ein harsche Dramatik und bitterbösen Humor mischendes Kammerspiel über die Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und wahren Absichten und über korrumpierte Moralvorstellungen ist, erweist sich diese inszenatorische Ausrichtung als überaus ergiebig: Wie im Theater lassen sich gleichzeitig mehrere Performances bis ins kleinste Detail begutachten, was die Spannung ungemein erhöht – stets stellt sich die Frage: Wann entlädt sich die in dieser Gruppe anstauende Wut? Gerade aufgrund der Doppelbödigkeit der von Tarantino erdachten Persönlichkeiten lädt dies zudem zu wiederholten Sichtungen dieses Films ein, um beim ständigen Aktion-Reaktion-Wechselspiel nach Nuancen Ausschau zu halten, die einem zuvor entgangen sind.

Des Weiteren gestattet es das ultrabreite Bild dem liebevoll sowie abwechslungsreich ausgestatteten Laden, in dem die titelgebenden acht hasserfüllten Personen unterkommen, zu einem weiteren Charakter dieser Produktion aufzusteigen: Im Hintergrund gibt es stets etwas zu entdecken, und oft wissen diese Randdetails die Stimmung der jeweiligen Szene unterstreicht. Da in einigen Einstellungen (anders als in vielen Filmen mit „normalem“ Format) mehrere Wände auf einmal zu sehen sind, erzeugen Tarantino und Richardson ganz beiläufig das Gefühl des Eingeschlossenseins. Durch die noch obendrauf kommende, lange Laufzeit von The Hateful Eight ist es fast so, als wäre man wirklich stundenlang mit den ikonisch eingekleideten, imposante Manierismen an den Tag legenden, hundsgemeinen Figuren in einem Raum gefangen.


Anders als in Tarantinos Debüt Reservoir Dogs ist dies aber keine kultig-lässige Erfahrung. Denn obwohl es das gesamte Ensemble sichtbar genießt, die einprägsamen Textzeilen aufzusagen und überlebensgroße, getragene Rollen zu spielen, ist The Hateful Eight kein derart vor Coolness und Style triefender Film wie von Tarantino gewohnt. Nicht missverstehen: Tarantino ohne seinen lockeren Style gibt es nicht, im Gegensatz zu den bisherigen Werken des Oscar-Preisträgers suhlt sich dessen Regiearbeit Nummer Acht allerdings in einer durch und durch garstigen Weltsicht. Reservoir Dogs hat augenzwinkernde Dialoge, Pulp Fiction eine comichafte Gelassenheit, Jackie Brown eine relativ klare Moral, Kill Bill illusorische Qualitäten, Death Proof einen triumphalen Powerfrauen-Aspekt und Inglourious Basterds sowie Django Unchained pfuschen als Rachefantasien sogar in der Geschichtsschreibung herum, um für freudig grinsende Gesichter im Kinosaal zu sorgen. The Hateful Eight verfügt ebenfalls über herrlich freche Sprüche und Vulgaritätsspitzen, wie sie Tarantino liebt – unterm Strich bleibt trotzdem die Erkenntnis: Was leben wir nur in einer garstigen Welt!

Frauenhasser, Gewaltfetischisten, Lügner, Rassisten und Gesetzesfreunde, die ihre Heldenhaftigkeit durch abartiges Benehmen untergraben: Bei den Figuren, die Tarantino auf sein Publikum loslässt, war niemals zuvor der Filmtitel so programmatisch wie bei The Hateful Eight. Ähnlich tickende Rollen gab es bei Tarantino schon immer. Doch verzeihliche Qualitäten sind im Figurenrepertorie dieses winterlich-harschen Westerns rar gesät – anders als bislang gewohnt. Daher kommt es nicht all zu überraschend, dass nach den wirtschaftlichen Höhenflügen der beiden vorhergegangenen Tarantino-Filme in den USA wieder kleinere Einnahmen zu Buche stehen. Sympathieträger sucht man vergebens – wer Identifikationsfiguren benötigt, um mitfiebern zu können, wird von The Hateful Eight sicherlich enttäuscht sein. Die magnetischen Darbietungen der Schauspielrunde (vor allem Samuel L. Jackson, Jennifer Jason Leigh, Kurt Russell, Tim Roth und Walton Goggins stechen hervor) und die berechtigt-selbstverliebten Dialoge sollten alle anderen Filmliebhaber unterdessen in ihren Bann ziehen.

Hinzu kommen eine Musikzusammenstellung, die wie die Faust aufs Auge passt (inklusive neu für den Film geschriebener, psychotischer Melodien aus der Feder von Komponistenlegende Ennio Morricone) und wunderbar fiese Gewaltspitzen, die diesem Mammut von einem Westerndrama zusätzlich Energie verleihen. Es mag nicht Tarantinos größer Hit sein – dennoch werden gewiss noch Generationen von Filmliebhabern diese gemeine, auf derber Weise unterhaltsame, raffinierte Studie charakterlicher Untiefen rauf und runter analysieren. Und das völlig zu recht, denn The Hateful Eight ist ebenso tiefgreifend und kess, wie sein Bildformat altmodisch und breit ist.

Fazit: The Hateful Eight ist ein waschechter Quentin Tarantino – nur besonders lang und besonders harsch: Kunstvolle, stilisierte Dialoge, überlebensgroße Figuren und verquere, durchdachte Beobachtungen über die menschliche Moral. Das ist ebenso kultig wie böse!

Meine Lieblingsfilme 2015 (Teil IV)

Was lange währt, wird endlich ... gut? Nun, das müsst ihr entscheiden, ob sich das lange Warten seit dem dritten Teil dieser Hitliste gelohnt hat. Es waren sehr arbeitsreiche und turbulente Wochen. Und etwas, für das ich so viel Passion übrig habe wie für die Präsentation geliebter Filme, wollte ich einfach nicht zwischen Tür und Angel, Überarbeitung und rarer Entspannung reinquetschen. Also lieber sagen: "Wenn ich eh schon spät dran bin, dann bringe ich es wenigstens so zu Ende, wie ich es angebracht finde." Ob die Auswahl an Filmen angebracht ist, könnt ihr diskutieren, müsst ihr aber nicht. Denn ich spreche hier aus vollem Herzen, und somit sind meine Top 15 völlig angebracht: Wer kann besser entscheiden, welche 15 Filme ich am meisten mag, und welche somit in dieses Ranking gehören, als ich selber?

Natürlich bin ich trotzdem gespannt, inwiefern ihr meine Hitliste nachvollziehen könnt, wo sie sich mit euren Countdowns deckt und was euch besonders überrascht. Bevor das Warten aber endlich ein Ende hat, zögere ich die Vorstellung meiner Top 15 jedoch noch ein letztes Mal hinaus. Mit weiteren Ehrennennungen: Ridley Scotts Der Marsianer - Rettet Mark Watney hat mich im Kino sehr gut unterhalten (und so ein Grinsen ins Gesicht gezaubert, dass mich die "Die Globes spinnen, den Film als Komödie zu sehen!"-Debatte mal am verlängerten Rücken küssen kann). Das 3D ist gut, die Songauswahl pointiert, Matt Damon spielt engagiert und Ridley Scotts Inszenierung ist rund. Aber so gewitzt das aus der spannenden Survival/Rettungsmission-Story entwachsende Dialogbuch sein mag: Schon beim ersten Rewatch hat mich der Film deutlich weniger gepackt und ja, die dramatischeren Passagen treffen mich so stark nicht, weshalb Der Marsianer knapp den Einzug ins Ranking versäumt hat. Mistress America von Noah Baumbach ist ein peppiges Vehikel für Greta Gerwig und Lola Kirke, das auf quirlige Weise Zeitgeist-Porträt mit Streitgespräch-Farce vermengt, nur blieb es nicht so intensiv in meiner Erinnerung haften wie die Filme aus dieser vierteiligen Jahresbestenliste. Mr. Holmes ist eine kluge, durchaus spannende Auseinandersetzung mit dem Älterwerden und der Beziehung zwischen Erinnerung und Fiktion, und Die Highligen drei Könige ... macht trotz mancher Längen und manchmal fragwürdiger Schrulligkeiten einfach verdammt viel Spaß.

Doch die Top 15, die gefallen mir nochmal um ein Vielfaches besser. Hier sind sie ...

Platz 15: Ich und Earl und das Mädchen (Regie: Alfonso Gomez-Rejon)

Herzerwärmend, selbstironisch, Genrekonventionen aushebelnd und voller liebevoller Filmreferenzen. Und bei aller Überzeichnung sind die hier agierenden Figuren dennoch fähig, authentische, charmante Dialoge von sich zu geben: Die Romanadaption Ich und Earl und das Mädchen ist ein liebevoller, tragikomischer Indie-Genuss, der dezent nerdige Wohlfühlstunden bietet und in eine etwas verschrobenere, dennoch dramatische Version unserer schnöden Wirklichkeit entführt.

Platz 14: Steve Jobs (Regie: Danny Boyle)

Ein Mann. Drei Abschnitte in seinem Schaffen. Drei Kameras, drei Musikrichtungen, drei Bild- und Klangästhetiken. Der mitunter sehr hibbelige Regisseur Danny Boyle nimmt Aaron Sorkins Schnellfeuerdialoge und formt aus ihnen einen stilistisch überbordenden Film, der seinen Style mit Substanz unterfüttert. Michael Fassbender gibt eine intensive Performance als Jobs, der Innovator, Jobs, der Nachtragende und Jobs, der Träumer, sowie als Jobs, der Problemvater ab. Seth Rogen, Michael Stuhlbarg, Kate Winslet, ach, einfach der gesamte restliche Cast überzeugt ebenfalls rundum. Und dass Daniel Pemberton für seinen Score keine Oscar-Nominierung erhielt, ist richtig, richtig bedauerlich.

Platz 13: Whiplash (Regie: Damien Chazelle)


Jazz ist Krieg. Und Musik ist mehr Leiden als Leidenschaft: Damien Chazelle nimmt in Whiplash den filmischen Mythos des exzentrischen, doch wohlmeinenden Mentors und wirft ihn für eine ungewöhnlich nervenaufreibende Geschichte über Bord, in der J. K. Simmons auf meisterlichem Niveau herumbrüllen und Schüler verbal missbrauchen darf, während Miles Teller als talentierter Drummer völlig von seiner harten Ausbildung verschluckt wird. Mit gemeinem Witz, dramatisch-menschlichen Momenten, fetziger Musik und einem furios geschnittenen Finale ist Whiplash eine musikalische Tour de Force, die ihresgleichen sucht.

Platz 12: Mad Max: Fury Road (Regie: George Miller)

Wild. Wahnwitzig. Rasant. Rau. Verrückt. Stets vorwärtstreibend: George Millers vierter Mad Max-Film ist pures Actionkino, mit waghalsigen Stunts, explosiven Ideen, einer bombastischen Musikuntermalung, extrastylischen Bildern und einem dünnen Plot, der die dynamischen Bewegungen nur äußerst selten ausbremst. Das, was an offensichtlicher Handlung fehlt, kompensiert der durchgeknallte Australier mit Bände sprechender Ästhetik. Ob in den Kostümen, den Frisuren, den Requisiten oder den Schauplätzen. Hinzu kommen eine coole, taffe Charlize Theron und eine verdammt noch mal geile, Feuer speiende E-Gitarre! Ein einmaliger, regelrechter, doch eigenwillig denkender, fiebriger Action-Trip!

Platz 11: Heil (Regie: Dietrich Brüggemann)

Der fiebrige, verrückte, laute, schrille Cousin der kommerziell ungleich erfolgreicheren Buchverfilmung Er ist wieder da: Der in seinen vorhergegangenen Filmen so gesittet und geerdet vorgehende Regisseur Dietrich Brüggemann leiht sich einige Seiten aus Christoph Schlingensiefs Lehrbuch und zelebriert seine "Verflucht nochmal, wir dürfen die Rechte in Deutschland nicht aus den Augen lassen, und, gute Güte, wir müssen uns alle an die eigene Nase fassen, wenn wir eine offenere Gesellschaft wollen"-Botschaft als abgedrehte, gewollt überfrachtete (Pseudo-Trash-)Komödie. Dick überzeichnete Karikaturen rennen, stolpern und irren hier quer durch die Bundesrepublik, wahlweise, um die Bundesrepublik wieder in das (und nun alle schön das "R"-Rollen und zudem aus vollem Halse krächzen) rrrächtä Licht tzu rrrückän, oder um genau dies zu verhindern. Doch irgendwo hinter dieser hysterisch-manisch-zotig-ulkig-grotesken Oberfläche wartet eine treffgenaue Beobachtung, welche Konstruktion aus kleinen Zahnrädern den politischen Rechtsruck überhaupt ermöglicht. Vom nur nach schockierender Authentizität und rätselhaften Botschaften schielenden Kunstbetrieb hin zu den als Promoshows dienenden Talksendungen und der mitunter sehr hibbeligen Antifa und Polizisten, die eine sehr eigenwillige Prioritätenfolge haben. Wunderbar bescheuert, grell, einfallsreich, mutig und bei all den launigen Sketchen, die hier in die Handlung gewoben werden, trotzdem nicht auf den Kopf gefallen. Geiles Ding.

Platz 10: Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) (Regie: Alejandro González Iñárritu)

Willkommen im Verstand eines Schauspielers. Eines ehemaligen Superhelden-Megablockbuster-Darstellers, der nun auf den Brettern der Theaterwelt seine künstlerische Integrität retten will. Oder beweisen. Oder vortäuschen. Oder sich von seiner wahren Integrität ablenken will? Michael Keaton weiß jedenfalls, sämtliche potentielle Dimensionen dieses tragikomisch-satirischen Showbiz-Psychogramms zur Schau zu stellen. Verstärkt durch die hypnotische, mit ultralangen Plansequenzen punktende Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki und einer lässigen, teils aggressiven Drum-Untermalung durch Antonio Sánchez raubt uns Alejandro González Iñárritu jegliches Gefühl dafür, was Analogie, was filmische Realität und was Vorstellung der handelnden Figuren ist - und erzeugt so eine einzigartige Erzählung über Hybris. Hybris unter Schauspielern. Unter Regisseuren. Unter Kritikern. Obendrein gibt es noch Emma Stone als leicht psychotische Star-Tochter und Edward Norton als ... ungeheuerlich komische Edward-Norton-Kopie. Aber was versuche ich überhaupt, diesen mehrfachen Oscar-Gewinner zu erläutern? Ein Film ist ein Film, und nicht, was ich über ihn schreibe!

Platz 9: A Most Violent Year (Regie: J. C. Chandor)

Wobei passionierte Hinweise auf nicht genügend geachtete Filme dennoch willkommen sind, also erkläre ich halt, welches Meisterwerk ein Großteil der Kinowelt versäumt hat, als er A Most Violent Year mit der kalten Schulter begrüßt hat: J. C. Chandor erschuf ein neues, mit stiller Suspense gestärktes Drama, wie es einst von Sidney Lumet gedreht worden wäre. Oscar Isaac trumpft als Geschäftsmann im Ölbusiness auf, der sich viel darauf einbildet, vollkommen fair und ohne jegliche Gaunereien den Weg nach ganz oben beschritten zu haben. Okay, abgesehen vom Frisieren seiner Steuer und manch überaus ausgefuchster, wenngleich legaler Geschäftstaktikten. Angesichts seiner teils sehr kriminellen Mitbewerber dennoch eine erstaunliche Leistung, die nun aber auf dem Spiel steht: Ausgerechnet er ist nun im Visier des neuen, ambitionierten Staatsanwalts in New York, und genau jetzt, wo er expandieren will, schrecken seine finanziellen Unterstützer zurück, während kurioserweise nur seine Öltanker überfallen werden. Chandor bleibt bei dieser moralisch komplexen Geschichte (hat Isaacs wortkarger, viel mit seinen Augen ausdrückender Protagonist diese Pechsträhne verdient, wird er seine moralischen Bedenken aufgeben, und wenn ja, wäre das gerecht?) auf dem Boden, verzichtet darauf, einen Scorsese-Gangsterstück zu inszenieren. Die spannendste Sequenz ist eine raffiniert gefilmte Verfolgungsjagd zu Fuß sowie ein Streitgespräch mit Jessica Chastain, die Isaacs Leinwandfrau mimt, die aus einer Gangsterfamilie stammt. Kühl, klug, klasse gefilmt.

Platz 8: Magic Mike XXL (Regie: Gregory Jacobs)

Nach dem (zumindest in meinen Augen) doppelzüngigen, sexnegativen ersten Teil ("Stripper ist ein Drecksjob, alle drogenabhängig und verlogen, fang damit gar nicht erst an ... Oh, guck mal, haben wir hier nicht 'ne geile Tanzsequenz?!") habe ich praktisch gar nichts von der Fortsetzung erwartet. Und prompt wurde sie die wohl größte Überraschung des Jahres 2015: Statt des außerhalb der Tanzszenen steifen Channing Tatum gibt es hier Charmebolzen-Tatum zu sehen, der den Titelhelden als zwar nicht gerade hochintelligenten, wohl aber aufgeweckten, einfühlsamen Beau mit dezent geknicktem Ego anlegt. Wo im Erstling die Chemie zu seinem Co-Star Alex Pettyfer verpestet war, regiert hier ein launiges Zusammenspiel engagierter, gut aufgelegter Typen - insbesondere Joe Manganiello besticht neben Tatum mit einer verschmitzten Performance. Und die ach-so-betont-dramatische Handlung, der durch die geifernde Inszenierung der Standard-Stripsequenzen ein Beinchen gestellt wurde, wird gegen einen amüsanten Road-Trip eingetauscht. Bloß, dass es dieser ganz heimlich faustdick hinter den Ohren hat und in den Dialogen und Stripszenen darüber referiert, wie auch im Erotikbusiness Selbstverwirklichung möglich ist. Sowie eine größere, weniger abgedroschene Zufriedenstellung der Kund(inn)en. Gewürzt mit einer saukomischen, ironischen Musikauswahl (Oh ho ... Like an oreo ...), einer umwerfend peppigen Jada Pinkett Smith, einer erstaunlich normalen, charmanten Amber Heard und richtig, richtig originellen Tanzeinlagen ergibt dies ein wirklich scharfes Paket von einem Film. Hut ab!

Platz 7: A World Beyond (Regie: Brad Bird)

Es gibt Filme, die werden Kritiker-Flops, und ich kann mir erklären, weshalb sie verrissen werden, selbst wenn sie in meinen Augen große Qualitäten aufzuweisen haben. Heil ist solch ein Fall. Bei A World Beyond derweil kann ich mir noch so viele negative Kritiken durchlesen, ich kann schlicht nicht verstehen, was da meine Kolleginnen und Kollegen, die diesen Film brutal abstrafen, bitte gesehen haben wollen. Ich kann es nachvollziehen, wenn man dieses nostalgische Abenteuer, das mit seiner schwelgerischen Weltsicht und seinen gewitzten Kinderfiguren in den 80ern noch von Steven Spielberg gedreht worden wäre, nicht liebt. Aber es als reaktionär, spießig oder lahm zu bezeichnen? Naja, jedem das Seine. Ich finde Brad Birds farbenfrohe Science-Fiction-Geschichte mit ihrem schmissigen Dialogwitz, ihren sympathischen Hauptfiguren und seinem 50er-Jahre-Futurismus-Look sowie seiner eingängigen, bezaubernden Musik aus der Feder Michael Giacchinos richtig toll. Ja, kleinere Längen haben sich eingeschlichen, aber wenn Raffey Cassidy als Athena verbal und non-verbal austeilt, Britt Robertson als Casey Newton immer wieder munter nach vorne guckt und George Clooney wieder einmal den liebenswerten Grummel-Clooney auspackt, dann habe ich großen, großen Spaß. Und, ja, die Disney-Referenzen helfen mir, das Ganze noch mehr zu genießen. Meckert ihr nur!

Platz 6: Ex_Machina (Regie: Alex Garland)

Sunshine-Drehbuchautor Alex Garland legt mit seinem Regiedebüt ein ungeheuerlich starkes Brett hin: Ex_Machina ist einer dieser Filme, die sich auf zahlreiche Weisen beschreiben lassen, und sie alle werden ihm gerecht. Es ist ein Low-Sci-Fi-Kammerspielthriller über den Angestellten eines exzentrischen IT- und Robotik-Genies, das eine Künstliche Intelligenz entwickelt hat und diese überprüfen lassen will. Durch das beklemmende Setting, das unberechenbare Handeln des von Oscar Isaac gespielten Erfinders Nathan und die kühle, mal einschüchternde, mal eingeschüchterte Art der von Alicia Vikander beeindruckend gespielten Ava schürt Garland eine dichte Atmosphäre und erschafft eine dichte Spannung, so dass es schwer fällt, nicht um Domhnall Gleesons Caleb zu bangen. Doch Ex_Machina ist mehr als nur ein Spannungsfilm. Es ist auch eine Auseinandersetzung damit, inwiefern unsere alltägliche Ethik auf Künstliche Intelligenzen zutrifft, womit, je nach Sichtweise, auch die mit erstaunlichen Spezialeffekten zum Leben erweckte Ava zur Triebfeder der mitleidenden Anspannung wird. Und neben all dem ist Ex_Machina vor allem eine tiefgreifende Analogie über Genderdenken sowie die Stolperfallen unserer patriarchalen Gesellschaft. Oder habt ihr geglaubt, dass es ein Zufall ist, dass hier ein chauvinitisches, sich aufspielendes Männlein sowie ein überbetont freundlich-einfühlsamer Bube glauben, diejenigen zu sein, die ein mit gemeinhin als feminin aufgefassten Merkmalen ausgestattetes Wesen definieren können, dürfen und müssen?

Platz 5: Into the Woods (Regie: Rob Marshall)

Ein ungewöhnlicher, schwieriger, komplexer Film. Nicht, dass die Handlung besonders kompliziert sei: Ein Bäcker und seine Frau wollen endlich ein Kind haben, weshalb sie versuchen, den Fluch einer Hexe aufzuheben. Währenddessen kreuzen sie den Weg diverser bekannter Märchenfiguren ... und blicken hinter die tradierte Heile-Welt-Fassade. Doch als Gesamtwerk ist Into the Woods schwer einzuordnen. Ist er eine disneyhafte Entschärfung der Vorlage (der böse Humor wird klar minimiert) oder ist er eine für dieses Studio rare Dramatisierung (der böse Humor wird klar minimiert). Ist es Marshalls bühnenhafteste Musicaladaption (die Kamera ist ruhiger als vom Chicago-Regisseur gewohnt, der Schnitt nicht so musikvideohaft) oder ist es eine sehr filmische Übersetzung des Sondheim-Musicals (der sehr theateraffine Aufbau des Stücks wird stark gebrochen)? So oder so ist es ein Film, der genau meinen Nerv trifft. Komplexe, facettenreiche Songs. Ein großartiger Cast, unter anderem bestehend aus einer liebenswürdigen Emily Blunt, einer humorvollen Anna Kendrick, einer wunderbar rotzig-goldigen Lilla Crawford, einem herrlich schmierigen Chris Pine, der unfassbaren Meryl Streep und einem kuriosen Johnny Depp als Pädo-Wolf. Scharfzüngige Dialoge, ein märchenhaft-grimmer Look und eine Story, die mit emotionalen Höhen und Tiefen aufwartet. Ein sperriger Film, bei dem ich genau verstehe, weshalb manche Filmfreunde nicht warm mit ihm werden. Ein ungewöhnlicher Film, von dem ich denke, dass man ihn wenigstens respektieren sollte. Und ein Gesamtpaket, das wie auf mich zugeschnitten ist!

Platz 4: Avengers: Age of Ultron (Regie: Joss Whedon)

Wilder als Marvel`s The Avengers. Durchgeknallter. Vollgestopfter. Dramatischer. Ungewöhnlicher. Und dennoch auch lustiger. Age of Ultron übertrumpft den ersten Teil in ziemlich allen Belangen, abgesehen von der Zugänglichkeit. Age of Ultron kommt schneller in Gang, hat aufregendere Schauplätze und da die Avengers bereits eine eingespielte Gemeinschaft sind, mit kleinen Kabbeleien und mit durch gemeinsame Erfahrungen gestützten Sympathien, gibt es auch allen "Was haben wir nur getan?!"-Bedrohungen zum Trotz mehr genüsslich-amüsanten Dialogspaß. Es ist ein wenig albern, das Gefühl zu haben, einen Milliarden-Dollar-Hit verteidigen zu müssen, aber: Der Backlash bezüglich der Black-Widow-Szenen lässt mich ratlos zurück. Nein, es ist nicht sexistisch, wenn "Die Frau nun natürlich verknallt ist". Sexistisch ist Ungleichbehandlung, und nachdem alle anderen Avengers ein romantisches Leben erhalten haben, wieso darf nicht auch Natasha darüber nachdenken, ob sie vielleicht mehr für einen Freund empfindet? Und wieso darf ein Superheldenblockbuster nicht genutzt werden, um zu sagen, dass Frauen selber die Entscheidungsgewalt über ihren Körper haben sollten? Naja, was soll's. Ultron rockt, einer der lustigsten Schurken im Marvel-Universum und endlich einer mit Persönlichkeit. Außerdem: Die Party-Szene. Die allein ist schon spitze!

Platz 3: Baymax – Riesiges Robowabohu (Regie: Don Hall & Chris Williams)

2013 hat Die Eiskönigin - Völlig unverfroren nur knapp meine Flopliste verpasst. Lass jetzt los ist einfach ein zu guter Song, um zuzulassen, dass "sein" Film in der Flopliste landet. Selbst wenn alles um Elsas Powersong herum diese Abstrafe verdient gehabt hätte. Baymax - Riesiges Robowabohu hat 2015 zum die Disney-Ehre in meiner Welt verteidigt! Don Hall und Chris Williams entführen uns in diesem animierten Superheldenfilm über Freundschaft und Trauerbewältigung in eine wunderschöne, aufregende, farbenfrohe Großstadtwelt - und formen mit dem Gesundheitspflegeroboter Baymax eine neue Disney-Figur, die direkt so tief in mein Herz watschelte, dass sie nunmehr zu meinen liebsten Disney-Schöpfungen zählt. Aber ich liebe nicht nur den gutherzigen, umsorgenden Baymax und die großartige Stadt San Fransokyo, sondern auch die kreativen Actionszenen, die pointierten Dialoge, den knuffigen Slapstick sowie, vor allem, diese so glaubwürdige, herzliche Art, mit der Hall & Williams das Thema Tod (und vor allem die Wochen und Monate nach dem Ableben eines geliebten Menschen) anpacken. Einfach ein richtig, richtig schöner Film!

Platz 2: Star Wars – Das Erwachen der Macht (J. J. Abrams)

Rey! Poe! Finn! BB-8! Kylo Ren! Der neue Star Wars-Film nimmt ein uns bereits bekanntes Universum und bevölkert es mit neuen, aufregenden Figuren, deren Interaktion einen großen Sehgenuss darstellt und den Actionsequenzen eine emotionale Tragweite gibt. Bildhübsche Kameraarbeit, ikonische Soundgestaltung, einfallsreiche Szenenübergänge und obendrein Harrison Fords engagierteste Leinwandleistung seit, was, zehn, fünfzehn Jahren? John Williams' Score könnte die neuen Themen etwas prominenter einsetzen, und R2-D2 hat hier was von einem Deus-Ex-Machina-Droiden, dafür hat J.J. Abrams' Franchiseneustart einen gewaltigen Gänsehautschluss sowie Schauspielleistungen, die weit über dem Genrestandard schweben. Nun bleibt nur die Frage: Wie geht es weiter?

Platz 1: Alles steht Kopf (Regie: Pete Docter)

Ich habe gelacht. Ich habe geweint. Ich habe darüber geschmunzelt, wie oft ich gerührt war. Ich habe Freudentränen vergossen. Ich habe über den visuellen Ideenreichtum gestaunt. Ich habe innerlich gejubelt, wie wunderschön, eingängig und emotional komplex Michael Giacchinos Musik ist. Ich habe mir gewünscht, den perfekt gestalteten, so aussagekräftigen Emotionen in Rileys Kopf noch stundenlang zuschauen zu können. Ich wollte ihn mir sofort noch einmal anschauen. Und noch einmal. Und noch einmal. Pixar, mal besonders introspektiv. Und urkomisch. Und aufwühlend. Und dabei noch auf gestalterischer Ebene so schlüssig und stimmig. Ein Meilenstein der Trickkunst!

Das war es nun also! Auf dass die kommenden Monate für mich entspannter werden und uns allen noch jede Menge Spitzenfilme bescheren. Und auf dass meine Topliste 2016 noch vor den Oscars 2017 fertig wird!

Montag, 16. Mai 2016

Die Wahlkämpferin



Es gibt Regisseure wie Stanley Kubrick, Quentin Tarantino oder, ja, auch Michael Bay: Regisseure mit einer klar erkennbaren Handschrift, die sich zu einer eigenen Marke aufgeschwungen haben. Dann gibt es Regisseure wie John Lee Hancock, Jon Turteltaub oder Francis Lawrence, die ihr Handwerk verstehen, aber in keinem Genre zu Hause sind und stilistisch unterschiedliche Filme abliefern. Und dann gibt es diese Wundertüten wie David Gordon Green, bei denen der Zuschauer nie weiß, woran er ist. Green etwa verwirklicht einfühlsame, mutige Filme wie das Jugenddrama George Washington und geachtete Rachedramen wie Undertow – Im Sog der Rache oder Joe – Die Rache ist sein, aber auch miese, infantile Komödien wie Your Highness – Schwerter, Joints und scharfe Bräute oder Bad Sitter.

Mit Die Wahlkämpferin präsentiert sich Green schon wieder von einer neuen Seite: Er vermengt Elemente eines Politdramas mit flottem, teils überzogenem Humor und einer sehr vorsichtig agierenden Satire. Somit liefert Green, dessen Arbeiten zumeist „Top oder Flop“ sind, ausnahmsweise auch eine Regiearbeit ab, auf die viel eher das Fazit „in Ordnung“ zutrifft. Was durchaus schade ist, immerhin diente als grobe Inspiration zu dieser Polit-Dramödie die gefeierte Dokumentation Our Brand is Crisis.

Wie besagte Dokumentation, deren Titel Die Wahlkämpferin im englischsprachigen Original 1:1 übernimmt, handelt die George-Clooney-Produktion davon, das eine US-amerikanische Agentur für politische Beratung angeheuert wird, um einem der Kandidaten in der bolivianischen Präsidentschaftswahl unter die Arme zu greifen. In der Realität des Films ist es der frühere bolivianische Präsident Pedro Castillo (Joaquim de Almeida), der wieder ins Amt gewählt werden möchte und sich daher teure Hilfe erkauft. Da der uncharismatische, gestrenge Politiker in den Umfragen weit hinterherhinkt und generell als unpopulär gilt, brauchen aber selbst die US-Profis (Ann Dowd und Anthony Mackie in wenig einprägsamen Rollen) Unterstützung. Also holen sie die legendäre Jane Bodine (Sandra Bullock) ins Boot, die in der Branche Legendenstatus innehält, sich nach einer tragisch außer Kontrolle geratenen Kampagne jedoch zurückgezogen hat. Gemeinsam mit ihrer wandelnden Geheimwaffe LeBlanc (eiskalt und faszinierend: Zoe Kazan) mischt Bodine den Wahlkampf ordentlich auf – erhält aber schwere Konkurrenz in Form ihres Erzrivalen Pat Candy (Billy Bob Thornton), der den vielversprechendsten Kandidaten berät. Doch zum Glück lernt Bodine den Castillo-Unterstützer Eduardo (Reynaldo Pacheco) kennen, dessen Eifer die Wahlkampfarbeit erleichtert …

Aller Anfang ist nicht nur für die unberechenbare, energievolle und chaotische Jane Bodine schwer, die zunächst keinen Ansatz findet, wie sie den stoischen Castillo dem bolivianischen Volk schmackhaft machen kann. Auch inhaltlich und qualitativ ist bei Die Wahlkämpferin aller Anfang schwer: In Bolivien angelangt, verbringt Bodine die ersten Filmminuten damit, in Eimer zu reihern, weil sie die dünne Luft im südamerikanischen Land nicht verträgt. Wenn sie sich nicht gerade übergibt, mampft sie Kartoffelchips oder hängt an einer Sauerstoffflasche. Weder sind diese Gageinlagen pointiert geschrieben, noch vermag es Green, sie gewitzt zu inszenieren. Sobald Bodine allerdings einen Geistesblitz hat und beschließt, Castillo im Wahlkampf als Fels in der Brandung darzustellen, kommt der Film endlich ins Rollen – auch daher, weil Sandra Bullock in diesem Moment von der Leine gelassen wird.

Dass sich Bodine schlagartig an die bolivianische Luft gewöhnt, mag unplausibel sein, diese kleine Logikfrage ist allerdings ein bezahlbarer Preis dafür, dass Bullock eine Performance zum Besten gibt, die auch einem deutlich stärkeren Film hervorragend zu Gesicht stehen würde: Die Oscar-Preisträgerin entwickelt als belesene, sarkastische Polit- und Marketingexpertin eine bemerkenswerte Sogkraft und vermag es auch, selbst die teils sehr pathetisch geschriebenen Motivationsreden Bodines überzeugend rüber zu bringen.

Wenn durch Bodines Einfälle und ihrer Energie der Wahlkampf Castillos in bester „Vom Versager zum Spitzenreiter“-Erfolgsmanier vorangetrieben wird, gewinnt Die Wahlkämpferin eine reizvolle Doppelbödigkeit: Green inszeniert die Handlung mit der Schmissigkeit einer Sportkomödie in der Tradition von Mighty Ducks und ähnlichen Filmen, er zelebriert, wie ein vermeintlich verlorener Kandidat in den Umfragen nach oben schnellt. Gleichwohl kehrt das Drehbuch von Peter Straughan nie unter den Teppich, dass Castillo nur durch hochtrabende Werbetricks an Zugkraft gewinnt. Selbst wenn Die Wahlkämpferin erst gen Schluss der harschen Wirklichkeit solcher Methoden Aufmerksamkeit widmet, so wird durchweg klar, dass sich der Zuschauer (wie auch das fiktionalisierte Volk Boliviens) auf Manipulation einlässt, um jemanden feiern zu können.

Während Joaquim de Almeida eine solide Arbeit als kantiger Politiker leistet, und Bullock so einige Steilvorlagen für ironische Spitzen liefert, stellt Billy Bob Thornton als Bodines Erzrivale einen schwerwiegenden Schwachpunkt dar: Thornton agiert paradoxerweise gleichzeitig sehr spröde und vollkommen übertrieben. Während die Monologe seiner Rolle nicht zünden, geht Green in den Montagesequenzen auf, die er mit launigem Sound und dezenter Absurdität versieht. Die Kurve zurück zur Dramatik gelingt ihm im Anschluss daran aber nicht immer auf Anhieb, genauso wie die ernste Schlussnote nicht genügend nachhallt, um der erarbeiteten Fallhöhe gerecht zu werden. Ein unterhaltsamer, wenn auch qualitativ unsteter Film mit milder Politsatire ist dem undurchschaubaren Regisseur trotzdem gelungen. Auch wenn sich dem geneigten Weather Man-Fan die Frage aufdrängt: Was hätte jemand wie Gore Verbinski aus diesem Stoff rausholen können?

Fazit: Eine starke Sandra Bullock, einige pointierte Momente und eine Story, der es letzten Endes an Pepp mangelt: Die Wahlkämpferin ist ein ansehnliches Polit-Satiredrama, das seinem Potential hinterherhinkt.

Mittwoch, 11. Mai 2016

Anomalisa


Verschroben. Intellektuell. Einfühlsam. Mit diesen drei Worten lässt sich Drehbuchautor Charlie Kaufman vortrefflich umschreiben. Seine Filme, zu denen Being John Malkovich und Vergiss mein nicht! zählen, sind surrealistisch angehaucht, bezaubern mit Originalität und erzählen auf bittersüßer Weise von Moral, Identität sowie von der (vergeblichen?) Suche nach Erfüllung. Obwohl die auf seinen Drehbüchern basierenden Filme wiederholt Preise einheimsen und sein Regiedebüt Synecdoche, New York von Kritikerpapst Roger Ebert zum besten Film der ersten Dekade im neuen Jahrtausend erkoren wurde, sind neue Kaufmann-Arbeiten leider rar gesät. So plante Kaufmann Anfang des Jahrzehnts ein satirisches Musical namens Frank or Francis, das sich mit der Subkultur wütender Internetkritiken befasst, allerdings brach dem Oscar-Preisträger die Finanzierung des Projekts unter den Füßen weg.

Dass Anomalisa dagegen den Weg in die Lichtspielhäuser erfolgreich beschritten hat, verdankt die Filmwelt dem Comedy-Autor und Community-Nebendarsteller Dino Stamatopoulos: Stamatopoulos, mit dem Kaufman Mitte der 90er an der kontroversen Sketchcomedy The Dana Carvey Show arbeitete, schlug vor, aus Kaufmans Bühnenskript Anomalisa einen Stop-Motion-Film zu machen. Anfangs zögerte der Adaption-Autor, weil er empfand, dass das Material nur in Form einer Lesung funktioniere – letztlich fand sich aber sehr wohl ein kinoreifer Ansatz. Die Kosten von acht Millionen Dollar wurden derweil unter anderem über einen Kickstarter-Aufruf finanziert, um eine Frank or Francis-artige Schlappe zu vermeiden und sicherzustellen, dass die Integrität des Film gewahrt wird.

Heraus kam ein Juwel von einem Film – eine wunderschöne Anomalie, nicht nur im Animationsbereich, sondern im Filmmedium generell. Dabei handelt Anomalisa (welch Ironie!) von einem vollkommen durchschnittlichen Mann, einer sympathischen, doch schüchternen Frau, für die der Begriff „Mauerblümchen“ geprägt wurde, sowie von all den Belanglosigkeiten, die unser banales Leben ausmachen …

Michael Stone, Motivationssprecher und Autor eines erfolgreichen Ratgebers für Kundendienstleister, reist aufgrund einer wichtigen Präsentation nach Cincinnati. Eingelullt von der Austauschbarkeit seines Reiseziels und den inhaltslosen Gesprächen, in die er verwickelt wird, kommt Michael nicht umher, seine Gedanken um eine frühere Beziehung drehen zu lassen. Der unglücklich verheiratete Vater war einst mit einer Frau aus Cincinnati zusammen, und musst ständig darüber nachdenken, wie es ihr wohl geht. Ablenkung findet Michael im vorzeigbaren, aber austauschbaren Fregoli Hotel keine – bis er im Meer aus nervigen, ewig gleichen Stimmen die zarten Klänge einer jungen Frau vernimmt …

Im Gegensatz zu Coraline und vielen anderen Stop-Motion-Filmen der vergangenen Jahre, ist Anomalisa nicht in einer stark stilisierten Ästhetik gehalten. Während Die Boxtrolls oder Nightmare before Christmas mit ihren überzeichneten Gestaltung eine andere Welt kreieren, erschaffen die Regisseure Kaufman und Duke Johnson mit ihrer Crew eine verkleinerte, eintönigere Kopie unserer Wirklichkeit. Die mittels 3D-Drucker erstellten Puppen, die sich durch das spröde eingerichtete Fregoli bewegen, stellen keine karikaturenhaften Cartoon-Figuren dar, sondern erstaunlich echt wirkende Miniatur-Menschen.

Gleichwohl vertuschen Kaufman und Johnson nicht, dass es sich bei ihrem berührenden, detailreichen Werk um einen Stop-Motion-Trickfilm handelt: Nahaufnahmen der Gesichter und Hände von Michael und seiner Gelegenheitsbekanntschaft Lisa offenbaren, dass die „Haut“ dieser Figuren eine etwas andere Textur hat als echte, menschliche Haut. Zudem sind immer wieder sind die Gelenke der Puppen und weitere Merkmale ihrer Künstlichkeit zu erkennen – im Zusammenspiel mit der nüchternen, lebensnahen Ästhetik von Anomalisa erlaubt dies ein komplexes Gefühl: Michaels bittersüßer Arbeitstrip ist familiär und befremdlich zugleich. Und dies längst nicht nur auf visueller Ebene, sondern auch inhaltlich:

Dass für Michael die Welt um ihn herum fast schon beängstigend arm an Vielfalt ist, überhöht das Gefühl von Einsamkeit um ein Vielfaches – mit nachdenklich stimmenden Folgen. Kaufmans Skript gibt zudem Smalltalk und lästige Hotel- und Bar-Eigenheiten pointiert wieder, wodurch Anomalisa eine dezent humorige Note erhält – und so den Betrachter in Sicherheit wähnt, das Gesehene kommentiere unseren Alltag mit trockenem Witz. Jedoch sind es die genauen Beobachtungen bezüglich erster Annäherungsversuche, die dieser Geschichte ihre Seele verleihen – und für Glücksgefühle sorgen, auf die wiederum niederschmetternde Momente folgen. Anomalisa wird somit zu einer poetischen Abbildung unseres Seins: Kaufman und Johnson fangen kleine, unbedachte Gesten und alltägliche Macken ein und geben sie an die Trickfiguren weiter, um Michaels und Lisas Interaktion menschlicher, echter und zierlicher zu formen, als es selbst die feingeistigsten, ruhigsten Realfilmdramen vermögen.

Zusätzlich zur filigranen Animation sind es die unaufdringlichen, gerade daher so ausdrucksstarken Sprecherleistungen, die Anomalisa zu einem absoluten Ausnahmewerk emporheben. Darüber hinaus brilliert die melancholische Geschichte dadurch, dass sie aller verschrobenen dramaturgischen und komödiantischen Verzierungen zum Trotz auf zweierlei Weisen aufgeht: Es ist ohne Weiteres möglich, Anomalisa als bittersüße, skurrile kleine Geschichte zu sehen, die unterstreicht, wie schwer es ist, die innersten menschlichen Bedürfnisse in unserer großen, öden Welt zufriedenzustellen. Wer aber an der Oberfläche der Story rund um Michael, Lisa und eine schier endlose Parade anstrengender, auswechselbarer Zeitgenossen kratzen möchte, stößt auf eine vielschichtige Analogie über Liebe, Reue und das Gefühl, verloren zu sein.  Kaufman ist daher erneut ganz große Kunst gelungen: Anomalisa hat unter all seinen bisherigen Filmen die größten Identifikationsmöglichkeiten – und ist dennoch kunstvoll, profund und vielseitig interpretierbar.

Fazit: Der menschliche Makel und der Liebreiz der Menschlichkeit: Anomalisa ist ein vielschichtiges, mit trockenem Humor versehenes, berührendes Wunderwerk der Animationskunst!

Dienstag, 10. Mai 2016

Point Break 3D


Was ist für einen unterhaltsamen, mitreißenden Actionfilm unerlässlich? Stylische Action, bei der einfach mit dem Helden mitgefiebert werden muss? Kesse Dialoge? Eine knackige, flott erzählte Story? Alle drei Antworten zusammen? Oder genügen beeindruckende Aufnahmen wunderschöner Landschaften? Der 105 Millionen Dollar teure Actioner Point Break zumindest lebt allein von letztgenannter Prämisse: Die Location Scouts haben bildhübsche Fleckchen Erde in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sowie in Italien, Frankreich, Mexiko, Venezuela, Indien, den USA sowie Polynesien ausfindig gemacht, und Regisseur/Kameramann Ericson Core (Kamera bei The Fast and the Furious) fängt diese in spektakulären Bildern ein.

Die geschickte Verschmelzung aus Weitwinkelaufnahmen, welche der Macht der Natur gerecht werden, und Aufnahmen aus der Egoperspektive mit Gyro-Kamerasystemen, durch welche die halsbrecherischen Stunts beeindruckend zur Geltung kommen, wirkt vor allem im optionalen 3D atemberaubend. Als maximal halbstündige Doku über Extremsport-Stunts vor Naturkulisse hätte Ericson Core hiermit einen neuen Genreprimus erschaffen. Bloß ist Point Break keine limitiert in die Kinos entlassene Doku, sondern ein fast zweistündiger, breit gestarteter Neuaufguss von Kathryn Bigelows Neunziger-Hit Gefährliche Brandung. Und als solcher müsste Point Break einfach mehr bieten. Da die internationale Koproduktion an dieser Aufgabe aber scheitert, werden die vereinzelten Höhepunkte dieses Remakes durch ellenlange, zähe und teils sinnlose Sequenzen so sehr verwässert, dass am Ende nur ein antriebsloses Stück Langeweile übrig bleibt.

Schon die Hauptfigur ist kaum mehr als eine Schlaftablette auf zwei Beinen: Johnny Utah (im Original gespielt von Keanu Reeves) ist hier ein früherer Motorradfahrer, der es nach dem Tod seines besten Kumpels auf eine Stelle beim FBI abgesehen hat. Luke Bracey gibt diese Figur mit betonter Schwerfälligkeit und der Lebensfreude eines Kieselteins. Damit fügt er sich in die betrübliche Farbästhetik, auf die Ericson Core den Großteil der Laufzeit setzt: Der fast durchgängige Einsatz von Stahlblau- und Graugrün-Farbfiltern raubt den Dialogszenen jegliche Vitalität und bremst auch die Wirkung der stattlichen Naturaufnahmen aus, da hier Weltmeere, Alpenpanoramen und Dschungel-Landschaften allesamt im selben Farbmatsch erscheinen.

Diese Ästhetik steht im Gegensatz zur (vermeintlichen) Motivation jener Diebesbande, die den Plot in (gemäßigten) Gang bringt: Eine Gruppe Freidenker beraubt Banken und Geldtransporte, während sie nebenher die acht sagenumwobenen Prüfungen eines Naturphilosophen absolvieren. Besagte „Ozaki 8“ sollen die Kräfte der Natur ehren – die bei einer visuell vielseitigeren Inszenierung deutlich besser zur Geltung kämen. Dass Utah, der sich in die von Extremsportler Bodhi (Edgar Ramirez) angeführte Truppe einschleust, undercover weder spürbar an Esprit gewinnt, noch die wilden Stunts der Gangster als Mittel der Selbstzerstörung oder Grenzerfahrung nutzt, ist da eine wenig erstaunliche Drehbuch-Leerstelle. Der Held hat von Anfang an kaum Antrieb, wieso sollte er später einen finden?

Deutlich größere Fragezeichen wirft es auf, dass der von Ramirez eingangs halbwegs charismatisch dargebotene Ganove eine Linie fährt, der unmöglich zu folgen ist: So simpel die Story von Point Break (FBI-Agent ermittelt inkognito bei einer sportlichen Gang), so verklausuliert das Vorgehen von Bodhi sowie seinen Kumpels Chowder (Tobias Santelmann), Grommet (Matias Varela) und Roach (Clemens Schick). Sie wollen den Reichen nehmen, um den Armen zu geben (weshalb sie eine große Dollarlieferung über einem armen Dorf fallen lassen), oder einfach nur die Natur erleben, und stehlen, um sich ihren Lifestyle zu finanzieren. Oder sie wollen die Wertsachen der Natur zurückgeben und sprengen daher in einer Gebirgskette einen Goldtransport. Oder ..? Letztlich tun sie immer genau das, was nötig ist, um die Handlung aus einer Sackgasse zu manövrieren.

Dadurch, dass die Verbrecher in Point Break, anders als in Gefährliche Brandung oder dem tonal ähnlichen The Fast and the Furious, keinerlei Profil aufweisen, gehen sämtliche Dialogszenen, die sich um sie drehen, bloß äußerst schleppend voran. Sie haben nichts zu sagen, das interessant wäre, stellen keine überzeugende Verführung für den rechtschaffenen Utah dar und sonderlich bedrohlich sind die schwafelnden Berlin-Mitte-Prototypen ebenso wenig. Dass sie mit der rätselhaften (soll heißen: auf Skriptseite absichtlich unterkochte) Samsara herumhängen, in die sich Utah verknallt und die von einer sträflich unterforderten Teresa Palmer (Warm Bodies) gespielt wird, macht diese Figurentruppe auch nicht ansprechender.

Und so vergehen gefühlte Ewigkeiten, bis sich die durchtrainierten Moralallergiker mal wieder in die Natur begeben und dort coole Stunts vollführen. Ob Snowboarding, Wingsuit-Flüge oder Fallschirmsprünge: Was die Point Break-Crew mit Hilfe angesehener Extremsportler auf die Leinwand bannt, ist wahrhaftig nicht ohne. Nur sind die wenigen Minuten an Stuntarbeit nicht genug, um über die langen Dürreperioden hinwegzutäuschen, die den von Junkie XL mit eintönigen Bässen untermalten Actionfilm hauptsächlich ausmachen.

Fazit: Der Neunziger-Actionkult Gefährliche Brandung wird zu einem weltumspannenden, doch identitätslosen Extremsport-Thriller aufgeblasen, dessen atemberaubenden 3D-Stuntaufnahmen in einem unattraktiv gefilmten Meer aus sterbenslangweiligen Dialogszenen versinken.

Montag, 9. Mai 2016

Suite française – Melodie der Liebe


Die Entstehungsgeschichte hinter dem Roman Suite française ist eine denkwürdige sowie tragische: Die französische Schriftstellerin Irène Némirovsky legte ihn während des Zweiten Weltkriegs als fünfteilige Geschichte über die Besatzung Frankreichs durch die Nazis an, konnte jedoch nur zwei Teile fertigstellen. Den Rest ihrer Geschichte über die verschiedenen Formen von Beziehungen, die sich zwischen den Besatzern und französischen Dorfbewohnern entwickeln, konnte die Autorin nicht vollenden, weil sie von den Nazis nach Auschwitz deportiert wurde.

Die Töchter Némirovskys erkannten erst 1998, dass ihre Mutter ein Romanmanuskript hinterlassen hat, und veröffentlichten es 2004 unter dem Titel Suite française. Das Buch entwickelte sich zu einem internationalen Bestseller und erhielt nahezu durch die Bank weg hervorragende Kritiken. Vor allem fand im Feuilleton lobende Erwähnung, wie differenziert die Autorin auf das Thema der Horizontalen Kollaboration (also die sexuelle Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und Französinnen) eingeht.

Eben jener Aspekt aus der Romanvorlage ist auch die Triebfeder der internationalen Kinoadaption dieses Stoffes, bloß dass in der britisch-französisch-belgischen Gemeinschaftsproduktion aus einer komplexen Frage von Moral, Sinnlichkeit und Politik eine melodramatische Kitschromanze wird. In deren Mittelpunkt steht die junge Lucille (Michelle Williams), die 1940 gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Madame Angellier (Kristin Scott Thomas) in einer Villa auf dem Lande nahe Paris lebt. Da Lucilles Mann Gaston in den Krieg gezogen ist, übernehmen nun die beiden Frauen die Aufgabe, Geld bei seinen Pächtern einzusammeln. Während Gastons Mutter große Angst davor hat, das Familienvermögen zu mindern und daher mit skrupellosem Kalkül Schulden eintreibt, zeigt die sensible Lucille größeres Mitgefühl mit den ärmlichen Bauern – was die Lage zwischen Lucille und Madame Angellier angespannter werden lässt.

Als Frankreich kapituliert und erst die Pariser Bevölkerung aufs Land flüchtet, bevor ihnen die deutsche Besatzungsmacht auf Schritt und Tritt folgt, intensiviert sich die Situation weiter: Familie Angellier wird angewiesen, einen Nazi-Offizier als Hausgast aufzunehmen – und anders als ihre Bekannten, haben sie mit Offizier Bruno von Falk (Matthias Schoenaerts) noch Glück gehabt: Der zurückhaltende Offizier bewahrt Distanz zu seinen (unfreiwilligen) Gastgebern und bemüht sich, seine Dankbarkeit auszudrücken, während seine Militärkollegen keinerlei Benimm zeigen. Als die unglücklich verheiratete Lucille erfährt, dass Bruno genau wie sie eine große Passion zur Klaviermusik hegt, knüpfen die Beiden langsam engere Bande. Dies müssen sie vor Madame Angellier geheim halten, die wiederum darum bangt, aufgrund der sich veränderten Machtstrukturen im Dorf ihre hohe gesellschaftliche Position zu verlieren ….

Das Drehbuch von Matt Charman und dem obendrein als Regisseur tätigen Saul Dibb versäumt es, aus der Fallhöhe eben dieser Ausgangslage eine dramatische Erzählung zu spinnen, die berücksichtigt, in welchen Zwickmühlen sich Lucille und Bruno befinden. Während diese verhinderten Liebenden jedoch immerhin zweidimensional gezeichnet werden, verkommen die Nebenfiguren zu einseitigen Pappkameraden: Das 107-minütige Drama findet zwar Zeit, seine beiden Hauptfiguren zwischen ihrem inneren Verlangen und der Notwendigkeit, die politisch korrekte Fassade aufrechtzuerhalten, schwanken zu lassen, doch Rollen wie Widerständler Benoit (kernig: Sam Riley), die ärmliche Dorfbewohnerin Celine (verzweifelt dreinblickend: Margot Robbie) oder die Geflohene Leah (sympathisch: Alexandra Maria Lara) profitieren allein durch ihre namhaften, gegen das halbseidene Skript anspielenden Darsteller.

Der ärgste Stolperstein von Suite française – Melodie der Liebe ist jedoch, dass der verbotenen Liebe zwischen Lucille und Bruno die feurige Leidenschaft fehlt: Die ungewohnt schlafwandlerische Michelle Williams vermag es noch, die ersten, vorsichtigen Funken zwischen ihrer Figur und Matthias Schoenarts‘ Gentleman-Besatzer mittels strahlender Augen darzustellen. Doch das schleppend voranschreitende Skript und Saul Dibbs‘ zwar galante, aber leblose Inszenierung führen dazu, dass es beim Gefühl erster Sympathie bleibt: Die Figuren mögen sich zwar an der Oberfläche weiterentwickeln, ein Gefühl für deren Inneres, also für das Warum und Wie, bleibt dem Zuschauer indes verwehrt.

Zusätzlich erschweren es die spröden Dialoge den Hauptdarstellern, die bis zum Schluss mit den eingangs gezeigten Mienen durchs Bild schreiten und somit keinerlei charakterliche Wandlung erahnen lassen, auch nur im Ansatz eine erotische oder gar romantische Spannung zwischen ihren Figuren zu erzeugen. Die politische Dimension geht bei den Beiden gar vollkommen verloren: So, wie Rael Jones‘ Originalmusik die inhaltsarmen, in rötlich-güldenem Licht eingefangenen Szenen mit Lucille und Bruno mit Gefühl zu bereichern versucht, könnte der Plot auch aus einem Rosamunde-Pilcher-Film stammen. „Zwei Liebende, die sich nicht lieben sollten, weil … Es soll einfach nicht!“ Für den politischen Aspekt sorgen eher Tom Schillings widerlicher Nazi-Soldat und der wohlhabende Vicomte (Lambert Wilson), der sich die Gunst der Besatzer zu erkaufen versucht – aber für diese Subplots nimmt sich Suite française – Melodie der Liebe kaum Zeit, so dass sie flach bleiben. Wenn dann das Filmende zudem den Betrachtern durch Texttafeln jegliche Gedankenarbeit abnimmt, findet diese schale Romanadaption ihren konsequenten, da enttäuschenden Abschluss, ohne dass das Drama jeglichen positiv bleibenden Eindruck hinterlässt.

Fazit: Suite française – Melodie der Liebe ist ein visuell solide gestaltetes Drama mit einer ansehnlichen Besetzung, die von einem drögen, nichtssagenden Skript vollkommen unterfordert wird.

Sonntag, 8. Mai 2016

Creed – Rocky’s Vermächtnis


Ring frei für die siebte Runde: Die RockySaga geht weiter und beweist, dass noch immer viel Kraft und Leben in ihren alten Knochen steckt. Dabei schien sie bereits zwei Mal ihr Ende gefunden zu haben. 1990 wollte Hauptdarsteller und Drehbuchautor Sylvester Stallone mit Rocky V seine fiktive Boxerbiografie zu einem runden, den Sport kritisierenden Abschluss führen und die Titelfigur begraben. In letzter Minute hatte Stallone aber Bedenken und schrieb die abschließende Szene des Films um. Zum Glück, wie sich herausstellte, denn auch ohne Rockys Ableben erzürnte Rocky V aufgrund seiner Machart die Fanbase. 2006 lief dann die verspätete Entschuldigung für Rocky V an: Mit Rocky Balboa zeigte Stallone (der nun wieder wie bei Rocky II – IV Regie führte) die späten Jahre seiner populären Figur und ließ sie noch einmal mit Würde in den Ring steigen. Positive Kritiken und eine generell sehr freundliche Reaktion der Fans machten das Drama zu einer versöhnlichen Schlussnote für das Franchise.

Aber ein Fan hatte nach Rocky Balboa noch immer nicht genug: Indie-Filmer Ryan Coogler, der sich die Idee in den Kopf gesetzt hat, einen Film zu verwirklichen, in dem Rocky als Trainer zum Boxsport zurückfindet. Genauer gesagt: Als Trainer des unehelichen Kindes seines einstigen Erzrivalen und späteren besten Freundes, Apollo Creed. Im ersten Anlauf konnte Coogler die Entscheidungsträger nicht überzeugen, nachdem sein Langfilmdebüt Nächster Halt: Fruitvale Station äußerst gut aufgenommen wurde, fand er aber neues Gehör. Und so kam es dazu, dass Stallone erstmals die Geschicke der Rolle, die ihm zu seinem Durchbruch verholfen hat, fremden Händen anvertraute: Coogler durfte mit seinem Schreibpartner Aaron Covington das Skript verfassen – die ersten sechs Rocky-Filme stammten noch von Stallone selbst.

Doch selbst wenn Creed – Rocky’s Legacy vereinzelte Schwächen aufweist, so lässt sich guten Gewissens sagen, dass Stallone die Boxhandschuhe sehr fähigen Menschen übergeben hat, die das Rocky-Vermächtnis mit großer Ehrfurcht behandeln. Vielleicht sogar mit zu großer Ehrfurcht: Wie auch Star Wars: Das Erwachen der Macht ist dieser siebte Teil eines erfolgreichen, in den 70er-Jahren entstandenen Franchises Fortsetzung und Neustart in einem – und vollführt die Staffelstabübergabe, indem er deutliche Parallelen zum Original zieht. Wo Star Wars: Das Erwachen der Macht aber Feeling und Struktur vom ersten Krieg der Sterne übernimmt, entleiht Creed zudem viele dramaturgische Details aus Rocky, was das neue Boxerdrama selbst an Genremaßstäben gemessen vorhersagbar macht.


Dessen ungeachtet entwerfen Coogler und Covington eine überzeugende Geschichte über den jungen Adonis Johnson (Michael B. Jordan), der nach einer turbulenten Kindheit von der Witwe seines Vaters aufgenommen wird. Obschon diese ihn wie ihren eigenen Sohn aufzieht und er einen gut bezahlten Job in einem Wertpapierunternehmen findet, fühlt sich Adonis orientierungslos und unglücklich: Der kampfsportvernarrte junge Mann möchte in die Fußstapfen seines Vaters treten und Profiboxer werden. Da er bei einer Elite-Boxschule abgelehnt wird, sucht er kurz entschlossen Rocky Balboa (Sylvester Stallone) auf, um sich von ihm unterrichten zu lassen. Nach kurzem Zögern willigt dieser ein, den unehelichen Sohn Apollos zu einem Spitzenboxer heranzuziehen – denn die gealterte Boxlegende hat sonst eh kaum etwas, wofür es sich zu leben lohnt …


Obwohl auf Basis dieses Grundkonzepts ein Plot entsteht, der fast schon ein Rocky-Remake sein könnte, entwickelt Creed in zweierlei Hinsicht eine reizvolle Eigendynamik: Auf der einen Seite gibt Regisseur Coogler seinem mit 133 Minuten etwas langgezogenen und daher phasenweise auf der Stelle tretenden Film ein individuelles Flair. Er beweist, wie schon in seinem Debüt, ein scharfes Auge dafür, was das städtische Leben junger Afro-Amerikaner anbelangt – und umschifft dabei souverän die typischen Hollywoodklischees. Auf der anderen Seite lebt Creed von der Beziehung zwischen Adonis und Rocky: Der unter anderem aus Fantastic Four bekannte Michael B. Jordan und Sylvester Stallone haben eine wundervolle Chemie und ihre Rollen wachsen daher, wann immer sie gemeinsam zu sehen sind, weit über die übliche Schüler-Mentor-Mentalität hinaus.


Als allmählich verblassende, einst so große Persönlichkeit, die durch Creeds Spross einen dezenten Energieschub erhält, liefert Stallone letztlich sogar seine beste schauspielerische Leistung seit Jahrzehnten ab. Der nuancierteste Mime war Stallone zwar noch nie, doch wenn Rocky verloren und einsam in die Welt hinausblickt, mit seinem Alter kämpft oder sich sein nuschelig-dunkler Tonfall doch Mal aufhellt, weiß der Actionstar tatsächlich, Gänsehaut zu erzeugen. Der vielschichtigen Zeichnung der beiden zentralen Figuren stehen leider sehr holzschnittartigen Nebenfiguren gegenüber, weshalb die Szenen, die weder von Adonis‘ inneren Antrieb handeln, Rocky beinhalten oder im Boxring spielen, an Zugkraft verlieren. Auch die obligatorische Romanze Adonis‘ bleibt farblos, da dessen Auserwählte Bianca (Tessa Thompson) zwar interessante, experimentelle Musik komponiert und aufgrund ihrer schleichend entstehenden Taubheit auf dem Papier Akzente setzt, charakterlich allerdings keinen Eindruck hinterlässt.


Umso einprägsamer sind die beiden ausführlich gezeigten Boxkämpfe: Einen fangen Coogler und Kamerafrau Maryse Alberti (The Wrestler) in Echtzeit ohne einen einzigen Schnitt ein, womit sie den Zuschauer in Form einer komplexen Choreografie mitten ins Geschehen versetzen. Der andere große Kampf des Films ist stilistisch konventioneller eingefangen, punktet aber mit knallharten Schlägen, einem energiereichen Schnitt sowie dem raffinierten Score von Ludwig Göransson. Dieser vermischt neue Themen sowie Abwandlungen bekannter Rocky-Themen zu einer schlagkräftigen neuen Einheit, die (vor allem gegen Schluss) ebenso in den ruhigen Momenten aufzuwühlen weiß. Spätestens, wenn Göransson das Rocky-Leitthema melancholischer anstimmt, als es je zu hören war, darf man sagen: Staffelübergabe geglückt!


Fazit: Etwas straffer dürfte Creed – Rocky’s Legacy sein, aber mit tollen Performances von Michael B. Jordan und Sylvester Stallone sowie zwei denkwürdigen Boxszenen ist die neuste Rocky-Fortsetzung eine würdevolle Weitererzählung der Sportsaga.



Samstag, 7. Mai 2016

The Big Short

Ein riesiger Jenga-Turm. Humorvolle Promi-Gastauftritte. Viele, schnelle Schnitte in hyperaktivster Musikvideomanier. Pfiffige Erzählerkommentare. Fertig ist er, der Nachhilfekurs in Sachen Weltwirtschaftskrise: Die außerordentliche, satirische Wirtschaftstragikomödie The Big Short bedient sich exakt dieser Elemente, um in 130 äußerst kurzweiligen Minuten die frustrierende, aber auch absurde Geschichte hinter dem Börsen-Zusammenbruch von 2007 zusammenzufassen. Die wahren Eckdaten werden von Regisseur und Drehbuch-Koautor Adam McKay obendrein durch ein großes (teils fiktives) Figurenrepertoire, eine exzentrische Kameraführung und mehreren Links-Rechts-Kombinationen aus Selbstironie und tragisch-verbittertem Galgenhumor ausgeschmückt. Unterm Strich ergibt diese einzigartige Zusammenstellung an Gangarten einen erschöpfenden Blick in die marode Seele der Wirtschaftswelt sowie ein denkwürdiges Stück Hollywood-Kino der anderen Art.

Diese nachdenklich-zynische Farce nimmt damit ihren Anfang, dass Hedgefond-Manager Michael Burry (Christian Bale) zu einer Erkenntnis erlangt, die ihm kaum jemand abkaufen will: Der frühere Neurologe, der unter Asperger-Syndrom leidet, errechnet, dass im zweiten Quartal 2007 der US-Börsenmarkt zusammenbrechen wird. Denn nur der Exzentriker, der ein Glasauge hat und sich im Büro trotz Super-Spar-Haarschnitt wie ein Rockstar aufführt, bedenkt die Konsequenzen dessen, dass das Anleihengeschäft großer Investmentbanken auf faulen Krediten fußt. Nachdem sich das System jahrelang durch Taschenspielertricks in eine Hochphase steigern konnte, muss der Kollaps folgen – worauf Burry vorausschauend wettet.

Während ihn die Wirtschaftswelt nahezu geschlossen verlacht, kommt der moralisch flexible Investmentbanker Jared Vennett (Ryan Gosling) Burrys Handeln auf die Schliche – und wittert das große Geld: Er sucht Geschäftspartner, mit denen er Gewinn aus der apokalyptischen Prognose schlagen kann. Eher zufällig gerät er an Hedgefond-Manager Mark Baum (Steve Carell), der nicht zuletzt aufgrund privater Schicksalsschläge zu einem harschen Kritiker des Bankenwesens wurde. Nun will er mit seinen Vertrauten das System dazu bringen, in die Grube zu stolpern, die es sich gegraben hat. Und dann wären da noch die aufstrebenden Junginvestoren Charlie Geller (John Magaro) und Jamie Shipley (Finn Wittrock), die dank einer Prise Glück vom ganzen Treiben Wind bekommen und mit Hilfe des Ex-Bankers Ben Rickert (Brad Pitt) ebenfalls auf das Platzen der Finanzblase setzen …

Klingt kompliziert? Ist es eingangs auch! Wären da nicht die schelmisch-jovialen Kommentare des direkt in die Kamera sprechenden Jareds, liefe The Big Short in den ersten Minuten Gefahr, in reinstes Chaos auszuarten. Die Einführungen der diversen Figurengruppen werden von McKay und Koautor Charles Randolph bunt durcheinandergewürfelt, darüber hinaus hat Barry Ackroyds vor allem im ersten Akt stark auf Nahaufnahmen und Handwackler setzende Kameraarbeit eine desorientierende Wirkung. Und das Wall-Street-Vokabular? Das verwenden die Figuren wie selbstverständlich, weshalb die ersten Filmminuten für all jene ohne fortgeschrittene Wirtschaftskenntnisse einem heftigen Rätsel gleichen dürften.

Dann aber offenbart sich mit einem Mal die wahre Natur dieser 28-Millionen-Dollar-Produktion: The Big Short zieht nach dem gezielten Tohuwabohu die Notbremse und macht Platz für eine eingeschobene, ulkige Erläuterung einiger wichtiger Wall-Street-Begriffe. Dargeboten wird diese Mini-Schulstunde durch einen sexy-galanten Cameo, wobei die Wortwahl des Skripts dem Publikum förmlich entgegenschreit: „Jepp, die Vokabeln so zu erläutern, mag zwar ganz und gar nicht von flüssigem Storytelling zeugen, aber wir können immer noch Spaß damit haben, nicht wahr?“ Und selbst wenn sich Ackroyds Kameraführung erst später normalisiert, so ist die erste von mehreren Wirtschaftsfachwörter-Schilderungen ein echter Befreiungsschlag für diesen Film:

Ab diesem Moment liegt McKays Mentalität, die diese Sachbuchadaption durchzieht, klar auf der Hand. Und die trägt diesen Film fast im Alleingang in den Olymp der cineastischen Wirtschaftsgeschichten: Mit kessem Selbstbewusstsein schildert The Big Short, welche Farce sich bis Anfang 2007 an der Wall Street abspielte. Damit ähnelt sie in gewissen Aspekten Martin Scorseses The Wolf of Wall Street, bloß dass sich diese Tragikomödie nicht dem Exzess der Finanzhaie widmet, sondern der Skurrilität des Wall-Street-Geschäftsalltags. Allerspätestens wenn Goslings braun gebrannter Charmebolzen (der die Erzählerpflichten zwischenzeitlich an andere Figuren abgibt) mit einem Holzklotzturm die Fragilität des US-Hypothekensystems vorführt, wird überdeutlich, wie naheliegend der Zusammensturz der Weltwirtschaft eigentlich war. Hätten nur mehr Menschen das System rechtzeitig hinterfragt und die Schall-und-Rauch-Taktik der Wall Street durchschaut. Da McKay die bittere Wahrheit so pointiert schildert, ist [[The Big Short]] ein kluger, verdichtet inszenierter Film, bei dem einem das Lachen wiederholt im Halse stecken bleibt. All zu niederschmetternd ist das Ganze wohlgemerkt nicht: Gosling, Carell und Bale gelingt es den tragischen Hintergründen zum Trotz, mit ihrem perfekten komödiantischen Timing einige lupenreine Gags abzuliefern, ganz ohne anschließenden „Schlechtes Gewissen“-Effekt.

Abgesehen von Steve Carells Rolle, die mit moralischem Kompass ausgestattet ist und zudem das größte emotionale Päckchen zu tragen hat, sind die Figuren in The Big Short zwar recht grob skizziert, doch die zügige Erzählweise weiß davon gekonnt abzulenken. Da zudem Christian Bale seinem Schlagzeug spielenden Exzentriker trotz skripttechnischer Leerstellen eine vielschichtige Ausstrahlung verleiht, ist diese Tragikomödie auf Figurenseite stabil genug aufgestellt, um ihre eigentlichen Schwerpunkte zu stützen: Die originelle, an verrückte Kinospäße wie Crank erinnernde Verpackung. Und deren Inhalt: Die genau beobachtende Schilderung des unvermeidlichen Untergangs der Weltwirtschaft.

Weil McKay aufgrund vereinzelter, leiser Töne eine mehrdimensionale Sentimentalität an den Tag legt, fällt es nicht schwer, es den zentralen Figuren zu gönnen, dass ihre Vorhersagen eintreffen. Gleichwohl bleibt stets bewusst: Mit ihrem Triumph über die verlogenen Wirtschaftsspekulanten werden Millionen von Existenzen zerstört. Dieses moralische Dilemma kehrt der Regisseur nie unter den Teppich, was aber nicht heißt, dass er sich gen Schluss plötzlich pointierte Musikeinsätze und rasante Montagesequenzen verkneift. Und das zurecht: Wie sonst sollte man die bittere, lachhafte Story der Wirtschaftskrise aus der Sicht jener erzählen, die alles haben kommen sehen, als in Form einer verqueren, dramatisch-verrückten Tragikomödie?

Fazit: The Big Short braucht etwas, um in Gang zu kommen, und nicht alle Figuren in diesem satirischen Wirtschaftsdrama bleiben lang in Erinnerung. Trotzdem ist Adam McKay mit dieser geistreichen, bitteren Farce großes Kino gelungen: Der wilde Wolf of Wall Street trifft die Dramatik von Der große Crash – Margin Call, den Idealismus eines Michael Moore und den frenetischen Stil der durchgeknallten Actionfilm-Posse Crank!